Titel
Sensing the City. A Companion to Urban Anthropology


Herausgeber
Schwanhäußer, Anja
Reihe
Bauwelt Fundamente 155
Erschienen
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Michel Massmünster, Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, Universität Basel

„Sounds Punk to me mate“, meint der Verkäufer mit den zerzausten Haaren und dem Nietenhalsband im Londoner Plattenladen. Ihm gegenüber steht eine Person mit Brille und Jackett. Sie hat ihm eben erzählt, dass sie im Rahmen ihrer stadtethnografischen Forschung verschiedene Leute treffe, mit ihnen über Musik und Konzerte quatsche, in der Stadt rumhänge und schaue, was so abgeht.

Der von Anja Schwanhäußer herausgegebene Band „Sensing the City. A Companion to Urban Anthropology“ schenkt intimen Momenten der Feldforschung viel Beachtung. So auch im Comic über den Plattenladen. Im Stile der „graphic anthropology“ nehmen die sechs Bildstorys der Illustratorin Nele Brönner Felderfahrungen auf, die in den jeweiligen Textbeiträgen reflektiert werden. Sie handeln von sozialen Ungleichheiten sowie deren Erkennbarkeit, von Atmosphären von Städten und Stadtteilen, Empathie, Missverständnissen, Scham, Freundschaft, Spaß. Und nicht zuletzt davon, dass Ethnografierende immer wieder ihre Person aufs Spiel setzen, woraus sie oft wichtige Erkenntnisse ziehen. Mit ihrer Unplanbarkeit stabilisieren solche Momente das Selbstbild einer Erfahrungswissenschaft. Indem der Band sie intensiv befragt, schenkt er der Stadtethnografie und darüber hinaus der allgemeinen kulturanalytischen Debatte wichtige Impulse. Die 13 Textbeiträge sind dabei in einer Sprache verfasst, die die Lektüre – nicht nur aufgrund der Comics und der Umschlagsgestaltung – über den Erkenntnisgewinn hinaus zu einem ästhetischen Vergnügen macht.

Nach dem Prinzip eines einführenden Readers versammelt der Band bereits publizierte Texte: ethnografische Studien aus jüngerer Zeit, Schlüsseltexte zur Kulturanalyse der Stadt und methodologische Beiträge. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Impulse, die die klassischen Traditionslinien der urbanen Anthropologie überschreiten, zugleich in diesen zu verorten. Er vollzieht den Spagat zwischen einer kontinuierlichen Fachdebatte, die von Klassiker/innen lernen will, und einer, die die alten Konzepte hinter sich lässt, um neue zu entwickeln. So ist das Buch in die beiden Abschnitte „Anthropology in the City“ und „Anthropology of the City“ gegliedert: Erstens bezieht sich die Herausgeberin damit auf die Chicago School of Sociology, die soziale Fragen und marginalisierte Gruppen in der Stadt untersuchte. Zweitens knüpft sie an Fragen nach Stadt und Urbanität als Ganzes an, wie sie in den letzten Jahren auch in der Europäischen Ethnologie vermehrt gestellt werden. Drittens verweist sie auf diese Unterteilung in zwei Idealtypen urbaner Anthropologie selbst, die die kulturanalytische Stadtforschung strukturiert. Der Band reflektiert und transzendiert diese Unterscheidung aber auch: Bereits im Prolog lässt Howard S. Becker, selbst Vertreter der Chicagoer Schule, über eigene Kindheitserfahrungen die Stadt und ihre differenten Gruppen gemeinsam aufleben. In der Einleitung diskutiert die Herausgeberin entsprechend die vielschichtigen Relationen zwischen einer Anthropologie in der und einer über die Stadt, um beide im urbanen Wandel zu verorten. Dass die Unterseite der Stadt derzeit wieder vermehrt interessiert, führt Schwanhäußer nicht zuletzt auf neoliberale Politiken zurück: Soziale Ungleichheiten werden wieder sichtbarer und regen ethnografische Forschung an. Mit der zugleich zunehmenden Bedeutung der Popkultur werden Unterschiede vorwiegend zeichenhaft ausgetragen. Dies gilt auch für die Ungleichheiten zwischen Städten: Mit Deindustrialisierungsprozessen kehren diese ihre Eigenheiten heraus. Das verstärkte kulturanalytische Interesse an der Stadt als Ganzes ist Teil dieser Prozesse.

Den Anfang des ersten Abschnitts macht der Humangeograf Peter Jackson mit einem Artikel von 1985. Er lobt die Vielseitigkeit sowie methodologische Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Stadtethnografie, fordert jedoch mehr Kontextualisierung und Abstraktion. Der Soziologe Les Back zeigt im nächsten Beitrag, dass sich die Ethnografie der Forderung nach Formalisierung nicht annähern muss. Evokation ist vielmehr ihre Stärke. Mit einem empathischen Schreibstil und durch die gekonnte Anordnung ethnografischer Skizzen erzeugt Back eine erfahrungsnahe Relationierung der von ihm beschriebenen Menschen und Geschehnisse, zu denen auch die eigene Familien- und Forschungsgeschichte gehören. Anhand von „white working class“-Tattoos in Südlondon reflektiert er über soziale Ungleichheit, Stigmatisierung, Emotionen und Sprache. Ebenfalls auf persönliche Verwebungen setzt Ruth Behar. Ihre sinnlich dichte und emotional ergreifende Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte und jener einer mexikanischen Freundin lassen die wirkmächtigen sozialen Grenzen bei der Lektüre spürbar werden. Der Popkulturforscher Moritz Ege tritt im nächsten Comic in Picaldi Jeans aus einer Umkleidekabine. Die Hose passt nicht (zu ihm). Den Karottenschnitt dieser Jeans charakterisiert er im folgenden Artikel als zugleich stilistische Ermächtigung und Selbststigmatisierung junger Männer in Berlin. Anschaulich wird dies, wenn der Picaldi-Träger Tarek die Außenwirkungen seines Stils reflektiert: Dieser soll Härte markieren, aber zugleich nicht zu ernst genommen werden – insbesondere von jenen nicht, die Tarek darüber negativ kategorisieren. Ege arbeitet deshalb ein Recht auf Ambiguität heraus, mit dem er die „structure of feeling“ von Picaldi-Trägern präzise einfängt.

Rolf Lindner stellt fest, dass wir beim Lesen der kumulativen Texturen von Städten noch am Anfang stehen. Er motiviert im zweiten Buchabschnitt entsprechend zu deren Erforschung, wenn er anschaulich die Ansätze darlegt, auf die sich das Konzept „Imaginary of the City“ bezieht. In einem planungskritisch-polemischen Essay macht der Schriftsteller Jonathan Raban das Denken von Stadt als Oszillation zwischen Utopie und Distopie fest und verortet dies in einem funktionsbezogenen urbanen Leben. Mirko Zardini schlägt aus architektonischer Sicht einen sinnlichen Urbanismus vor: Im Umfeld von Planungsansätzen, die Sicherheit und Kontrolle hochhalten, scheitert der öffentliche Raum ständig, seine Funktion als Ort der demokratischen Aushandlung zu erfüllen. Gerade hier werde das Denken und Planen in Atmosphären wichtig.

In Abgrenzung zum offenen Vorgehen, das die anderen Beiträge zelebrieren, systematisiert Margarethe Kusenbach die Go-Along-Methode. Auch im nächsten Beitrag geht es darum, mit Gesprächspartner/innen Räume zu durchqueren, was das Forschen in und über Stadt verschränkt: Loïc Wacquants Drive-Along durch die Neighborhood des unter Ethnograf/innen wohl bekanntesten Boxing-Gyms drückt aber wieder die Lust an einem offenen Zugang aus. Wacquant bringt den baufälligen Zustand des Viertels sowie die Perspektivenlosigkeit und die Gefühlswelt seiner Bewohnenden analytisch zusammen. In einem methodologischen Epilog aus „The Secret World of Doing Nothing“ (2010) beschreiben Orvar Löfgren und Billy Ehn, wie sie mit Vorgehensweisen und Material experimentierten, wo sie Inspirationen fanden und wie immer wieder Unerwartetes ihr Projekt weiterbrachte. Das Buch schließt mit Brönners Reflexionen über ihre Comics und den Autor/innenangaben.

Gemeinsam liefern die Beiträge ein beeindruckendes Stimmungsbild und einen grundlegenden Diskussionsbeitrag zur Sinnlichkeit des Städtischen. Indem sie die Zusammenhänge zwischen Gefühlen, Sprachlosigkeit, sozialen Benachteiligungen, dem urbanen Leben und Debatten über Stadt sowie zugleich der Erforschbarkeit all dessen aus verschiedenen Perspektiven theoretisieren, bieten sie wichtige Einsichten in und für kulturanalytische Erkenntnisprozesse. Dabei zeigt das Buch, wie bedeutend sozialstrukturelle Fragen für ein Verständnis von Stadt und urbanen Gruppen bleiben. Die vielfach kritisierte Dynamik, dass die Fokussierung auf ein soziales „Unten“ (oder „Oben“) diese Dichotomie reproduziert, nimmt der Band ebenfalls auf. Da die Texte das Werden dieser Unterscheidung vielschichtig vermitteln, schreiben sie soziale Strukturierungen nie fest. Mit Selbstthematisierungen wird vielmehr auf die sozialwissenschaftliche Beteiligung an der Konstitution des Sozialen und der Stadt verwiesen. Mit Blick auf die urbane Anthropologie als Ganzes wird ebenso deutlich, wie umgekehrt soziale Phänomene das wissenschaftliche Interesse antreiben. In den letzten Jahren machten ethnografische Ansätze, die sich der Akteur-Netzwerk-Theorie zuschreiben, prominent auf Beteiligungen von Wissen und Technik bei der Versammlung von Stadt aufmerksam.1 Sie könnten sozialstrukturelle Fragen durch den Blick auf dazu querliegende Verbindungen ergänzen. „Sensing the City“ nimmt diese Ansätze nicht explizit auf, ermuntert aber, in diese und andere Richtungen weiterzudenken.

So sind die vielseitigen Anschlussmöglichkeiten eine weitere Qualität, die die Herausgeberin in das Buch legt – gerade weil es für Unausgesprochenes und forschendes Herumhängen Raum lässt. Vielfach tauchen die in einem Beitrag behandelten Themen in einem anderen oder in den Comics wieder auf und werden dabei in neue Relationen gestellt. In bester ethnografischer Manier erfüllt der Band so in sich ein dialogisches Prinzip, involviert Lesende in vielschichtige Verstehensprozesse sowie in die sinnlichen Welten der Protagonist/innen – und wendet damit das Recht auf Ambiguität auf die urbane Anthropologie selbst an.

Anmerkung:
1 Z.B. Ignacio Farias / Thomas Bender (Hrsg.), Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies, London 2010.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/