Die vorliegende, 2013 als Dissertation im Fach Kirchengeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommene Studie behandelt mustergültig einen über Jahrhunderte ideologisch besonders behafteten Gegenstand der Reformationsgeschichte – das Kirchenlied, präziser noch das Psalmlied als eine Kirchenliedgattung, die in verschiedenen Ausprägungen in allen christlichen Konfessionen eine kaum zu unterschätzende Rolle spielt.
Ausgehend von den Lieddichtungen und -kompositionen der vier bedeutendsten Reformatoren des 16. Jahrhunderts Martin Luther (Wittenberg), Huldrych Zwingli (Zürich), Martin Bucer (Straßburg) und Johannes Calvin (Genf), entfaltet die Autorin das große Panorama des Psalmlieds im Kontext der jeweiligen theologischen Lehre sowohl in den ersten Jahrzehnten der Reformationszeit als auch im Zeitalter der Konfessionalisierung. Hofmann berücksichtigt außerdem die jeweilige altkirchliche (römisch-katholische) Reaktion auf das evangelische Psalmliedschaffen der genannten Reformatoren.
Um diesem vorurteilsfrei begegnen zu können, hat sie sich dafür entschieden, im ersten Hauptteil ihrer Arbeit zunächst jeden Autor einzeln im Kontext seiner eigenen schriftlichen Zeugnisse und seines theologischen Zugangs zum Kirchenlied zu betrachten (Teil B, Kapitel II–V). Diese gesonderte Behandlung ermöglicht einen gezielten Vergleich der vier Reformatoren im Hinblick auf den Stellenwert, den diese dem biblischen Psalter und der zeitgenössischen Psalmendichtung beimaßen (Teil B, Kapitel VI).
Dieser erste Teil der Arbeit schließt mit der zentralen Erkenntnis, dass das Psalmlied zwar seine „theoretischen Anfänge […] bei Luther“ habe, dass es aber seine „Verbreitung […] zu einem großen Teil den Straßburger Gesangbüchern und somit auch Bucer“ verdankt; dieser habe als „Vermittler zwischen reformatorischen Deutungen“ und als „Förderer des Psalmengesangs […] in seinen Schriften die Bedenken Zwinglis“ gegen den Kirchengesang, die dieser 1523 bei der ersten Zürcher Disputation geäußert hatte, entkräftet und damit Calvin wichtige Impulse gegeben, der seinerseits maßgeblich an der Erarbeitung und Kanonisierung des Genfer Psalters beteiligt war (S. 88).
Im zweiten Hauptteil widmet sich die Autorin einer exemplarischen Textanalyse von zwischen 1523 und 1650 entstandenen Liedern über die Psalmen 2, 6, 12, 22, 23 und 79. Es handelt sich bei diesen Psalmen um solche, „die wichtige Aspekte der Psalmeninterpretation im Lied zeigen“ und die „christologische Deutungen (Psalm 2; 22; 23), Darstellungen der Rechtfertigungslehre (Psalm 6), Polemik gegen Feinde (Psalm 12; 79) und Kritik an der Obrigkeit (Psalm 2)“ enthalten (S. 89). Die Analyse versteht sich als Teil der geschichtlichen Darstellung des Phänomens Psalmlied, wie in dem Kapitel über die „Herausbildung und erste Verbreitung einer neuen reformatorischen Gattung (1523–1572)“ erkennbar ist. Hier wird das weite Spektrum von den ersten gedruckten Psalmliedern auf Flugschriften über erste Psalmliedsammlungen bis hin zur Bedeutung des Psalmliedes in den Schuldramen des 16. und 17. Jahrhunderts aufgezeigt. Zu dieser umfassenden Darstellung gehören auch die „Politische Deutung der Psalmlieder im Kontext des Schmalkaldischen Krieges“ (Teil C, Kapitel II) und der sich unmittelbar daran anschließende Überblick über die drei ersten vollständigen Psalmen-Gesangbücher von Hans Gamersfelder (1542), Burkhard Waldis (1553) und Johann Magdeburg (1565). Auf die Vielfalt medialer Verbreitungsformen der Psalmlieder wird durchgehend verwiesen: Flugblätter, Andachts- und Gesangbücher, Schuldramen und sogar der Meistersang trugen demnach maßgeblich zur Verbreitung und anhaltenden Rezeption des Psalmliedes als eigenständiger Kirchenliedgattung bei (vgl. S. 141f.).
Bestandteil dieses zweiten Hauptteils ist darüber hinaus ein reichhaltiges Kapitel zur Rezeption des Genfer Psalters im deutschsprachigen Raum zwischen 1572 und 1618, in welchem die Autorin eine umfassende nachgerade bibliographische Darstellung deutscher Übertragungen des Genfer Psalters aus den Jahren 1572f. und 1588 einerseits und lutherischer Psalmen-Dichtungen von 1574 bis 1614 andererseits bietet. Der Bezug zum ersten Hauptteil bleibt stets gewahrt, da Hofmann zu jedem Autor und Herausgeber dessen theologische Position liefert, die sie hauptsächlich den Vorreden zu den jeweiligen Druckwerken entnimmt.
Als besonders verdienstvoll erweist sich das Kapitel „Konfessionsübergreifende Übertragung des Genfer Psalters: Martin Opitz (1637)“ (Teil C, Kapitel III.2), in welchem die Autorin mittels zahlreicher Textstellennachweise den Beweis dafür erbringt, dass Opitz die Melodien der Genfer Psalmlieder in seinen Druck „Die Psalmen Davids“ übernimmt und dabei „nicht nur mit verschiedenen Psalmenauslegungen, sondern […] auch mit dem hebräischen Text“ arbeitet, „den er mit größter Genauigkeit in seinen Dichtungen berücksichtigen will“ (S. 248f.).
Resümierend stellt die Autorin fest, dass keiner der vier Reformatoren ein theologisches oder gar poetologisches Konzept des Psalmliedes entwickelte, dass sich aber alle vier im Kontext der Gottesdienstreform mit dem Psalmlied intensiv auseinandersetzten. Von großer Bedeutung erweist sich auch Hofmanns Erkenntnis, dass das Psalmlied auch unter den Augsburger Täufern um Jacob Dachser und Sigmund Salminger verbreitet war, deren Lieder zeitweise zum Kernbestand in lutherischen Gesangbüchern gehörten (vgl. S. 277). Der Autorin gelingt damit der Nachweis, dass die Konfessionen auf dem Gebiet des Kirchenliedes keinesfalls so scharf voneinander zu trennen sind, wie dies Autoren vergangener Jahrhunderte aufgrund ihrer eigenen konfessionellen Bindung suggerierten – und dies nicht nur im Hinblick auf die gegenseitige Verwendung von Liedtexten, sondern auch in Bezug auf die übernommenen, bearbeiteten oder neuen Kirchenliedmelodien: So griffen beispielsweise die „Psalmlieder aus katholischem Kontext“, die nach Ansicht der Autorin selbst keine eigene Gestalt entwickelt haben, meist auf Bewährtes zurück, darunter auch auf die Melodien des Reformators Martin Luther (vgl. S. 280). Die von Calvin autorisierten Melodien aus dem Genfer Psalter waren wiederum Impulsgeber für lutherische Lieder, die zum Teil im selben Stil komponiert wurden wie die Lieder des Genfer Psalters.
Abschließend befasst sich Hofmann mit der Frage, ob dem Psalmlied in der Musikgeschichte eine kulturprägende Wirkung zukommt. Dabei bezieht sie sich auf die frühen Bearbeitungen des Genfer Psalters für motettische Sätze durch die Calvinisten Claude Goudimel und Claude Le Jeune, den Katholiken Eustache du Caurroy und durch den ebenfalls reformierten Amsterdamer Organisten Jan Pieterszoon Sweelinck, der wiederum zahlreiche lutherische Kantoren und Organisten ausbildete und über den das Liedgut des Genfer Psalters endgültig in die lutherische Musikpraxis Eingang fand. Hofmann zeigt dies unter anderem anhand des lutherischen Komponisten Samuel Scheidt (1587–1654) aus Halle, der von 1607 bis 1609 bei Sweelinck studierte und in seinen geistlichen Konzerten nicht nur lutherische Lieder, sondern auch Lieder aus dem Genfer Psalter verwendete (vgl. S. 284). Und wenn der römisch-katholisch erzogene Komponist Wolfgang Amadeus Mozart im 2. Akt (28. Auftritt) seiner freimaurerisch durchdrungenen Oper „Die Zauberflöte“ die Melodie des protestantischen Psalmliedes „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ (Psalm 12) im Gesang der Geharnischten zitiert, so ist dies ein weiterer Beleg für die von der Autorin zu Recht verfochtene Position der Interkonfessionalität des Psalmliedes.
Ein umfangreiches Quellenverzeichnis, welches neben der Sekundärliteratur auch zahlreiche Gesangbücher, Musikalien und theologische Schriften enthält, sowie ein Personen- und ein Ortsverzeichnis bzw. ein nach Zugehörigkeit zu einem Psalmtext geordnetes Verzeichnis der Liedanfänge vervollständigen die Arbeit, wobei zu jedem Textincipit im Liederverzeichnis der (ermittelte) Name des Textdichters mitgeliefert wird.
Alles in Allem kann die von Andrea Hofmann vorgelegte Studie als vorbildhaftes Plädoyer für eine auch in Zukunft überkonfessionelle Aufarbeitung des (nicht nur deutschsprachigen) Kirchenliedes verstanden werden.