Die Geschichte von Erich Sander (1903–1944) steht im Schatten des berühmten Vaters August, der als Fotograf vor allem durch seine Gesellschaftsporträts Berühmtheit erlangte. Der vorliegende Sammelband, ein Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, die vom 23. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016 gezeigt wurde, stellt nun das Leben und Werk von Erich Sander in den Mittelpunkt, der ebenfalls als Fotograf tätig war und als Kommunist von den Nationalsozialisten verfolgt und im Zuchthaus Siegburg eingesperrt wurde. Dort wurde er als Häftling – in dieser Position sicherlich eher ein Ausnahmefall – zum Gefängnisfotograf und war in der Lage, Aufnahmen aus der Strafanstalt zu schmuggeln.
Erich Sander wurde 1903 in eine bürgerliche Familie geboren, sein Vater August und seine Mutter Anna führten in Köln ein Fotogeschäft. August Sander war sehr erfolgreich, insbesondere durch seinen Bildband „Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“, der erstmals 1929 erschien. So wie der Vater war auch Erich begeisterter Fotograf. In seiner Jugend war er in freigeistigen und linken Jugendorganisationen aktiv und ab 1924 Mitglied der KPD, in der er als Funktionär tätig war. Aus Protest gegen den anti-sozialdemokratischen Kurs seiner Partei war er 1928 Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (Opposition) KPO, 1932 wechselte er an der Spitze einer Gruppe Kölner KPO-Mitglieder zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD).
Am 11. September 1934 wurde Erich Sander von Gestapobeamten verhaftet und 1935 in einem Hochverratsprozess zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Als Häftling in der Strafanstalt Siegburg musste er Zwangsarbeit leisten, mit Unterbrechungen wurde ihm ab 1936 von der Gefängnisverwaltung der verhältnismäßig privilegierte Posten als Fotograf zugewiesen. So arbeitete er im Fotolabor der Haftanstalt und konnte über Mitgefangene und die Gefängnisgeistlichen Kontakt mit seinen Eltern aufrechterhalten. Zwischen 1935 und 1944 gelang es Erich, rund 80 Briefe geheim an seine Eltern zu schreiben, in denen er unter anderem den Haftalltag beschrieb. Zusätzlich vermochte er heimlich Negative und Abzüge von Aufnahmen aus der Siegburg zu schmuggeln, darunter erkennungsdienstliche Aufnahmen und Porträts. Im März 1944 starb Erich Sander in Haft, vermutlich an der Fehldiagnose einer Blinddarmentzündung und unterbliebener Hilfeleistung.
Die erste Hälfte der vorliegenden Publikation folgt der gleichnamigen Ausstellung und beschreibt das Leben Erich Sanders. Kurze Einführungstexte zu wichtigen Lebensstationen und Biografien von Familienmitgliedern, politischen Mitstreiter/innen und anderen für Erich Sander bedeutenden Personen stellen die Grundstruktur dar. Zahlreiche Dokumente und Fotografien zur Familie und Jugendzeit, seinen politischen Tätigkeiten und schließlich seiner Zeit im Gefängnis illustrieren Facetten des Lebensweges und werden durch Zitate von ihm bzw. über ihn ergänzt.
Der zweite Teil des Bandes umfasst vier vertiefende Aufsätze. Im ersten beschäftigt sich der Kölner Historiker Fritz Bilz mit der Biografie Erich Sanders und erweitert die in der ersten Hälfte behandelten Aspekte, fokussiert dabei vor allem seine Tätigkeiten als Fotograf und Widerstandskämpfer. Bilz betont die starke Prägung durch August Sander, sowohl politisch als auch künstlerisch-fotografisch.
Ulrich Eumann, der unter anderem zur Sozialgeschichte der KPD in Köln geforscht hat und am NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln tätig ist, geht in seinem Beitrag auf die Geschichte der Strafanstalt Siegburg ein, die im Nationalsozialismus das zentrale Gefängnis für Widerständler in Köln wurde. Er betont die Bedeutung der von Erich Sander aus der Haft geschmuggelten Briefe als Quellen für die Lebensbedingungen der Gefangenen und die Sozialstruktur in der Strafanstalt. Eumanns auf Gefangenenberichten und den Briefen von Erich Sander basierender Aufsatz liefert eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung der Belegungsstärke und der Gruppen an Häftlingen, der Verpflegung, der Bewachung und Restriktionen, des Gefängnisalltags und Formen von Zwangsarbeit sowie deren Wandel mit Kriegsbeginn; er behandelt überdies die „kriminalbiologische Forschung“ in der Strafanstalt einschließlich der Gefangenenfotografie.
Der Fotohistoriker Jens Jäger schließlich setzt sich mit der Fotografie im Gefängnis auseinander und analysiert die ungewöhnliche Rolle, die Erich Sander als Fotograf in der Strafanstalt Siegburg einnahm. Nach einer Einführung in die Geschichte von Erkennungsdiensten und der sogenannten Kriminalbiologie, beides Grundlagen für die spezifische Rolle von Fotografie in Gefängnissen, beschäftigt sich Jäger mit der ambivalenten Rolle von Sander als Häftlingsfunktionär: Aus der Sicht der Gefängnisleitung schien es sinnvoll, den in Zuchthaft befindlichen Fotografen auch an diesem Ort als solchen einzusetzen. Eigentlich war Dr. med. Moritz Hohn für die „Kriminalbiologie“ in der Siegburg zuständig, dieser delegierte seine Aufgabe aber an einen Wachtmeister, der die Arbeit wiederum Erich Sander übertrug. So entstand eine atypische Situation beim Erstellen der erkennungsdienstlichen Porträtaufnahmen, da der Fotograf selbst Häftling war. Jäger schreibt, dass bei den von Sander aus der Siegburg geschmuggelten Porträtbildern von Gefangenen „ein asymmetrisches Element in der Aufnahmesituation“ (S. 271) fehle und dass man dies an den Bildern der – im Vergleich zu anderen Erkennungsdienstfotos – verhältnismäßig entspannt wirkend fotografierten Häftlingen ablesen könne. Trotzdem entsprächen die Aufnahmen formal erkennungsdienstlicher Praxis. Sanders Briefe zeigen laut Jäger keine kritische Distanz zu seiner Arbeit, die eher „ein hoher Grad an professionellem Willen“ auszeichne (S. 275).
Der Band wird durch einen persönlichen Text von Gerd Sander, einem Enkel von August und Neffen von Erich, abgeschlossen. Seines Zeichens Gründer der August Sander Stiftung, Bonn, ist Gerd Sander als Sammler und Händler im Bereich Fotografie tätig und fungiert überdies als Herausgeber der Werke seines Großvaters. In seinem Beitrag berichtet er über den Nachlass von August und Erich Sander und seine Annäherungen an die Geschichte seiner Familie.
Die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Aufsätze bilden offensichtlich die Grundlagen der Ausstellungstexte. Dies führt zu einigen Wiederholungen von Argumenten und Beschreibungen. Zusätzlich überschneiden sich auch die Aufsätze selbst thematisch, zitieren mitunter aus den gleichen Dokumenten, bisweilen verwenden sie identische direkte Zitate. Ein stringenterer Aufbau der Publikation wäre hier wünschenswert gewesen. Der Titel weist außerdem auf eine grundsätzliche Ausrichtung des Sammelbandes hin: den Einfluss des berühmten Vaters August Sander auf seinen Sohn. Dies scheint aber der Person Erich Sander nur teilweise gerecht zu werden. So wirkt etwa ein Vergleich der Tätigkeiten von Erich als Funktionär kommunistischer Organisationen mit der sozialkritischen Porträtfotografie des Vaters August eher konstruiert als erhellend. Wie stark die Prägung des Vaters auf den Sohn im Verhältnis zu anderen Einflüssen tatsächlich war, bleibt unklar. Die Rolle der Mutter Anna, die das Fotogeschäft der Familie alleine betrieb, während August als Soldat im Ersten Weltkrieg kämpfte, wird etwa kaum thematisiert, obwohl Erich während der Abwesenheit seines Vaters sein Interesse an der Fotografie zu entwickeln schien. Der im Sammelband oft betonte starke Einfluss des Vaters scheint wohl auch auf dessen Berühmtheit zurückzuführen sein; insofern verwundert es nicht, dass der Name August Sander im Titel der Publikation vor dem seines Sohnes genannt wird.
Der Sammelband bietet insgesamt aufschlussreiche, erhellende Einblicke in die Lebensgeschichte des Widerstandskämpfers und Fotografen Erich Sander. Insbesondere seine Tätigkeiten als Gefängnisfotograf und die von ihm aus der Siegburg geschmuggelten Dokumente und Fotografien bieten Stoff für eine vertiefende Beschäftigung. Mit Spannung kann etwa einer geplanten Edition der über 80 Gefängnisbriefe Erich Sanders entgegengesehen werden.