Margaret Thatcher hätte den Brexit nicht gewollt. „It would be catastrophic for Britain to be outside“, sagte sie bei dem ersten Treffen mit Kommissionspräsident Roy Jenkins nach ihrem Amtsantritt als britische Premierministerin im Mai 1979 (S. 206). Gleichwohl hat sie mit ihrer Politik dazu beigetragen, ihn vorzubereiten: indem sie, auf Popularitätsgewinn bedacht, das Problem der übergroßen Nettozahlungen Großbritanniens an die Europäische Gemeinschaft in einer Weise forciert hat („I want my money back“), die die Fremdheit der Briten gegenüber der Gemeinschaft, der sie seit 1973 angehörten, nur noch weiter bestärkte.
Solche, zum Teil überraschenden Einsichten in die tieferen Ursachen des aktuellen britischen Dramas ergeben sich gleichsam nebenbei aus der neuesten Studie des britischen Europa-Historikers N. Piers Ludlow, Senior Lecturer an der London School of Economics, die sich der Rolle von Roy Jenkins als Präsident der Europäischen Kommission in den Jahren 1977 bis 1980 widmet. Jenkins war insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Kommissionspräsidenten, als es sich um einen Spitzenpolitiker eines großen Mitgliedslandes handelte, für den das Brüsseler Spitzenamt nur eine Etappe auf einem auch weiterhin national gedachten Karriereweg sein sollte. Er hatte als Schatzkanzler der Wilson-Regierung großen Anteil am Erfolg des zweiten britischen Beitrittsgesuchs gehabt und war 1970 schon als künftiger Außenminister und möglicher Nachfolger Wilsons gehandelt worden, bevor ihn der überraschende Wahlsieg des Konservativen Edward Heath und das daran anschließende Zerbrechen des pro-europäischen Konsenses in der Labour-Party in eine frustrierende Wartestellung verbannt hatten. Aus dieser hatte ihn der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing erlöst, der sich ein politisches Schwergewicht als neuen Ratspräsidenten wünschte, mit dem die Staats- und Regierungschefs auf Augenhöhe kommunizieren konnten.
Ludlow zeigt nun, im Wesentlichen gestützt auf den reichhaltigen Nachlass von Jenkins’ persönlichem Brüsseler Kabinett sowie seine Tagebücher einschließlich der nicht publizierten Teile1, wie Jenkins sein standing als Spitzenpolitiker, seine Erfahrungen und seine internationalen Kontakte nutzte, um die Kommission zu neuen Erfolgen zu führen und damit auch den kriselnden Integrationsprozess wieder voranzubringen. Erfolgreich war er zunächst bei der Verstärkung der internationalen Präsenz der Gemeinschaft. Als geschätzter Gesprächspartner in Washington, in der Dritten Welt und selbst in Peking trug er wesentlich zum Verständnis der Rolle der Gemeinschaft als internationaler Akteur bei. Ebenso ist die ständige Präsenz des Kommissionspräsidenten bei den G7-Gipfeln (nach anfänglicher Diskriminierung durch seinen Parteirivalen James Callaghan, der Gastgeber des Gipfels vom Mai 1977 war) und den Treffen des Europäischen Rates den ebenso kundigen wie konstruktiven Redebeiträgen des britischen Amtsinhabers zu verdanken. Gar nicht zu überschätzen ist Jenkins’ Rolle bei der Lancierung des Europäischen Währungssystems: Als Helmut Schmidt hier im Februar 1978 die Führungsrolle übernahm, das macht Ludlow gegen anderslautende Interpretationen überzeugend deutlich, hatte Jenkins mit Gesprächen mit Spitzenpolitikern und Vertretern der Finanzwelt sowie geschicktem öffentlichen Vorpreschen längst den Boden bereitet. Es ist noch nicht einmal auszuschließen (Ludlow sagt dazu nichts, weil es nicht sein Thema ist), dass Jenkins’ überzeugende Argumentation bei Schmidts Entscheidung den Ausschlag gegeben hat, sich das Projekt der Währungsunion zu Eigen zu machen.
Weniger erfolgreich war Jenkins dagegen bei der Beförderung der Süderweiterung der Gemeinschaft. Mit einer Straffung der Zuständigkeiten innerhalb der Kommission, wöchentlichen Koordinierungstreffen aller Beteiligten und persönlichen Unterredungen mit den Regierungschefs der Kandidatenländer konnte er zwar die Verhandlungen mit Griechenland beschleunigen; gegen Giscards Veto gegen einen baldigen Beitritt Spaniens und Portugals im Juni 1980 war er dagegen machtlos. Hier wurde die strukturelle Schwäche des Präsidentenamtes offenkundig: „The Commission president could indicate the necessary direction of travel, but he was all but powerless to oblige the member states to take it.“ (S. 156) Das gilt auch für andere Bereiche, in denen Jenkins Handlungsbedarf sah, aufgrund der Widerstände in den Reihen der Regierungen aber kaum vorankam: eine grundlegende Reform der Agrarmarktordnung, eine substantielle Ausweitung des Gemeinschaftsbudgets und eine Überwindung der zahlreichen Blockaden im Entscheidungsmechanismus der Gemeinschaft. Selbst bei der Zusammenstellung der Kommissionsmannschaft, die ihn im Vorfeld seiner Präsidentschaft viel Zeit und Kraft kostete, kam er nicht so weit, wie er es im Interesse an einer erfolgreichen Präsidentschaft für notwendig hielt.
Die Enttäuschungen und Misserfolge trugen dazu bei, dass sich Jenkins nach der Wahlniederlage Callaghans im Mai 1979 wieder für die britische Politik zu interessieren begann und nach der erfolgreichen Vermittlung einer Art Waffenstillstand in der Auseinandersetzung um eine Reduzierung des britischen Gemeinschaftsbeitrags im Juni 1980 entschied, nicht für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsident zu kandidieren. Bedenkt man das Schicksal der Sozialdemokratischen Partei (SDP), deren Vorsitz Jenkins nach seiner Rückkehr nach London übernahm, so war es für ihn und für seine politischen Ziele die falsche Entscheidung. Gerade weil das Amt des Kommissionspräsidenten besonders langwieriges Bohren dicker Bretter erforderte, kann man davon ausgehen, dass die Erfolgsbilanz einer zweiten Amtszeit positiver ausgefallen wäre – nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis der Briten zur Europäischen Gemeinschaft, das Jenkins doch verbessern wollte.
In seinen abschließenden Betrachtungen unterstreicht Ludlow die Bedeutung längerer Amtszeiten für den Erfolg eines Kommissionspräsidenten. Er verweist noch einmal auf die Abhängigkeit der Präsidenten von den Regierungschefs und relativiert so die Bedeutung eines Jacques Delors, dessen Erfolge als Kommissionspräsident oft allzu isoliert vom Kontext des energischen Führungsduos Kohl-Mitterrand gesehen werden. Und er weist auf ein generelles Strukturproblem bei der Besetzung des Präsidentenamtes hin: Politische Schwergewichte, die dem Amt die nötige Durchschlagskraft geben können, sind gleichzeitig auf kurzfristige Erfolge ausgerichtet. Sie mit Aussicht auf dauerhaften Erfolg für den Job in Brüssel zu gewinnen, wird auch weiterhin schwierig sein. Das Buch von Piers Ludlow bietet so nicht nur eine mustergültige Nachzeichnung der Präsidentschaft von „le roi Jean Quinze“, wie er im Bulletin der Kommission ironisch genannt wurde. Mangels gleich dichter Quellengrundlage wird sie für andere Kommissionspräsidenten kaum in der gleichen Weise zu leisten sein. Ludlows Studie enthält auch reichlichen Stoff zum Nachdenken über die generellen Probleme von European governance und die Möglichkeiten seiner Verbesserung.
Anmerkung:
1 Die Teile, die er für wesentlich erachtete, hat er Ende der 1980er Jahre publiziert: Roy Jenkins, European Diary, 1977–1981, London 1989.