Der Klein- und Kleinstkredit im Mittelalter ist ein durchweg unterbelichtetes Thema der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung. Als Hauptgrund für dieses Forschungsdesiderat wird immer wieder die schlechte Überlieferungslage angeführt, die die meist informellen Kreditbeziehungen, bei denen eben nur geringe Summen verliehen wurden, nicht erschließbar machen. Dass diese Annahme nur bedingt richtig ist, zeigt der Sammelband „Zins und Gült“, der sich als 10. Band der Kraichtaler Kolloquien einer dezidiert landesgeschichtlichen (überwiegend auf den Kraichgau bezogene) und quellennahen Erforschung dieses Themas annimmt.
Zudem liefert er Beiträge zum wenig erforschten ländlichen Kreditwesen, wie etwa durch den Aufsatz Franz Irsiglers zu Kreditverweigerung von Bauern auf dem Lande oder Enno Bünz’ Aufsatz zur Dorfkirche als Geldinstitut. Der Band zeigt, dass die mühevolle Arbeit im Archiv immer noch lohnt. So weisen alle Artikel eine solide Quellenbasis auf, anhand derer neue Erkenntnisse zu den genannten Themenfeldern gewonnen werden können. Darüber hinaus bietet das Buch in der programmatischen Einführung Gerhard Fouquets einen konzisen und nützlichen Überblick zum aktuellen Forschungsstand, der die Wirtschafts- und Sozialgeschichte durch kulturwissenschaftliche Herangehensweisen und Perspektivierungen ergänzt und erweitert sieht.
Kreditbeziehungen waren demnach eingebettet in soziale Beziehungen. Sowohl in Städten als auf dem Land muss man von einer „sozialen Geographie der Kreditbeziehungen“ sprechen, die das Verleihen von Geld oder Naturalien als eine Komponente sozialer Interaktionen über alle sozialen Schichten hinweg einschließt. Grundlegend betonen alle Artikel folgende Merkmale des ländlichen Kleinkredits: die schlechte Zahlungsmoral als Ausgangspunkt für eine Reihe von Reaktionen, die offensichtlich einer anderen Logik folgten als der institutionalisierte und durch staatliche Kontrollorgane mit objektiveren Kriterien funktionierende Kredit heute. So wurden Laufzeiten von Krediten großzügig ausgedehnt, teils um mehrere Jahrzehnte; ja man gewinnt den Eindruck, dass Gläubiger sich vielfach schon mit (Teil-)Zinsen begnügten. Überhaupt wurden Rückzahlungen (einschließlich des Zinses, der im Schnitt 5 Prozent betrug) sehr häufig gestundet, in Ratenzahlungen umgewandelt oder konnten in Naturalien wie Wein oder Getreide erfolgen. Die Aufrechterhaltung stabiler Sozialbeziehungen in einer kleinteiligen Dorf-, Pfarr- oder Kleinstadtgesellschaft hatte – so der Eindruck nach der Lektüre aller Fallstudien – stets Vorrang vor der umfänglichen finanziellen Befriedigung der Gläubiger. Schulden werden also auch hier als Kitt der Gesellschaft deutlich (S. 12). Das Kreditprinzip war somit omnipräsent im mittelalterlichen Wirtschaftsleben (S. 19 mit Verweis auf Kuske 1).
Der zweite zentrale Begriff, der symmetrische wie asymmetrische Kreditbeziehungen in der Vormoderne kennzeichnet, ist das Vertrauen. Zwar wird diese Annahme im Band auf den Prüfstand gestellt, wie beispielsweise der Aufsatz von Gerhard Fouquet zeigt. Doch informelle Institutionen und interpersonelle Beziehungen waren stets besonders ausschlaggebend für das Zustandekommen eines Kreditgeschäfts. Dies blieb bis in die Zeit um 1800 so, wie Günther Schulz in seinem Beitrag über die Entstehung und Merkmale der modernen Kreditwirtschaft deutlich macht. Die dem Vertrauen komplementäre Kategorie der Kontrolle nimmt hingegen erst im in der Massengesellschaft und Bürokratie des 19. Jahrhunderts einen wichtigeren Raum ein.
Die Erschließung des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kleinkredits auf dem Lande erfolgt bei allen Autoren routiniert und nah an den Quellen. Gerhard Fouquet stellt eine Vielfalt von Kreditbeziehungen am Beispiel der gerichtlichen Überlieferung des pfälzischen Ober-Ingelheims vor. Auch er betont, wie wichtig die genaue Personenkenntnis und der gute Ruf im „Nahraum Dorf“ waren, wenn es um Kredite ging. Besonders Notare verfügten über wertvolles Wissen über die Wirtschaftsakteure sowie die nötigen Kommunikationsnetzwerke um Informationen über Kreditwürdigkeit zu verbreiten. Die meisten Schulden hatten die Bewohner Ober-Ingelheims bei ihren Grundherren (Kirchen, Klöstern und Adelsleuten), denen auch als Kreditgeber eine wichtige Versorgerfunktion zugeschrieben werden muss. Der Autor betont hierbei, dass aus den untersuchten Gerichtsakten vor allem auf gegenseitiges Misstrauen bei den Kreditbeziehungen geschlossen werden muss. Dabei entsteht ein Bild einer sich permanent übervorteilenden sozialen Gemeinschaft, in der es vor allem ums Überleben ging.
Enno Bünz widmet sich in seinem Beitrag der Rolle von Dorfkirchen als Geldinstituten. Er macht anhand eigener Forschungsergebnisse überzeugend deutlich, dass Pfarrkirchen durch gesammeltes Heiligengut bzw. die Kirchenfabrik, die vor allem für den Erhalt und Pflege der Kirchengebäude (Bauvorhaben und Beleuchtung) gedacht waren, Ressourcen auch für den Kleinkreditmarkt zur Verfügung stellten. Die bäuerlichen Schuldner tilgten damit andere Schulden, zahlten Löhne, investierten in Gerätschaften und Werkzeuge oder zahlten Besitzschulden / Ablösen ab. Ein weiterer wichtiger Ausgabeposten waren Messstiftungen – eine Investition ins jenseitige Wohl. Den Kirchenpflegern, meist Laien, die dieses Geld verwalteten, kam eine zentrale Rolle bei der Finanzverwaltung an diesen Stellen zu. Kirchenrechnungen, die allerdings nur selten vor 1500 seriell überliefert und wenig systematisch erfasst seien, zeigen neben Urkunden, Urbaren, Zinsbüchern und Inventaren, dass Pfarr- und Dorfkirchen (sowie seltener Wallfahrtskirchen und Bruderschaften) eine entscheidende Rolle im ländlichen Geldmarkt bis weit in die Zeit nach der Reformation spielten.
Der dritte Aufsatz von Hans-Jörg Gilomen ergänzt dieses Bild durch Schweizer Belege zu Klöstern und Spitälern zwischen Hilfe und Ausbeutung. Er konstatiert ein gespaltenes Bild dieser Institute, welches vor allem aus den Quellen des Baseler Cluniazenserpriorats St. Alban hervorgeht: zum einen fungierten Klöster als wohltätige Institutionen, indem sie Bedürftigen (meist Bauern) Saatgut, Nahrung und Vieh zur Verfügung stellten, Rückzahlungen stundeten, Bardarlehen gewährten und Zinsnachlässe einräumten (S. 76f.). Neben dem sorgenden Charakter der Wirtschaftspraxis der Klöster und Spitäler, tritt allerdings auch ihr „ausbeutender“ Charakter in zeitgenössischer Traktatliteratur zum Vorschein: nämlich im systematischen Kauf liegender Güter und den damit verbundenen Ewigrenten und Seelgerätstiftungen. Dies führte zu einer hohen Verschuldung der Bauern und schließlich zu Einschränkungen dieser Praxis durch die Stadträte.
Die Rolle des Ritteradels im Großkreditwesen des 16. Jahrhunderts beleuchtet Kurt Andermann in seinem Beitrag anhand der landesherrlichen Rechnungs- sowie Urkundenüberlieferung, zum Beispiel der Freiherren von Gemmingen. Er konstatiert, dass nicht wenige Ritteradelige im südwestdeutschen Raum solvente Gläubiger einer sozial diversen Klientel und wirtschaftlich gut situiert waren und wendet sich auf der Basis eigener älterer Forschungsergebnisse gegen das Narrativ einer Krise des Adels im Spätmittelalter.
Sabine Ullmann beschreibt in ihrem souveränen und mit archivalischen Quellen gesättigten Aufsatz das Verhältnis von Juden und Christen im Kraichgau im frühen 18. Jahrhundert. Sie hinterfragt die Annahme einer „Nischenexistenz des jüdischen Handels“ gepaart mit der Mär von der „Omnipräsenz jüdischer Kredithändler“ (S. 112). Ihre Untersuchung zeigt die vielfältigen Beziehungsgeflechte zwischen jüdischen und christlichen Gläubigern und Schuldnern auf, wobei sie - zu Recht - vor einer romantisierenden Sicht ökonomischen Austauschs als sozialem Austausch warnt: „Ökonomisches Handeln sei nicht gleichzusetzen mit gegenseitiger Wertschätzung“ (S. 112). Sie resümiert, dass Juden zwar in intensiven Kreditbeziehungen mit dem Adel, Bürgern und Bauern standen – als Gläubiger und Schuldner – dass die persönliche Bindung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kreditpartnern jedoch stets prekär und tendenziell gefährdet war (vgl. S. 121, 129).
Wie und warum Bauern Kredite beim Handel mit fremden Abnehmern verweigerten, thematisiert der Beitrag von Franz Irsigler. Anders gewendet: Bauern bestanden insbesondere beim teuren Fernhandel, zum Beispiel im Ochsen-, Pferde- oder Weinhandel fast immer auf Barzahlung. Im Gegenzug akzeptierten sie jedoch Vorschüsse und Verpflichtungen der Käufer (vgl. S. 144). Auch hier werden das mangelnde Vertrauen und vor allem das Fehlen von Kreditsicherungssystemen, die im Falle eines Zahlungsausfalls hätten greifen können, deutlich.
Schließlich fragt Günther Schulz nach Brüchen und Kontinuitäten im modernen Kreditwesen des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Vor dem Hintergrund der Bevölkerungsexplosion, der Industrialisierung, dem Pauperismus und schließlich einer aufkommenden staatlichen Sozialgesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt er drei zentrale institutionelle Neuentwicklungen als wesentliche Säulen und Unterscheidungsmerkmale: die kommunalen Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken sowie Aktienbanken. Diese Institute ermöglichten den unteren Klassen Geld anzulegen und zu leihen – mithin sie in einen Geldmarkt zu integrieren. Dass diese Institute ihre Vorläufer in der Vormoderne hatten, wie etwa in den italienischen Monti di Pietà, sei an dieser Stelle noch hinzugefügt.
Der Band bietet einen stimmigen und soliden Einblick in das Kleinkreditwesen, der von der langjährigen Forschungserfahrung aller Autoren profitiert – die Fallstudien zeigen interessante neue Perspektiven und ermahnen die Leserinnen und Leser einmal mehr zu quellennahem und mikrogeschichtlichen Arbeiten als einem Schlüssel zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte.
Anmerkung:
1 Bruno Kuske, Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: ders., Köln, der Rhein und das Reich. Beiträge aus fünf Jahrzehnten wirtschaftsgeschichtlicher Forschung (FS dargebracht von der Stadt und Universität zu Köln), Nachdruck des Aufsatzes von 1927, Köln 1956, S. 48–137.