D. Baynton: Defectives in the Land

Cover
Titel
Defectives in the Land. Disability and Immigration in the Age of Eugenics


Autor(en)
Baynton, Douglas C.
Erschienen
Anzahl Seiten
177 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Schlund, Collegium Philosophicum "Intersektionalität interdisziplinär", Universität Kiel

Die tägliche Lektüre von Presseerzeugnissen jeglicher Art kann keinen Zweifel an der Brisanz von Debatten über das Ob und Wie von Zuwanderungsbeschränkungen aufkommen lassen. Ebenso steht außer Frage, dass gegenwärtige Diskussionen über transnationale Migration nicht selten von diffusen Ängsten und politische Handlungsvorschläge häufig von Alarmismus geprägt sind. Douglas C. Baynton zeigt in seiner Studie „Defectives in the Land“, dass dies in den USA vor etwa 100 Jahren nicht anders war.

Der Autor nimmt in seiner 138 Textseiten umfassenden Publikation eine Personengruppe in den Blick, die in der bisherigen Migrationsgeschichtsschreibung nahezu komplett vernachlässigt wurde: Menschen mit Behinderung. Ein Hauptziel seines bislang nur in englischer Sprache erhältlichen Buches besteht darin, die zentrale Rolle von „Behinderung“ für die Gestaltung des frühen US-amerikanischen Einwanderungsrechts deutlich zu machen. Zeitlich schränkt Baynton seine Untersuchung auf die Jahre zwischen 1882 und 1924 ein, er orientiert sich somit an den Daten einschneidender Einwanderungsgesetze. Darüber hinaus konzentriert sich Baynton ausschließlich auf Einwanderungswillige aus Europa, die in Ellis Island landeten. Entsprechend strebt der Autor keine Totalgeschichte an, sondern fokussiert auf die Ungleichheitskategorien disability und – weniger ausführlich – race. Baynton möchte aufzeigen, wie eine Hauptintention der US-Einwanderungspolitik, der Ausschluss als behindert etikettierter Menschen (defectives), auch den Ausschluss von Angehörigen sogenannter undesirable races legitimierte. Letztere wurden von den Befürwortern strikter Einwanderungsbeschränkungen als wahrscheinliche Träger von „Defekten“ wie körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, unmoralischem Verhalten, Kriminalität oder politischer Radikalität erachtet. Dass diese offenen Begriffe sich einer trennscharfen Definition entziehen, problematisiert Baynton einleitend mit Blick auf den Konstruktionscharakter von disability. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass sich das Erkenntnisinteresse des Autors eher auf Behinderung als auf Migration richtet. Im prosperierenden Forschungsfeld der Disabilty History ist Bayntons Studie einem weit verbreiteten Niedergangsnarrativ zuzuordnen.1 Dieses geht davon aus, dass behinderte Menschen in der „Moderne“ verstärkt nach ihrer „ökonomischen Wertigkeit“ kategorisiert und zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Mal mehr, mal weniger prominent durchzieht diese Interpretation des sozialen Abstiegs behinderter Menschen in sich rasch industrialisierenden Gesellschaften das gesamte Buch. Deutlich weniger intensiv ordnet Baynton seine Studie in die Forschungen zu Migration und Ethnizität ein. Eine Auseinandersetzung mit den wegweisenden Publikationen David R. Roedigers und Mae M. Ngais findet lediglich in einer Endnote Platz.2

Die vier Kapitel der Studie versieht der Autor mit Überschriften, die der Leserschaft auf den ersten Blick recht wenig über die Herangehensweise des Autors verraten: Defective, Handicapped, Dependent und Ugly. Baynton gliedert seine Erzählung folglich thematisch und verzichtet weitgehend darauf, die disparaten Akteursbeziehungen darzustellen oder eine klare chronologische Linie zu verfolgen. Entsprechend erscheint die Platzierung einzelner Unterkapitel nicht immer einleuchtend, auch weil Baynton keine Kriterien seiner Systematik angibt.

Im Kapitel Defective widmet sich der Autor dem „nationalistischen Projekt“ (S. 11) der Abweisung behinderter Migrant/innen. Baynton erklärt zunächst die Offenheit gegenüber biologistisch motivierten Einwanderungsbeschränkungen durch die verbreitete Popularität evolutionstheoretischer und eugenischer Prinzipien. Das medizinische Personal in Ellis Island hatte die Aufgabe, „disease and defect“ möglichst schnell zu diagnostizieren. Schließlich bargen entsprechend etikettierte Personen die vermeintliche Gefahr, nicht ausreichend arbeitsfähig zu sein und letztlich dem Staat zur Last zu fallen („likely to become a public charge“). Das zeitgenössisch skizzierte Schreckensszenario, zu einer „Müllhalde Europas“ (S. 39) zu werden, galt es durch die konsequente Abschiebung von defectives zu verhindern. Auf lange Sicht sollte die Verbreitung erblicher „Defekte“ verhindert und das Überleben der American race gewährleistet werden.

Das Kapitel Handicapped nutzt Baynton zur Erläuterung des Bedeutungswandels, den die Kategorie Behinderung ab Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr. Dominierten in den Jahrhunderten zuvor religiöse Interpretationen des „Unnatürlichen“ den Blick auf körperliche und geistige Devianz, so setzten sich nun Sichtweisen durch, die „in a competitive age“ (S. 53) auf die angenommenen Effizienzdefizite behinderter Menschen abzielten. Baynton ordnet die Debatten um Zuwanderungsbeschränkungen somit in den zeitgenössischen Kontext einer gefühlten Beschleunigung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche ein. So seien auch semantische Neuerungen wie der Begriff handicap und mentally retarded als Hinweis auf eine zugeschriebene Rückständigkeit geistig behinderter Menschen zu deuten. Aus dieser utilitaristischen Warte geriet defective zum Synonym von ineffective.

Mit dem Kapitel Dependent richtet Baynton den Fokus auf die Verweigerung der Einreise von Personen, denen nach Ansicht der Einwanderungsbehörden in den USA die soziale Abhängigkeit drohte. Wie der Autor an zahlreichen Beispielen belegt, betraf diese abermals ökonomisch begründete Zurückweisung zahlreiche hörgeschädigte Menschen. Besonders klar kann Baynton in diesem Kapitel herausarbeiten, dass die Behörden in Ellis Island lediglich mit Vorannahmen operierten und ihre Praxis nie an empirische Erkenntnisse knüpften. So erhielten allein reisende Frauen deutlich häufiger das diffuse Etikett „likely to become a public charge“, da ihnen eine grundsätzliche Abhängigkeit von Männern unterstellt wurde. Die Kategorien gender und disability bedingten sich unter dem Label angenommener Unselbständigkeit gegenseitig.

Auf welche Weise das äußere Erscheinungsbild von Migranten bei der Konstruktion von disability eine Rolle spielte, beleuchtet der Autor im Kapitel Ugly. In Anlehnung an Erving Goffmans Stigma-Theorie führt Baynton aus, wie die Diagnose von „loathsome or dangerous contagious diseases“ (S. 109) zwangsläufig zur Ausweisung führten. Entscheidend war also nicht nur die tatsächliche Gefahr ansteckender Krankheiten, sondern auch die Fremdwahrnehmung von Abscheu und Ekel aufgrund von etwa Flechten oder Pilzerkrankungen. Vertreter einer eugenisch inspirierten Einwanderungspolitik erkannten in äußerer Schönheit zugleich eine höhere Intelligenz und überlegene genetische Herkunft. „Ugliness“ bedeutete entsprechend die mittelfristige Gefährdung der „frequency of good looks“ (S. 116) und der gesamten Energie der Nation, so 1914 ein Soziologieprofessor von der University of Wisconsin. Das medizinische Personal in Ellis Island war laut Baynton für derartige Ansichten empfänglich und rühmte sich bisweilen mit „Schnappschussdiagnosen“, das heißt der sekundenschnellen Identifizierung vermeintlich krankhafter Anomalien am Körper von Migrant/innen.

Selbst mit einem wissenschaftlich – und zeitlich – distanzierten Blick auf diese Praxis der Einwanderungsbeschränkung, so stellt Baynton in seinem Fazit heraus, erscheint das Vorgehen der Einwanderungsbehörden widersinnig. Fraglos sei zahlreichen Personen, die zu eigenständigen und im ökonomischen Sinne „wertvollen“ Mitgliedern der amerikanischen Gesellschaft hätten werden können, die Einreise verwehrt worden. Baynton möchte allerdings kein kontrafaktisches Schlusswort ziehen, sondern eine Einwanderungsgesetzgebung kritisch betrachten, die behinderte Menschen nach ihrem Nutzen bewertete und sich vornehmlich aus Vorurteilen und Ängsten speiste.

Eine stärkere Auseinandersetzung mit Forschungsarbeiten zur Migrationsgeschichte und der Geschichte von Behinderung hätten die Studie Bayntons deutlich bereichern können. Sein Anliegen, die Verflechtung von disability und race überhaupt erst sichtbar zu machen, hätte zudem von einer explizit intersektionalen Herangehensweise profitiert.3 Insgesamt verleiht Baynton mit „Defectives in the Land“ der Migrationsgeschichtsschreibung neue Impulse, da er letztlich ein Plädoyer für die Verzahnung der Kategorien Disability und Migration History vorlegt. Dass sich die Appelle seiner Studie jedoch nicht nur an Historiker/innen richten, wird in der Schlussbetrachtung deutlich: Baynton verweist auf die nach wie vor existierende public-charge-Klausel, auf deren Grundlage Migrant/innen mit Behinderung die Einreise in die USA weiterhin verwehrt bleibt. In diesem Sinne ist Bayntons Studie höchst aktuell. Sie verdient in einer Zeit neu entstehender Grenzzäune und -mauern beiderseits des Atlantiks eine breite, nicht nur historisch interessierte Leserschaft.

Anmerkungen:
1 Klassisch zum Niedergangsnarrativ: Michael Oliver, The Politics of Disablement, Basingstoke 1990; für den deutschen Forschungskontext wegweisend: Anne Waldschmidt, Soziales Problem oder kulturelle Differenz. Zur Geschichte von „Behinderung“ aus der Sicht der „Disability Studies“, in: Traverse 3 (2006), S. 31–46.
2 David R. Roediger, Working towards Whiteness. How America’s Immigrants Became White. The Strange Journey from Ellis Island to the Suburbs, New York 2005; Ders., How Race Survived US History. From Settlement and Slavery to the Obama Phenomenon, London 2008; Mae M. Ngai, Impossible Subjects. Illegal Aliens and the Making of Modern America, Princeton 2004.
3 Vgl. Zu intersektionalen Forschungsperspektiven Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum 1 (1989), S. 139–167, und Katharina Walgenbach, Intersektionalität – eine Einführung, URL: http://portal intersektionalitaet.de/uploads/media/Walgenbach-Einfuehrung.pdf (13.04.2017).