Bei der Publikation von Robert Meier, Archivar am Staatsarchiv Wertheim und Dozent an der Universität Würzburg, handelt es sich nicht um eine typische Monografie oder Quellenedition. Vielmehr liegt hier die gedruckte Fassung eines Internet-Blogs1 vor, der von Oktober 2012 bis September 2014 für User offen war. In diesem Blog wurden anhand von Quellenbeständen aus dem Staatsarchiv Wertheim Ereignisse in geraffter Form erzählt, die sich zwischen der ersten Juniwoche 1628 und der vierten Juliwoche 1630 in Wertheim zutrugen. Für den Blogleser also gewissermaßen eine Art Historiographie in Echtzeit.
In der jetzt vorliegenden „analogen“ Form wurden die Blog-Einträge ergänzt durch Quellennachweise sowie eine kurze Beschreibung der schriftbildenden Ämter, Institutionen und Gremien sowie ihrer Aufgaben innerhalb Grafschaft und Stadt Wertheim. Dabei erfährt man in Form einer „kleinen Quellenkunde“ (S. 9) auch, welche Quellentypen diese Stellen produziert haben. Darunter befinden sich etwa die Protokolle der Kanzlei als oberstem Verwaltungsgremium und Gericht der Grafschaft Wertheim, die Rechnungen der Rentei, die für Wirtschaftsverwaltung zuständig war, und die Sitzungsprotokolle des städtischen Gerichts.
Auch wenn der Autor in Blog und Buch eine Fülle von Quellen ausgewertet hat, werden hier kaum neue Erkenntnisse zur Geschichte der Grafschaft Wertheim in den Jahren 1628 bis 1630 präsentiert, die von Krieg und Hexenverfolgung geprägt waren. Über die Hexenverfolgung in Wertheim etwa, die dort relativ spät und eher auf Druck der Bevölkerung in Gang kam, sind wir bereits recht gut informiert.2 Der Erkenntniswert von Meiers Buch und Blog liegt eher in der Perspektive „von unten“, der quellennahen Nachvollziehbarkeit von Alltag und – oft tragischen – Lebensläufen. Die Absichten, die Meier mit seinem Blog-Buch-Projekt verfolgt und die Fragen, die er mit der ungewohnten publizistischen Doppelform aufwirft, führen außerdem weit über eine gelehrte Wissensproduktion und -vermittlung hinaus. Dazu hat sich Meier in einer aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Archivar“ geäußert, wo er sein Projekt unter der Überschrift „History Blogging – Wie mit Archivalien im Web erzählt werden kann“ dem archivischen Fachpublikum vorstellt.3 Er fragt dabei zunächst, wie der „in Archiven lagernde content im Internet präsentiert“ werden kann. Die Archive bergen unbestritten bedeutsames Kulturgut in seiner Urform. Die interessierte Öffentlichkeit darauf immer wieder aufmerksam zu machen, ist eine wichtige Aufgabe aller Archive – gerade in Zeiten der immer allgemeiner werdenden Erwartungshaltung, aufbereitete Informationen sofort, umfassend und überall über das Internet abrufen zu können.
Diese Erwartungshaltung ist für die Archive eine gewaltige Herausforderung. So schreitet die Digitalisierung von Findmitteln und archivischen Quellen und deren online-Bereitstellung stetig voran. In einem jüngst erschienenem Bericht über die Fortschritte der Digitalisierung beim Landesarchiv Baden-Württemberg wird die Zahl von mittlerweile 4,2 Millionen vorhandenen digitalen Abbildungen genannt.4 So beeindruckend diese Zahl auch ist, es besteht die Gefahr, dass es künftig zwei Klassen von archivischen Quellen geben wird: zum einen „Rückgratbestände“ oder solche, die aktuelle wissenschaftliche Forschungstrends bedienen und digital im Netz präsentiert werden, zum anderen solche, die dauerhaft zu einem analogen Dasein verurteilt sind und aus dem Gesichtsfeld des online forschenden Wissenschaftlers verschwinden. Welche Auswirkungen diese drohende selektive Kenntnisnahme historischer Quellen zeitigen können, ist schwer vorherzusagen. Meiers Ansatz, über sein Blog Interesse an der Nutzung der kompletten Bestände in den Archiven zu wecken, ist daher ein begrüßenswerter Versuch, über die stets nur auszugsweise mögliche Internet-Präsenz von Quelleninhalten Interesse an den Originalen zu wecken.
Mit der doppelten, digitalen und analogen Veröffentlichungsform weist Meier noch auf ein weiteres Problem hin: Das der langfristigen Verfügbarkeit digitaler Informationen. „Langfristig“ heißt für den Archivar nicht von CeBIT zu CeBIT, sondern er denkt in der Zeitspanne von Jahrhunderten. In seinem Vorwort zu Meiers Buch weist der Würzburger Historiker Frank Kleinehagenbrock zu Recht darauf hin, dass wir nur deswegen die Ereignisse in Wertheim vor fast 400 Jahren nachzeichnen können, weil der damals verwendete „Datenträger“, das auf textiler Basis hergestellte Papier, heute noch seine Informationen ohne großen Aufwand preisgibt. Ob man das „blog1628“ in vierhundert Jahren noch wird lesen können, ist hingegen mehr als fraglich. Und auch die Millionen von Digitalisaten, die momentan in den Archiven entstehen, dürften nur eine begrenzte Lebenszeit haben.
Damit rückt auch das Problem der Langzeitarchivierung digitalen Schriftguts ins Blickfeld – noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Archivaren eher als „abwegiges“ und begrenztes Spezialgebiet betrachtet.5 Doch ohne die baldige Bewältigung dieser Aufgabe könnten wir, wie von einigen Informatikern prophezeit, demnächst in ein „dunkles Zeitalter“ eintreten, da in einigen Generationen kaum mehr schriftliche Spuren unseres heutigen Denkens, Handelns und Forschens vorhanden sein werden. Elektronische Dokumentenverwaltung und Digitalisierung von Schriftgut sind unaufhaltsam auf dem Vormarsch, und damit die Gefahr, dass ein Tastendruck, ein defektes Trägermedium oder mangelhaft betriebene Datenmigration große Informationsmengen unwiederbringlich vernichten.
Und ein weiteres Ziel setzt sich Meier mit seinem Projekt: die Überlieferung der Archive stärker in das Kulturmarketing einzubringen. So folgten dem Blog über Wertheim und die Hexenverfolgung inzwischen schon zwei weitere Blogs, die ebenfalls auf Wertheimer Quellen basieren. Zum einen burgvogtei-wertheim.de6, der die wöchentlichen Rechnungen des Wertheimer Burgvogtes auswertet und so nicht nur den Nahrungsverbrauch auf der Burg dokumentiert, sondern auch Anwesende und Gäste. Auch 1720würzburg.de7 stellt nicht nur von Studenten in den Archiven entdeckte Quellen aus dem Jahr der Grundsteinlegung der Würzburger Residenz vor; es soll auch dazu beitragen, eben diese Archivinhalte für ein modernes Kulturmanagement nutzbar zu machen. Dass Archive sich stärker als Teil einer aktiven Kulturpolitik verstehen müssen, auch um ihre Existenzberechtigung zu unterstreichen, ist den Archivaren mittlerweile weitgehend bewusst. Das Internet-Blog als Plattform für die Präsentation von Archivbeständen, die langfristigen Gefahren der Digitalisierung und der Verdrängung analoger Formen der Informationsbewahrung, die Einbindung von Archiven in öffentlichkeitswirksame Formen des Kulturmanagements via Internet: Das vorliegende Buch weist damit auf Fragen, Themen, Chancen und Probleme hin, die weit über seinen konkreten Inhalt hinausreichen. Für Archivare wie für Historiker ist wichtig, sich über die Herausforderungen der digitalen Welt für Ihre jeweiligen Aufgaben und über zukunftsfähige Lösungen zeitnah Gedanken zu machen. Hierzu hat Robert Meier mit Blog und Buch „1628 Wertheim“ wichtige Anstöße gegeben.
Anmerkungen:
1 <http://www.1628blog.de> (02.09.2015).
2 Elmar Weiss, Grafschaft Wertheim, in: Sönke Lorenz / Jürgen Michael Schmidt (Hrsg.), Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die Europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, Ostfildern 2004, S. 325–338.
3 Robert Meier, History Blogging. Wie mit Archivalien im Web erzählt werden kann, in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 68, 2 (2015), S. 154–155.
4 Gerald Maier / Christina Wolf, Umsetzung der Digitalisierungsstrategie im Landesarchiv Baden-Württemberg. Aktuelle Fortschritte und Ausblick, in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 68,3 (2015), S. 233–237, hier S. 235.
5 Christian Keitel / Kai Naumann (Hrsg.), Digitale Archivierung in der Praxis. 16. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“, Stuttgart 2013, S. 11.
6 <http://www.burgvogtei-wertheim.de> (02.09.2015).
7 <http://www.1720würzburg.de> (02.09.2015).