H. Lutterbach: Sexualität im Mittelalter

Titel
Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts


Autor(en)
Lutterbach, Hubertus
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 43
Erschienen
Köln 1999: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
IX + 299 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Feuchter, Institut fuer Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

"Hast Du getan, was manche Frauen zu tun pflegen? Sie nehmen einen lebendigen Fisch und stecken ihn in ihre Scheide, lassen ihn dort so lange, bis er tot ist, kochen oder braten ihn und geben ihn ihren Ehemännern zu essen, damit diese mehr in Liebe zu ihnen entbrennen. Hast Du das getan, sollst du zwei Jahre lang an den erlaubten Wochentagen fasten."1

Das Zitat aus einem Bußbuch mag das Unterfangen unmittelbar einsichtig machen, "Sexualität im Mittelalter" gerade anhand dieser Quellengattung zu untersuchen. Der heute obsessiv anmutende Reichtum der frühmittelalterlichen Pänitentialien in sexueller Hinsicht ist Mediävisten wohlbekannt, die Rede von den "berühmten Bußbüchern" nahezu topisch. Aber noch 1978 hielt Cyrille Vogel fest, das empirische Material sei für die Geschichte des menschlichen Verhaltens kaum genutzt worden, obwohl doch etwa die Techniken des Koitus hier "avec un luxe inoui" geschildert würden.

In den seither vergangenen beiden Jahrzehnten sind allerdings im Zuge der Geschlechter- und Körpergeschichte auch die Bußbücher als Quellen nicht unbemerkt geblieben. Gleichwohl beansprucht Hubertus Lutterbach im hier zu rezensierenden Buch, den Ansatz bisheriger Forschungen zu überschreiten, indem er eine den Texten zugrundeliegende "Logik" aufdeckt und sie in die Entwicklung von der Antike bis ins hohe Mittelalter einordnet (S. 1). Und in der Tat gibt die Habilitationsschrift aus Münster Anlaß, den Kern des bisher über Bußbücher und Sexualität Gesagten auf den Kopf zu stellen - oder vom Kopf auf die Füße?

Das Buch ist in einem Dreischritt aufgebaut, der erst diachron, dann synchron vor sich geht. Der erste Teil widmet sich dem Christentum der Antike: Es werden das Alte und das Neue Testament sowie die alte Kirche der ersten sechs Jahrhunderte jeweils auf ihre Sexualmoral hin befragt, hauptsächlich auf der Grundlage jüngerer Forschungsarbeiten. Den zweiten und umfangreichsten Part des Buches bilden Quellenstudien an den frühmittelalterlichen Bußbüchern. In einem dritten Schritt betrachtet Lutterbach andere frühmittelalterliche Quellen: Kapitularien und Konzilsbeschlüsse.

Ergebnis des ersten Schrittes ("Zur Geschichte der Sexualität - Religionsgeschichtliche Perspektiven") ist zunächst, daß die Bibel zwei gegensätzliche Konzepte mit Folgen für die Sexualität zur Rezeption anbietet. Lutterbach folgt hier einer religionsgeschichtlichen Grundunterscheidung zwischen zwei Arten von Reinheit des Menschen, die bei der Begegnung mit dem Göttlichen zur Bedingung gemacht werden: Einfache Kulturen verlangen sogenannte kultische, weitgehend körperlich verstandene Reinheit, besonders eine Unbeflecktheit von Körperflüssigkeiten. Hochkulturen wünschen dagegen "die Bereitung des Herzens" (S. 76, nach Mircea Eliade), sogenannte ethische oder Gewissensreinheit. Diese fordern in der Bibel namentlich die Evangelien; die kultische Reinheit dagegen besonders Levitikus (drittes Buch Mose).

So kreisen die Vorschriften dieser "Priesterschrift" eng um die unrein machenden Vorgänge der Menstruation, des homosexuellen Verkehrs, der Bestialität und des Inzests, während sich das NT sich zu solchen Punkten noch nicht einmal äußert - mit der bekannten Ausnahme des Paulus. Lutterbach vertritt jedoch mit der neueren theologischen Forschung, daß auch die von dem Apostel angesprochenen sexuellen Delikte des widernatürlichen Verkehrs ethisch zu verstehen seien - als äußere Zeichen eines inneren Verstosses gegen die gottgewollte Ordnung, nicht als Beschmutzung.

Wie wurde dies nun in der alten Kirche rezipiert? Der Kirchenlehrer Origenes (gest. 254) neigte zur kultischen Reinheit in sexuellen Fragen, blieb damit jedoch in der Minderheit; hingegen argumentieren etwa syrische Schriften der ersten Jahrhunderte ganz im ethischen Sinne. Augustinus (gest. 430) ist keiner der beiden Positionen zuzuordnen. Wie für die ihn prägende philosophische Tradition der Stoa lag das Problem für den großen Kirchenvater nicht in der Sexualität selbst, sondern in der Beugung des Willens durch sie.

Erst die letzten Jahrhunderte der Spätantike begannen sich intensiv mit sexuellen Phänomenen zu beschäftigen, vor allem mit der Pollution der Mönche. Der Samenerguß im Schlaf diente etwa Cassian (gest. um 430), dem Vater des abendländischen Mönchtums, als Indikator für die erreichte Jungfräulichkeit (castitas) eines Konventsmitglieds. Diese bestand im Unterschied zur bloßen willensgesteuerten Enthaltsamkeit (continentia) in vollkommener Unangefochtenheit - eben auch im Schlaf. Dem Theoretiker der Pollution hatte sich mit dieser gleichsam ein "Fenster zur Seele" (S. 57) geöffnet; der "trübe Stoff des Ejakulats" ermöglichte Cassian den "gläsernen Mönch" (S. 63), wie Lutterbach in einer seltenen Pointe formuliert. Die Pollution an sich wurde jedoch noch nicht als Verunreinigung angesehen, die vom Kontakt mit dem Göttlichen ausschloß.

Im zweiten Schritt, dem Kern des Buches ("Sexualität, Ehe und Jungfräulichkeit in den Bußbüchern"), zeigt Lutterbach, wie sich das im Frühmittelalter ändern sollte. Hier traten die Bußbücher auf den Plan, als eine neue, der Spätantike und Byzanz unbekannte Gattung, die in Irland im 6. Jh. ihren Ausgang nahm und sich über England auf den lateinischen Teil des Kontinents ausbreitete. Sie rezipierten mit ihren kasuistischen Auflistungen von Sünden und entsprechenden Fastentarifen die Vorschriften und das Vokabular aus Levitikus breit. Aber damit nicht genug: Sie faßten auch die ethisch gemeinten Vorschriften des NT kultisch auf. Das gilt insbesondere für die paulinischen Äußerungen zur Sexualität und zu den Lastern. Den Nachweis dafür liefert Lutterbach mit überzeugenden Analysen von Bedeutungsverschiebungen. So zeigt er, wie der ethische Begriff der "Schuld" (iniquitas) in Bußbüchern mehr und mehr gleichgesetzt wird mit "unreiner Verschmutzung" (immunda pollutio). "Unreinheit" (immunditia) erweist sich ohnehin als die zentrale Kategorie der Texte.

Lutterbach vermag mit dem Rekurs auf die kultische Reinheit viele auf den ersten Blick rätselhafte, ja widersinnig erscheinende Bestimmungen der Bußbücher zu klären, etwa die Auferlegung von Bußen auch für Opfer sexueller Gewalt. Dies läßt sich schlüssig auf eine Logik der Vermeidung des illegitimen Kontaktes von Körperflüssigkeiten zurückführen, vor allem von Blut und Sperma. Wenn dagegen verstoßen wurde, war nicht Einsicht in Schuld gefragt und Reue, sondern ausgleichendes Büßen aller in die Verunreinigung verwickelten Leiber. Es wird auch verständlich, warum einige Bußbücher einem Ehemann, dessen Frau Ehebruch begangen hatte, zwar gestatteten, seine Ehe auflösen zu lassen und neu zu heiraten - aber gleichzeitig diese Neuheirat als Ehebruch ansahen und mit der entsprechenden Buße belegten.

Der dritte und letzte Teil des Buches behandelt "Sexualität, Ehe und Jungfräulichkeit in den frühmittelalterlichen Konzilien und Kapitularien". Diese Vergleichsquellen lassen sich weit weniger zu Fragen der Sexualität ein und haben im Unterschied zu den Pänitentialien kaum die Laien im Blick. Dennoch erweisen sie sich nach Lutterbachs Analyse ebenfalls als tief vom Prinzip der kultischen Reinheit bestimmt. Dazu scheint nicht zu passen, daß die Konzilien 813 in Châlons und 829 in Paris den Verzicht auf Bußbücher forderten - aber nur, weil deren Bußen als zu leicht für bestimmte Sünden (Bestialität, Sodomie) empfunden wurden. Hier übergeht Lutterbach allerdings die Kritik dieser Konzilien an der mechanischen Ableistung der Tarifbuße, die man doch als Anzeichen eines ethischen Bewußtseins sehen darf.

Der sich anschließende Ausblick auf Abaelards (gest. 1142) Sexualethik kann hier übergangen werden, denn er bringt wenig Unerwartetes: Die das Gewissen und die Reue in den Vordergrund stellende Position des Pariser Magisters ist bekannt, entsprechend überrascht auch Lutterbachs Befund nicht, "daß Abaelards Sexualethik mit derjenigen des Neuen Testaments im Kern übereinstimmt" (S. 246). Mit Abaelard ist der große Umbruch des 12. Jahrhunderts erreicht, in dem sich der Charakter der Buße grundlegend verändert. In den Vordergrund tritt nun die innere contritio (Zerknirschung) sowie die Beichte selbst als eigentlicher Bußakt. Entsprechend versiegt die Produktion der Bußbücher nach sechs Jahrhunderten, mit Ausnahme einiger Nachzügler in geographischen Randgebieten.

Bemerkenswerter ist der Abschluß des Buches, "Die geschichtsmächtige Kraft der pollutio". Als Zusammenfassung deklariert, enthält er die Einordnung der Ergebnisse in die Bußbuchforschung und den Versuch, aus den gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen für die geltende katholische Moraltheologie aufzuzeigen. Anliegen Lutterbachs ist hier die Ausscheidung des kultischen Traditionsgutes und damit eine Entlastung etwa der Selbstbefriedigung und der Homosexualität.

Diese Folgerungen für die Gegenwart sind hier nicht zu beurteilen. Doch inwiefern interpretiert die engagierte Studie nun den üblicherweise zwischen Pänitentialien und Sexualität gezogenen Zusammenhang neu? Sie tut dies in grundlegender Weise. Denn bisher ging man davon aus, daß die frühmittelalterlichen Bußbücher ein Instrument zur Durchsetzung christlicher Moral bei nur oberflächlich christianisierten Heiden waren - die je nach Wertestandpunkt als "sittenlos" oder als sexuell vielfältig, offen und frei galten. Letzeres vertritt etwa die bisher maßgebliche Studie zum Thema von Pierre Payer, "Sex and the Penitentials" (1984).

Nach der Lektüre von "Sexualität im Mittelalter" stellt sich das Einwirkungsverhältnis umgekehrt dar. Folgt man der Analyse und pointiert sie, dann wären die Bußbücher geradezu der Ausdruck einer tiefen Kontamination des Christentums - einer Verunreinigung durch die vorgängige Religiosität und strengere Sexualmoral jener Bevölkerungen, die im Frühmittelalter im Westen zu den Hauptträgern der christianitas wurden und vollkommen selektiv nur die kultischen Moralangebote rezipierten, die in der Spätantike keineswegs dominiert hatten.

Deutlich faßbar wird dieser Einfluß und das beginnende Nachgeben ihm gegenüber etwa in den "Responsa Gregorii", die in mehreren Bußbüchern mitüberliefert sind und von Lutterbach ausführlich behandelt werden (S. 86-96). Es handelt sich dabei um Antworten Papst Gregors des Großen auf Fragen, die der Angelsachsenmissionar Augustinus (beide 604 gestorben) ihm stellte, oder besser: ihm weitergab, denn es waren die drängenden Zweifel der gerade Missionierten. Die Angelsachsen ließen u.a. fragen: Ob die menstruierende Frau von Kommunion und Kirche auszuschließen sei? Gregors Antwort weist die Responsa als ein Schwellenzeugnis aus: Das sei nicht biblisch begründet, und folgerichtig sei die Frau, die während ihrer Regel kommuniziere, nicht zu tadeln. Aber - und hier kommt die Konzession an ein kultisches Verständnis von Reinheit ins Spiel - eine auf die Eucharistie verzichtende menstruierende Frau sei dennoch zu loben.

Lutterbachs Situierung der Bußbücher ist eine plausible, wenn auch sehr absolut erscheinende Anwendung der Theorie vom Rückfall in die kultische Reinheit, die bereits von seinem Lehrer Arnold Angenendt (Münster) für das Frühmittelalter fruchtbar gemacht worden war. Sie ist in mehrfacher Hinsicht weiterführend. Zum einen löst sie sich von dem strikten Gegensatz, der zwischen einem echten Christentum der gelehrten Geistlichen und einem Synkretismus der Laien für das Mittelalter aufgemacht wurde. Zum anderen überwindet sie durch die Frage nach der "Logik" die unergiebige Diskussion um die Aussagekraft von normativen Quellen wie den "berühmten Bußbüchern": Bezeugen die Bußkataloge der Pänitentialien eine polymorph perverse Sexualität frühmittelalterlicher Barbaren oder einen akribisch-juristischen Willen zur vorsorglichen Regelung jedes erdenklichen (Sünden-) Falles?

Offen bleibt allerdings die Frage nach dem Besonderen der vorgängigen Religiosität der Bevölkerungen im lateinischen Westen. Es entsteht der Eindruck, alle archaischen bzw. "rearchaisierten" (S. 64) Gesellschaften seien sich a priori sehr ähnlich. Ein Blick auf Quellen zum Glauben und zur Sexualmoral der nordwest- und mitteleuropäischen Bevölkerungen vor der Christianisierung und ein Vergleich mit Byzanz hätte die Studie methodisch abgerundet.

Eine gewisse Idealisierung des Evangeliums und die selten pastorale, oft aber monotone Wortwahl sind zu verschmerzen. Die am Ende offen geforderte lebensweltliche Konsequenz aus den Forschungsergebnissen schmälert letztere nicht; die Wertungen des zugrundeliegenden religionsgeschichtlichen Modells müssen nicht übernommen werden, zumal Lutterbach sich mehrfach differenziert etwa zu Implikationen "einfacher" und "hochentwickelter" Religionssysteme etwa für die Lage von Frauen äußert.

Angemerkt sei die falsche Übersetzung einer Stelle aus dem Bußbuch Ps.-Theodors (S. 149f). Dabei handelt es sich um ein wörtliches Paulus-Zitat, das Lutterbach selbst auf S. 41 richtig verdeutscht hat.

Anmerkung:
1 Burchard von Worms, Decretum, Patrologia Latina 140, Sp. 974.

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