P. Johanek (Hg.), Städtische Geschichtsschreibung

Titel
Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Peter Johanek
Reihe
Städteforschung A 47
Erschienen
Köln u.a. 2000: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XXIV + 356 S.
Preis
DM 88,-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Droste, Historisches Seminar der Universität Kiel

Die städtische Geschichtsschreibung gehört seit über 100 Jahren zu den immer wieder neu entdeckten Themen der Mediävistik. Der im europäischen Vergleich nahezu einmalige Reichtum an historiographischen Texten aus den Städten des Heiligen Römischen Reichs ist in sich wiederum von einer ungewöhnlichen Vielfalt. Geschichtsschreibung befriedigte antiquarische wie aktuell politische, offizielle wie private, literarische wie pragmatische Interessen. Die Vielfalt ist daher ebenso Anlaß zu immer neuen Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen wie Ursache einer bisher nicht befriedigend gelösten Debatte über Wesen, Gattungen, Herkunft, Grenzen und Benennungen.

Der hier zu besprechende Tagungsband behandelt beides, die Vielfalt wie die mangelnde Übereinkunft über das Wesen der städtischen Geschichtsschreibung. Er gibt im wesentlichen die Vorträge einer im Jahr 1988 in Münster stattgehabten Tagung wieder. Einige der Vortragenden haben ihre Beiträge zurück gezogen, andere sind hinzugekommen. Die meisten Autoren haben ihre Beiträge stillschweigend über das Jahr 1988 hinaus aktuell gehalten, zumeist bis zum Jahr 1995 oder darüber hinaus. Ein einheitlicher Diskussionsstand kann so zwar nicht erreicht werden. Die Beiträge gehen allerdings ohnehin eher auf verschiedene Fragen zur Stadtgeschichtsschreibung ein.

Der Herausgeber Peter Johanek betont in seiner Einleitung dabei, daß trotz der intensiven Beschäftigung mit dem Thema der Stadtchronistik und trotz einer umfangreichen Editionstätigkeit insbesondere im 19. Jahrhundert noch sehr viele Texte unediert, unerschlossen oder unbekannt seien. Das gilt vor allem für die Texte aus der Frühen Neuzeit. Der institutionellen Aufteilung der Geschichtswissenschaft folgend, ist die Geschichtsschreibung des 16. und vollends des 17. Jahrhunderts bisher ungleich schwächer untersucht worden. Städtische Geschichtsschreibung ist als Thema weitgehend der Mediävistik zugeordnet.1 Der Band überschreitet diese Grenze mühelos und verdeutlicht sowohl Fortentwicklung als auch Kontinuität. Dabei wird der Anspruch, einen systematischen Zugriff auf die städtische Geschichtsschreibung zu bieten, von vornherein aufgegeben (S. XVII). Die Mehrzahl der Beiträge beschränkt sich vielmehr auf die Geschichtsschreibung einer Stadt oder gar auf einzelne Texte. Schon der Vergleich der Geschichtsschreibung zweier Städte, seien sie auch benachbart, bringt erhebliche Probleme mit sich, zumal bis heute nicht befriedigend geklärt werden konnte, ob die städtische Geschichtsschreibung aus weitgehend gemeinsamen Wurzeln entstand oder ob die Städte zumindest in begrenztem Umfang neuschöpferisch tätig waren. Es fällt jedenfalls auf, daß einige der bedeutendsten Städte vor dem 16. Jahrhundert überhaupt keine Geschichtsschreibung entwickelt haben. Die in Herbert Grundmanns Übersicht zur Geschichtsschreibung im Mittelalter 2 aufgestellte These von der Kontinuität mönchisch-klerikaler zur bürgerlich-städtischen Geschichtschreibung vermag nicht mehr zu überzeugen (S. IX-X).

Dieser Problematik wendet sich - aus einer nunmehr persönlichen historiographischen Perspektive - Heinrich Schmidt in seinem Beitrag zu. Schmidts 1958 erschienene Dissertation zur städtischen Geschichtsschreibung als Spiegel bürgerlichen Selbstverständnisses 3 prägt zwar einerseits bis heute die Erforschung der Stadtchroniken. Der von ihm vorgenommene Vergleich zwischen Chroniken verschiedener Städte wird andererseits auch von ihm selbst mittlerweile als problematisch eingeschätzt. Schmidt zeichnet zunächst seine eigene Fragestellung nach, der er aus dem Abstand von vier Jahrzehnten „Naivität“ (S. 4) bescheinigt. Seine Darstellung der auf seine Dissertation folgenden Forschungen zur städtischen Geschichtsschreibung betont in einer Art Historiographie der Historiographie die vielen neuen Einfallswinkel und Herangehensweisen.

Einen eher systematischen Zugriff bieten die beiden folgenden Beiträge von Klaus Wriedt und Wilfried Ehbrecht. Wriedt versucht ausgehend von bürgerlicher Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert - in sich bereits eine erhebliche chronologische Verengung - eine Gattungsdiskussion zu führen. Diese wird durch verschiedene Beobachtungen erschwert. Es gab offenbar nur ein geringes Gattungsbewußtsein der Autoren; die meisten Chroniken sind anonym und ohne Titel überliefert worden. Die eigene Stadt ist oft nicht der zentrale thematische Bezugspunkt der Darstellung, die sich vielmehr am Fürstentum oder der Genealogie der Kaiser orientierte. Inhaltliche Kriterien bei der Gattungsbeschreibung greifen daher zu kurz, da das Bewusstsein für die spezifischen Eigenheiten und die Rolle der Stadt im Reich bzw. Fürstenterritorium noch nicht entwickelt war. Unklar sind ferner Gebrauch und Publikum, die Grenzen zum Verwaltungsschriftgut, zur politischen Legitimationsschrift oder zur kirchlichen bzw. fürstlichen Geschichtsschreibung sowie die Bedeutung der oftmals geringen literarischen Qualität.

Wriedt und andere sprechen daher - oftmals ununterscheidbar - von Chronistik, Historiographie und Geschichtsschreibung. Dabei wird die ’eigentliche’ Geschichtsschreibung, nämlich die Vergangenheitsgeschichtsschreibung, von der Gegenwartschronistik abgehoben, die demnach nicht eigentlich Geschichtsschreibung sein kann.4 Unklar bleibt dabei jedoch nicht nur die Einordnung der Gegenwartschronistik, sondern auch die Grenzen zur Annalistik sowie zu der von Menke definierten Relation 5, die offenkundig eine große Rolle in der städtischen Geschichtsschreibung gespielt hat. Sie beschreibt eine aktuelle, politisch orientierte Verteidigungsschrift offiziellen Charakters und spielte für die Ausbildung der städtischen Geschichtsschreibung in vielen Städten eine zentrale Rolle.

Einen anderen Zugriff versucht Wilfried Ehbrecht, der die städtische Geschichtsschreibung nach ihrem vermutlich wichtigsten Entstehungshintergrund beschreibt, der Frage von Konsens und Konflikt. Innerstädtische Auseinandersetzungen wie Konflikte mit den Territorialfürsten, beide hingen in aller Regel miteinander zusammen, waren oftmals Anlaß zur Abfassung städtischer Geschichtsschreibung. Sie sollten einerseits die für die Stadt bedrohliche Situation in einer historischen Darstellung urkundenähnlicher Glaubwürdigkeit und Funktion (Relation) beschreiben. Ehbrecht konzentriert sich seinen Ausführungen dabei auf die engen Verbindungen zwischen Rechtsschriftgut, Akten und Amtsbüchern sowie der Geschichtsschreibung. So finden sich oft lange Wiedergaben entscheidender Urkunden in den Chroniktext eingebunden. Sie sollten andererseits die verunsicherte Stadtgemeinde, in aller Regel meint dies zunächst die regierende Elite, mit einem historisch begründeten Selbstbild versehen, das der inneren Stabilisierung dienen konnte. Dazu gehörte seit dem 15. Jahrhundert vermehrt die Darstellung der mehr oder weniger legendenhaften Gründungszeit der Städte. Ehbrecht betont, daß die Wirkung dieser Chroniken „mit großer Zurückhaltung“ beurteilt werden muß (S. 62), und das obwohl die Anwendung der Chronik durch zukünftige Leser zu den topischen Äußerungen der Chronisten gehört.

Es folgen eine Reihe von Detailstudien zu Einzelfragen bzw. einzelnen Städten, die hier nicht in der selben Ausführlichkeit beschrieben werden können. Der Germanist Volker Honemann bietet einen literaturwissenschaftlichen Vergleich mehrerer volkssprachlicher mit einer lateinischen, humanistisch geprägten Darstellung der Braunschweiger Stadtfehde von 1492-1494. Letztere wurde von Tilman Rasche von Zierenberg verfaßt; sie ist im Anhang als Faksimile abgedruckt. Sie unterscheidet sich in Anspruch, literarischer Qualität und historischer Reflektion stark von den eher stereotypen volkssprachlichen Darstellungen. Honemann betont daher den qualitativen Unterschied zwischen volkssprachlicher und humanistischer Geschichtsschreibung. Der humanistischen Geschichtsschreibung gilt auch der Beitrag der Germanistin Uta Goerlitz, die den Briefwechsel zwischen den Humanisten Hermannus Piscator und Petrus Sorbillo über die Geschichte der Stadt Mainz in den zeitgenössischen Diskurs über Geschichtsschreibung zu Beginn des 16. Jahrhunderts einordnet. Dabei ging es in Mainz wie in anderen Städten auch um die Ursprünge der Stadt, die bis weit vor die Gründung Roms zurück verfolgt wurden.

Klaus Arnolds Studie über Stadtlob und Stadtbeschreibung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit gilt einer Gattung, die aus der klassischen Antike bis in die Frühe Neuzeit fortgeführt wurde, für das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit von der Forschung bisher jedoch vernachlässigt wurde. Die relativ verbindlichen Gattungsmerkmale, etwa Lage der Stadt, Ursprung, Verhalten der Bürger u.ä., gehören nur teilweise zum Bereich der Geschichtsschreibung, zumal die Gattung des Stadtlobs in aller Regel auf die gegenwärtige Stadt abzielt. Arnold betont daher, daß die Gemeinsamkeiten zur Geschichtsschreibung gering seien, Stadtlob und Stadtbeschreibung „selten, fast nie“ (S. 252) Teil städtischer Geschichtsschreibung waren.

Joachim Schneider versucht eine Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500 - zeitlich und geographisch deutlich beschränkt gegenüber der umfassenden Typologie von Wriedt. Auch dieses Modell geringer Reichweite ist allerdings von fließenden Übergängen und einem Mangel an Kontinuität gekennzeichnet (S. 187). Helmut Bräuer fragt nach den Beschreibungen von Handwerkern und Zünften in obersächsisch-lausitzischen Stadtchroniken vom 15. bis 17. Jahrhundert, während Wilfried Reininghaus Chroniken und autobiographische Texte als Quellen zur Industrialisierung der Grafschaft Mark untersucht und damit bis in das 19. Jahrhundert vorstößt. Die beiden letzten Beiträge verdeutlichen dabei eine Problematik, die auch an anderer Stelle zu beobachten ist. Ein vorwiegend inhaltliches Interesse am Text der Chronik führt - angesichts ungeklärter Gattungsfragen und unklarer Gebrauchssituation der Texte - zu eindeutigen, oft negativen Beurteilungen von der Beschränktheit, Wahrhaftigkeit oder Qualität der Chroniken. Diese werden nach ihrem Quellenwert zensuriert; ein Verhalten, das František Graus zurecht als unangemessen kritisiert hatte.6

Nur erwähnt seien folgende Beiträge: Gudrun Gleba untersucht die „Aufzeichnungen“ des Münchner Bürgermeister Jörg Kazmair zur innerstädtischen Unruhe von 1397-1403 als Mittel der Meinungsbildung, Irene Stahl beschreibt Nürnberger Handwerkerchroniken, Maria Bláhová die böhmischen Stadtchroniken in Mittelalter und Früher Neuzeit, Rainer Postel die Gruppe der Bürgermeister als Historiographen, Karl Czok die Görlitzer Ratsannalen von Johannes Hass und Ulman Weiß das Selbstverständnis der Bürger Erfurts in der Reformationszeit.

Die vielen Einfallswinkel sind kaum zu vergleichen und stehen für den enormen Reichtum an verfügbaren Quellen. Geschichtsschreibung wird dabei als Gattung diskutiert, als Literatur oder (Auto-)Biographie gelesen, als empirische Quelle benutzt. Auch wenn eine systematische Übersicht zur Stadtgeschichtsschreibung in naher Zukunft nicht zu erwarten ist 7, zumal viele Texte bisher kaum bearbeitet sind, wäre eine einheitliche Begriffsverwendung wünschenswert. Warum Gleba etwa von „Aufzeichnungen“ des Bürgermeister Kazmair spricht, obwohl diese „Aufzeichnungen“ alle Merkmale der von Menke definierten Relation tragen, bleibt unklar. Auch befriedigen die von mehreren Autoren in wechselndem Gebrauch verwendeten Charakterisierungen von offiziellen, offiziösen, privaten und autonomen Chroniken keineswegs. Die meisten Historiker wollen trotz einer anonymen Überlierung, der vom Verfasser kein Titel mitgegeben wurde, nicht auf die Fiktion eines autonomen Werks verzichten, wobei sie implizit moderne Autorenkonzeptionen unterstellen. Zudem existieren nur wenige eindeutige Aussagen zum Auftraggeber, Publikum und zum Gebrauch der Texte. Klare Zuweisungen von Autor und Publikum verbieten sich; das gilt insbesondere für die noch immer viel zu wenig beachtete Überlieferung und Rezeption der Texte. Städtische Geschichtsschreibung war zumeist offen konzipiert, wobei die außerordentlich seltene verfasserunabhängige Kontinuität ein starkes Indiz dafür ist, daß eine erheblicher Teil der sogenannten offziellen und offiziösen Geschichtsschreibung letztlich doch der Initiative Einzelner mit Zugang zum Rathaus verdankt wird. Nicht jeder Bürgermeister und Stadtschreiber, der Ratsinteressen verteidigte, tat dies notwendig im expliziten Auftrag oder auch nur mit Wissen des Rats. Oppositionen wie privat und öffentlich verlieren hier ihre Aussagekraft.
Die städtische Geschichtsschreibung des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit bietet - das sollte klar geworden sein - viel Platz für weitere Studien, die unter Anwendung neuer methodischer Zugänge reiches Material für die Stadtgeschichte bietet. Sie ist nicht zuletzt deswegen seit langem bevorzugter Gegenstand von Dissertationen. Der vorliegende Band enthält viele Anknüpfungspunkte und Anregungen hierzu.

1 Ausnahme hiervon ist etwa der Teilbereich B6 des Giessener Sonderforschungsbereiches 434: Erinnerungskulturen. Er beschäftigt sich mit der „Erinnerungskultur der Stadt vom 14. bis zum 18. Jahrhundert“.

2 Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. 3. Aufl. Göttingen 1978. 1. Aufl. 1965. S. 42f.

3 Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter. Göttingen 1958.

4 Wriedt, S. 25, unter Verweis auf Fritz Ernst, Zeitgeschehen und Geschichtsschreibung. In: Welt als Geschichte 17 (1957), S. 137-189, hier S. 138f, sowie Franz-Josef Schmale, Mentalität und Berichtshorizont, Absicht und Situation hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber. In: Historische Zeitschrift 226 (1978), S. 1-16, hier S. 5ff. Vgl. auch Ders., Funktionen und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Darmstadt 1985; S. 17.

5 Johannes Bernhard Menke, Geschichtsschreibung und Politik in deutschen Städten des Spätmittelalters. In: Jahrbücher des Kölnischen Geschichtsvereins 33 (1958), S. 1-84, und 34-35 (1959-60), S. 85-194.

6 František Graus: Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hrsg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 11-55, hier S. 14.

7 Sowohl der Versuch von Wriedt in diesem Band, der zwischen Chroniken, dokumentierenden Aufzeichnungen sowie persönlichen und familienbezogenen Aufzeichnungen unterscheidet, als auch der von Rolf Sprandel gemachte Vorschlag einer neuen Aufteilung der gesamten Geschichtsschreibung des späten Mittelalters scheinen hierzu wenig taugliche Vorschläge: Rolf Sprandel, Geschichtsschreiber in Deutschland. 1347-1517. In: Mentalitäten im Mittelalter. Hrsg. von František Graus, Sigmaringen 1987, S. 289-314. In veränderter Form erneut aufgenommen in Ders., Chronisten als Zeitzeugen. Forschungen zur spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland. Köln [u.a.] 1994. Vgl. dazu auch Rezension von Birgit Studt in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 580-582.

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