Unter dem etwas kryptischen Titel „Beyond Alterity“ haben Martin Rosenstock (Assistant Professor an der Kuwaiter Gulf University for Science and Technology) und Qinna Shen (derzeit noch Visiting Assistant Professor of German an der Miami University in Ohio) einen neuen Sammelband über „German sociohistorical and aesthetic representations of China and Japan“ (S. 1) vorgelegt.
Die Herausgeber/innen führen den Begriff der Asian German Studies, innerhalb deren sie ihren Band verorten, auf die indisch-deutsche Wissenschaftlerin Mita Banerjee zurück. Shen und Rosenstock beschreiben dieses Forschungsfeld wie folgt: „Asian German Studies differs from fields defined by subject, such as gender, diaspora, or globalization. Asian German Studies is delineated by geography. A subject can become relevant to the field if this subject bears on a trajectory between a German-speaking country and Asia.” (S. 11)
Unter Ostasien verstehen die Autorinnen und Autoren in diesem Band China und Japan. Deren Beziehungen zu deutschsprachigen Ländern werden anhand von zwölf Beiträgen diskutiert. Ähnlich wie bereits bei dem ebenfalls 2014 erschienen Sammelband von Joanne Miyang Cho und David M. Crowe1 weisen die einzelnen Beiträge auf den ersten Blick nur teilweise Gemeinsamkeiten auf. Eine Vorliebe für Literatur und Film als Untersuchungsgegenstand ist deutlich erkennbar, wobei der Untersuchungszeitraum zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der Gegenwart oszilliert.
Die vier größeren Teile, in die der Sammelband gegliedert ist, folgen allerdings keiner chronologischen Ordnung, sondern sind thematisch definiert. Die Beiträge in den Teilen selbst folgen einer groben zeitlichen Abfolge. Diese Aufteilung ist, abgesehen vom letzten Teil, sehr schlüssig und sinnvoll.
Zwar reproduzieren Rosenstock und Shen in ihrer Einleitung zunächst den Mythos von einem Ende der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und China im Jahr 1938 (S. 6), die tatsächlich erst 1941 eine Zäsur erfuhren. Die drei Kapitel des ersten Teils geben jedoch die neuesten Forschungsergebnisse in Bezug auf das deutsch-japanische Verhältnis „in the Shadow of National Socialism“ wieder. Als Untersuchungsgegenstände haben die drei Autor/innen Wochenschauen (Ricky W. Law), den 1936/1937 produzierten transnationalen Bergfilm „Die Tochter des Samurai“ (Valerie Weinstein) und einen Aufsatzwettbewerb der Deutsch-Japanischen Gesellschaft von 1944 (Sarah Panzer) ausgewählt. Die einzelnen Beiträge vermögen jeweils einen wenn auch nur kleinen, so doch anregenden und wichtigen Einblick in das größere, inzwischen von deutschsprachigen Autoren wie Hans Joachim Bieber und Till Philip Koltermann2 vergleichsweise umfangreich abgedeckte Feld zu geben.
Die Aufsätze im zweiten Teil des Sammelbandes sind auf einer von den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart reichenden Zeitachse verortet. In dem Kapitel von Weijia Li werden Kontakte und Austauschprozesse zwischen chinesischen und deutschen linken Aktivisten in der Weimarer Republik untersucht. Li sieht seinen Text als einen Versuch „to build a bridge between Chinese Studies and German Studies in the investigation of the German-Chinese left-wing political collaboration and the transnational and transcultural flow of ideas that resulted from political activism” (S. 75). Hierbei beruft er sich häufig auf seine eigene Monografie zur China-Erfahrung der Schriftstellerin Anna Seghers,3 präsentiert aber wenig neues Material. Qinna Shen befasst sich mit DEFA-Dokumentarfilmen über China aus den 1950er-Jahren, zu einem kleineren Teil auch den 1980er-Jahren. Die Filme der 1950er-Jahre unterstreichen medial das Interesse, das die junge DDR der ebenso jungen VRCh entgegenbrachte. Der Beitrag ist deshalb eine aufschlussreiche Ergänzung zu den Beziehungen zwischen den deutschen und chinesischen Staaten während des Kalten Krieges. Martin Rosenstock analysiert Gerhard Seyfrieds 2008 erschienenen historischen Roman „Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer”. Er folgt dabei dem Ansatz des englischen Schriftstellers D. H. Lawrence: „Never trust the artist. Trust the tale.“ Seyfrieds Buch könnte, so Rosenstock, eine – wenn auch nicht durchgängig bewusste – Reaktion auf Angstphänomene angesichts der zunehmend prekären Stellung des Westens im globalen Gefüge darstellen (S. 129).
Der dritte Abschnitt des Sammelbandes beschäftigt sich mit Identitätsfragen in einem multikulturellen Deutschland. Zu Beginn untersucht Cynthia Walk die Rolle(n) der amerikanisch-chinesischen Schauspielerin Anna May Wong im Kino der Weimarer Republik. Walk arbeitet Wongs Person als „a projection of orientalist fantasies” (S. 151) für Weimar, ihre orientalistische Darstellung durch Walter Benjamin und ihre „performance of ethnic identity“ (S. 160) heraus, unter anderem im Vergleich mit Josephine Baker. Markus Hallenstein setzt sich mit dem literarischen Werk „Das Bad“ von Tawada Yōko auseinander, einer in Deutschland lebenden und auf Japanisch und Deutsch publizierenden Gegenwartsautorin. Zentral für Hallensteins Interpretation ist sein Verständnis von Tawadas Text als eines palimpsestartigen Werks. In ihrer ausführlichen und gewissenhaften Analyse von Doris Dörries Film „Kirschblüten“ (2008) erkennt Erika M. Nelson ein tanzendes MA (Konzept des Zen-Buddhismus). Ähnlich wie dem Film gelingt es Nelsons Analyse leider nicht immer, Rückgriffe auf essentialistische Kategorien zu vermeiden.
Den vierten und letzten Teil des Sammelbandes bezeichnen die Herausgeber/innen als „more ‚hands on‘ section that highlights real-life cross-cultural encounter, misunderstandings and instances of disorientation involved“ (S. 10). beginnen Chinyun Lee und Lucie Olivová mit einer spannenden Fallstudie zu globalisierten Prozessen in der Haarnetzherstellung im tschechischen Vysočina und der chinesischen Provinz Shandong im frühen 20. Jahrhundert. Da für die Herstellung der Haarnetze menschliches Haar verwendet wurde, das zu einem überwiegenden Teil aus China stammte, symbolisiert die Haarnetzindustrie einen direkten körperlichen Austauschprozess zwischen China und Europa. Gabriele Eichmann beschäftigt sich mit dem Topos der Leere in deutschen Kurzgeschichten über Japan, namentlich von Thomas Brussig, Sabine Scholl und Marcel Beyer. Die Perspektive auf Ostasien im Werk des Schweizer Schriftstellers Hugo Loetscher, dem sich abschließend Jeroen Dewulf widmet, stellt den letzten Beitrag dar. Beide Kapitel sind sowohl gründliche als auch umfassende Analysen sowie kritische Würdigungen, weichen konzeptuell aber doch wieder von dem mehr oder weniger konkreten, „praktischen“ historischen Rahmen ab, der mit dem ersten Kapitel des letzten Teils angedeutet wird.
Der Sammelband richtet sich an ein interdisziplinäres, wenn auch sehr spezifisches Publikum. Einzelne Beiträge sind für sich eine große Bereicherung und bieten moderne Ansätze sowie unkonventionelle und oft neue Untersuchungsgegenstände. Sie vermögen den notwendig pragmatischen Ansatzpunkt einer zunächst rein geografischen Verortung ihrer Gegenstände in Richtung auf eine tatsächlich interdisziplinäre und transnationale Kulturwissenschaft „jenseits von Alterität“ sinnvoll zu erweitern.
Eine mögliche Kritik an dem Werk wird am Ende der Einleitung vorweg genommen: „We are aware of this volume’s noncomprehensive nature. We also realize that […], the essays collected here mostly have a Western German Studies point of view.“ (S. 12) Ein stärkeres Einbeziehen (ost)asiatischer oder im weiteren Sinne nicht-westlicher Forschung sowie eine zusammenfassende Schlussbetrachtung, welche die einzelnen Teile und Beiträge besser verzahnt, hätten eine weitere Bereicherung dargestellt.
Anmerkungen:
1 Joanne Miyang Cho / David M. Crowe (Hrsg.), Germany and China. Transnational Encounters since the Eighteenth Century, New York 2014.
2 Hans Joachim Bieber, SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945, München 2014; Till Philip Koltermann, Der Untergang des Dritten Reiches im Spiegel der deutsch-japanischen Kulturbegegnung 1933–1945, Wiesbaden 2009.
3 Weijia Li, China und die China-Erfahrung in Leben und Werk von Anna Seghers, Oxford 2010.