Ortschroniken und Heimatbücher gehören zu den markantesten Genres eines breiten Spektrums an Publikationen, die unter dem Oberbegriff „heimatgeschichtliche Literatur“ zu fassen sind. Dabei stehen nicht Städte, sondern überschaubare Gemeinschaften im Mittelpunkt, meist die Geschichte und Gesellschaft eines Dorfes oder einer Gemeinde. Selbst wenn es nicht möglich ist, die Zahl solcher Veröffentlichungen für den deutschsprachigen Raum einigermaßen genau zu beziffern, gibt es zuverlässige Indizien dafür, dass sie sich, wenn auch Konjunkturen unterworfen, seit rund eineinhalb Jahrhunderten einer massenhaften Verbreitung erfreuen. Ihre große Popularität und nicht hoch genug einzuschätzende Wirkung auf die Geschichtskenntnisse und Geschichtsbilder von Laien hält bis in die Gegenwart an – und wohl auch in der Zukunft.
Im Kontrast zur Verbreitung und Wirkungsmacht steht die lange Zeit fehlende wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diese in ihren Erscheinungsformen heterogene, in ihrer Zielsetzung, Struktur und Rezeption jedoch eher homogene Form populärer Geschichtsschreibung erfahren hat. Erst 2010 erfolgte eine nähere Bestandsaufnahme der Geschichte, Methodik und Wirkung von Heimatbüchern.1 Sie war mit dem Plädoyer verbunden, das Heimatbuch nicht bloß als eine gegenüber der akademischen Geschichtsforschung defizitäre Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sehen, sondern als eigene, durch spezifische Merkmale gekennzeichnete Schriftenklasse – eine Form der Lokalgeschichtsschreibung von geschichtswissenschaftlichen Laien.
Dieses Desiderat der Forschung greift der Oldenburger Historiker Dirk Thomaschke in seiner lesenswerten Studie auf. Dabei vertritt er die zu hinterfragende These, dass sich in der Bundesrepublik (erst) in den späten 1970er-Jahren – und nach der Wiedervereinigung auch in den neuen Bundesländern – mit den Ortschroniken und Heimatbüchern ein eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung herausgebildet habe (S. 8). Um dessen Stellenwert als erinnerungskulturelles Phänomen zutreffend einzuschätzen, so sein nachvollziehbares Argument, genüge es nicht, die disziplinäre Perspektive der Geschichtswissenschaft bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit anzusetzen. Deshalb fragt der Autor fokussiert auf zwei Aspekte – die Darstellung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, auf die sich ein Großteil der Fachkritik an den Ortschroniken konzentriert – nach den Prinzipien, die für die Konstruktion von Geschichte in Ortschroniken maßgeblich sind. Thomaschke geht es nicht um Anklage oder Entlastung. Ihn interessieren vielmehr die historiographischen Mechanismen, die den besonderen Umgang mit der NS- und Kriegsgeschichte in den Ortschroniken erklären können. Das Ziel, die Eigenlogik von Form, Inhalt, Entstehung und Verwendung solcher Historiographie grundsätzlich zu bestimmen (S. 11), ist mit dem hohen Anspruch verbunden, Ortschroniken und Heimatbücher erstmals in einem landesweiten Vergleich für den gesamten Zeitraum der Bundesrepublik und auch der DDR zu analysieren (S. 9). Darüber hinaus versteht sich die Studie als Beitrag zur Erforschung lokaler Erinnerungskulturen an den Nationalsozialismus.
Der Leitfrage entspricht die überzeugende Struktur der neben Prolog und Fazit in sechs Kapiteln gegliederten Arbeit. Sie greift maßgeblich auf rund 250 arbiträr ausgewählte Ortschroniken zurück, die in ihrer Mehrheit nach 1945 entstanden sind, wobei Publikationen seit den späten 1980er-Jahren überwiegen. Ergänzend und punktuell werden auch einige wenige Archivbestände zur heimatgeschichtlichen Lokal- und Regionalforschung herangezogen. In beiden Fällen ist trotz des gesamtdeutschen Anspruchs ein mittel- und norddeutscher Schwerpunkt der Arbeit unübersehbar.
Die beiden ersten umfangreichen Kapitel – „Ortschroniken als Genre“ – gehen der grundsätzlichen Frage nach, was eine Ortschronik ist. Dabei werden mit der schwierigen Begriffsbestimmung, dem Inhalt, den Autoren, der Entstehung und den Quellen einerseits formale und andererseits inhaltliche Kriterien verwendet. Die Befunde bestätigen Bekanntes: Ortschroniken, deren Thema in der Regel das Dorf, die Gemeinde, nicht eine Stadt ist, fehlt verglichen mit geschichtswissenschaftlichen Arbeiten eine allgemeinhistorische Frage. Sie schreiben Lokalgeschichte vom Ursprung bis in die Gegenwart, wobei dem Kontext, wenn er nicht ganz ausgeblendet wird, ein Tapeten-Effekt, eine Funktion als Staffage zukommt. Der Aufbau dieser Publikationen ist unsystematisch, ihr Inhalt eine eklektische Inventur im Dienst einer Ruhmeshalle der Dorfgemeinschaft. Sie bündeln Ergebnisse von Autoren, die das Festhalten von Miterlebtem in der Ortschronik als Gemeinschaftsaufgabe verstehen. Thomaschke bringt es (nicht nur in diesem Fall) klar auf den Punkt: „Statt die Geschichte des Dorfes zu schreiben, schreiben Heimatbücher [eine bestimmte] Geschichte in das Dorf.“ (S. 76)
Vor diesem Hintergrund werden in den zentralen, insgesamt gut 100 Seiten umfassenden zwei folgenden Kapiteln die Darstellungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in den Ortschroniken sowie deren Kontinuität und Wandel bis weit in die 1970er-Jahre thematisiert. Nachvollziehbar wird gezeigt, wie die allgemeinen Merkmale des Genres auch die Art und Weise des Umgangs mit der Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmen. Zentral ist dabei die bemühte Trennung von Dorf und Umwelt. Der geographischen entspricht eine angebliche historische Abgeschiedenheit der Dorfgeschichte. Wenn die „große“ Geschichte in den Ortschroniken vorkommt, dann in der Regel als unvermeidlicher Einbruch einer schicksalhaften Katastrophe. Der scheinbaren Passivität des Lokalen entsprechen die Politisierung der Dorfgemeinschaft von außen, die „Verführung“ und der „Missbrauch“ durch den Nationalsozialismus, die Externalisierung der Täter, die Ortsfremdheit überzeugter Nationalsozialisten, die Widerständigkeit des dörflichen Alltags, das Ausgeliefertsein an die Besatzungsmächte und die Displaced Persons sowie die erzwungene Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen im Rahmen der Opfer- und Aufbaugemeinschaft in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Dichotomie korrespondiert, wie Thomaschke anhand seiner Quellen ausgewogen argumentierend zeigt, mit zwei unterschiedlichen Zeitlinien, die sich in den Heimatbüchern finden: die gleichsam zeitlose, kontinuierliche Entwicklung der Dorfgemeinschaft, der „kleinen“ Geschichte, und der von tiefen Einschnitten und Veränderungen gekennzeichnete Strang der Politikgeschichte, der „großen“ Geschichte. Diese Parallelität setzte sich nach 1945 weitgehend fort, indem, wie in der akademischen Forschung auch, die NS-Zeit bis zum Beginn der 1980er-Jahre häufig ausgeblendet oder entkonkretisiert wurde. Thomaschke spricht daher zu Recht von einer „Konstanz früher Muster der Vergangenheitsbewältigung“ (S. 199), deren Ursache er in der hermetischen Trennung von Mikro- und Makrogeschichte in den Ortschroniken sieht.
Seine Befunde zur Art der Darstellung des und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit in der heimatgeschichtlichen Literatur bettet Thomaschke im fünften Kapitel in einen größeren Zusammenhang ein, indem er grundsätzlich nach dem Verhältnis zwischen Ortschroniken und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung fragt. Bis zur Entstehung der Heimatgeschichte im späten 19. Jahrhundert ausholend, verweist er auf das von Anfang an hierarchische Verhältnis zwischen akademischer Forschung und insbesondere der Landesgeschichte und der Heimatgeschichte. Daran änderte sich nach 1945 und auch in den 1970er-Jahren, mit dem Aufkommen einer neuen Heimatbewegung in der Bundesrepublik sowie der Alltagsgeschichte, wenig. Zum „recht steifen Verhältnis“ (S. 249) der Landesgeschichte zur Laiengeschichte hat laut Thomaschke die strikte „Dualität zwischen Alltag und Erfahrung auf der einen Seite und Ideologie und Politik auf der anderen Seite“ wesentlich beigetragen (S. 243). So gut wie keine Berührungspunkte gab und gibt es nach Thomaschke auch zwischen der etwa zur gleichen Zeit aufkommenden Laiengeschichtsschreibung („Grabe, wo du stehst“) und der sich etablierenden Alltagsgeschichte in der Bundesrepublik. Sie unterscheiden sich in vier zentralen Theoremen: hier der Blick auf eine geschlossene Gemeinschaft, die identitätsstiftende Zielsetzung, die Eindimensionalität und das Verharren auf dem Konkreten des Dorfes; dort der über das Dorf hinausreichende Blick, das von der Methodik der Geschichtswissenschaft bestimmte Erkenntnisziel, die Perspektivenvielfalt und die Intention, die lokalen Ergebnisse breiter zu kontextualisieren und zu vergleichen. Auch gegen die neue Konkurrenz beim Zugang zum Lokalen und Alltäglichen konnten sich die Ortschroniken behaupten. Dass es dabei kaum Annäherungsversuche gab, ist sowohl den Ortschronisten als auch der akademischen Geschichtswissenschaft, der Laienalltagsgeschichte als auch der universitären Alltagsgeschichte zuzuschreiben.
Im letzten Kapitel steht die Auseinandersetzung mit der Heimatgeschichte in der DDR im Mittelpunkt. Hier betritt die Arbeit nicht nur Neuland. Indem sie Heimatgeschichte als lokale Praxis in der DDR detailliert analysiert, kann sie auch ein Forschungsfeld abstecken, das es noch zu vertiefen gilt. Doch so wertvoll die hier herausgearbeiteten Erkenntnisse sind, handelt es sich bezogen auf die Gesamtstruktur der Studie letztlich um ein verzichtbares Anhängsel. Thomaschke hat es mit Blick auf einen Vergleich zwischen der heimatgeschichtlichen Literatur der Bundesrepublik und der DDR in seine Studie aufgenommen. Doch fehlt dem angestrebten Vergleich die Grundlage, weil, wie der Autor selbst einräumt, aufgrund völlig unterschiedlicher Voraussetzungen „sich ein vergleichbares Genre mit der hinreichenden Eigenständigkeit in der DDR nicht etablieren konnte“ (S. 253).
Die gut geschriebene Monographie über die Ortschroniken setzt einen wichtigen Baustein zur Analyse und zum Verständnis einer zentralen Quelle für die Geschichtskultur der kleinen, ländlichen Orte. Mit der angebotenen Deutung der imaginierten Dorfgemeinschaft, der autonomen Zeitschiene und der Essentialisierung von Heimat arbeitet Thomaschke hinsichtlich des Umgangs mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und früher Nachkriegszeit drei maßgebliche historiographische Prinzipien heraus, die diese Form der Geschichtsschreibung einerseits charakterisieren und andererseits von der akademischen Geschichtsschreibung deutlich unterscheiden. Aber diese Prinzipien prägten die heimatgeschichtliche Literatur von Anfang an. Deshalb greift Thomaschke, vermutlich aufgrund des untersuchten Zeitraums und des inhaltlichen Schwerpunkts, zu kurz, wenn er die Herausbildung eines eigenen Genres der Ortschroniken und Heimatbücher erst in den 1970er-Jahren ansiedelt. Vielmehr stellten sie, wofür auch die Arbeit selbst besonders im fünften Kapitel eine Reihe von Hinweisen liefert, bereits seit dem späten 19. Jahrhundert neben der universitären Historiographie und der Landesgeschichte einen dritten eigenständigen Weg der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dar.
„Abseits der Geschichte“, so der programmatische Titel von Dirk Thomaschkes Publikation, ist die heimatgeschichtliche Literatur nur aus Sicht der akademischen Geschichtsschreibung. Das arbeitet die Studie klar und überzeugend heraus. Die historiographische Eigenständigkeit von Ortschroniken und Heimatbüchern deutlicher sichtbar gemacht zu haben ist ein wesentliches Verdienst der Arbeit. Sie sollte zugleich als Aufforderung verstanden werden, in das noch weite Feld der Erforschung dieser Form der Historiographie weitere Furchen zu ziehen.
Anmerkung:
1 Mathias Beer (Hrsg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010; rezensiert von Willi Oberkrome, in: H-Soz-Kult, 22.12.2010, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15120 (04.01.2017).