Ist eine Arbeit, die keine konkreten Quellennachweise aufweist, im Rahmen einer Rezension für ein wissenschaftliches Fachjournal abzuhandeln? Nein, da hat sie im Prinzip nichts zu suchen. Ist eine Arbeit über eine zentrale Quelle, auf die sich jeder Hitler-Biograph seit 1945 bezogen hat, von der Forschung zur Kenntnis zu nehmen? Ja, in jedem Fall. Und das sogar, wenn diese Arbeit kein wissenschaftliches Format aufweist.
„Er war ein glühender Journalist, ein wahrer Genosse seiner Zeit, der es nicht aushielt, zu schweigen. Die Sprache war sein erstes und letztes Ausdrucksmittel – und die einzige Macht, über die er verfügte.“ (S. 273f.) Ohne Konrad Heidens Arbeiten über Hitler und die NSDAP könnte keine Hitler-Biographie geschrieben werden. Er war seit den Anfängen in München erster Beobachter, Analytiker und Kritiker der Hitler-Bewegung. Heiden hatte früh begriffen, dass er „in der Mitte des größten und verrücktesten Dramas der Weltgeschichte gestanden hatte: dem Aufstieg Adolf Hitlers von einem lokalen Clown zu einer Gefahr für die Welt“ (S. 340), so drückte Heiden es 1946 aus. Insofern ist es lobenswert, dass Stefan Aust die erreichbaren Archivalien ausgewertet und Konrad Heiden eine Biographie gewidmet hat.
Heiden war ein, wenn nicht der intimste Kenner der NSDAP und ihrer Führungsfiguren von 1920 an. Er war der erste Journalist, der das verbrecherische Potenzial bereits in den Anfangsjahren erkannte und es u.a. in der Frankfurter Zeitung sowie in der Vossischen Zeitung beschrieb. Ein scharfer Beobachter und Kritiker war er, um Objektivität und begründetes Urteil bemüht, mit intellektueller und emotionaler Distanz zum Objekt, aber nicht ohne klaren eigenen Standpunkt – fraglos selten auch heutzutage. Er analysierte klar die Melange von Hitlers Rhetorik, der Fakten, grob Falsches, Lügen und Verleumdungen zu effektvollen Reden amalgamierte, die das Gefühl, die Vorurteile und die Identität des Publikums ansprachen. Heute würde man das als „postfaktisch “ bezeichnen, doch den Begriff kannte Heiden noch nicht. Uneitel hielt er sich zurück, er war keiner, der sich über die Sache stellte. Heiden setzte sich genau damit auseinander, was die Nationalsozialisten so attraktiv machte – eine Auseinandersetzung, der sich die Mehrheit ihrer politischen Gegner auf der Linken durch pauschale Diffamierung („Faschisten“) entzog, während die Bürgerlichen die Nazi-Pöbler grotesk unterschätzten. Bereits 1932 veröffentlichte Heiden eine erste „Geschichte des Nationalsozialismus“ bei Rowohlt, 1933 schnell verboten und eingezogen. Die Gestapo notierte, Heidens Bücher seien „Hetzschriften übelster Sorte“, er habe „den deutschen Belangen einen ungeheuren Schaden zugefügt“, das Auswärtige Amt entzog ihm dann die Staatsbürgerschaft wegen eines Verstoßes „gegen die Treuepflicht gegenüber Volk und Reich“ (S. 254f.).
Umso erstaunlicher, dass die Forschung zwar intensiv Heidens Arbeiten auswertete, benutzte und zitierte, aber kein nennenswertes Interesse an ihm als einem mutigen und sprachgewandten Zeitgenossen und Gegner der Nazis entwickelte. Austs Verdienst ist es, „Hitlers ersten Feind“ wieder ins Licht gerückt zu haben und nebenbei auf eine Forschungslücke hinzuweisen, die ein echtes Versäumnis darstellt: Allein die Antwort auf die Frage, was ein aufmerksamer Beobachter mit Blick auf den Prozess einer Dekonstruktion der (Weimarer) Demokratie vom Kommenden bereits 1923 oder 1933 hatte erahnen, wissen oder befürchten können, ist der wissenschaftlichen Bemühungen wert. Zweifellos ist es einfacher und bequemer, die Hitler-Bewegung als eine machiavellistische Aktion aufzufassen, die quasi prinzipienlos, ihrer Macht um der Macht willen, mit grenzenloser Brutalität über Deutschland und Europa herfiel, oder sich gar auf so tendenziöse Darstellungen der NS-Frühgeschichte zu verlassen, wie sie vom NS-Apologeten Georg Franz-Willing veröffentlicht wurden.
Es ist bedauerlich und der Darstellung abträglich, dass Aust nicht einmal einen Bruchteil der Forschungsliteratur zum Thema heranzieht. So war der Münchener Publizist und Antisemit Dietrich Eckart nicht nur der Erfinder der Hitler-Legende, sondern vor allem der entscheidende Impulsgeber für dessen Antisemitismus. Seine zentrale Rolle hatte Heiden wohl erkannt, auch jene von Alfred Rosenberg. Er hat mehrere Biographien über Adolf Hitler veröffentlicht: 1935, überarbeitet 1936, 1937 ein Folgeband und 1944 eine vollständig neue Darstellung. Heiden analysierte diesen Antisemitismus und seine zentrale Rolle für Hitlers Denken mit jeder Publikation weiter. In der letzten, in den USA im Jahre 1944 erschienen, legte Heiden nicht nur die Haupteinflüsse und die Struktur des Hitler’schen Antisemitismus dar, sondern lieferte auch alle Ansatzpunkte der späteren Interpretationen des Nationalsozialismus in der historischen Forschung (die abseitige marxistische Tradition ausgenommen). Diese inhaltliche Entwicklung in Heidens Publikationen entgeht dem Autor weitgehend, was wohl u.a. auf den reduzierten Forschungshintergrund zurückzuführen ist. Aber auch vielen Historikern ist die letzte Biographie wenig bekannt. Die Ersteren sind auf Deutsch erschienen, da vermutete man vielleicht nur einen späten Aufguss auf Englisch – irrigerweise.
Heiden berichtete häufig über Reden Hitlers in seinen Schriften, allerdings lediglich anhand seiner Notizen, zumeist nicht mit den konkreten Daten. Da wäre es zum Mindesten lohnenswert gewesen, seine Berichte punktuell mit den edierten Hitler-Reden zu vergleichen. Auf dieser Grundlage könnte auch herausgearbeitet werden, nach welchen Kriterien Heiden die Reden Hitlers wahrnahm und darstellte – jenseits des Offensichtlichen. Auch die von Aust zitierte Kontroverse zwischen Konrad Heiden und Theodor Heuss (S. 179f.) könnte durch ein Heranziehen von Heuss’ Publikation „Hitlers Weg“ (1932) differenziert werden. Leicht würde deutlich, dass Heuss’ Bild des Nationalsozialismus zentrale blinde Flecken und Verharmlosungen aufwies – im Gegensatz zu den Darstellungen von Konrad Heiden. Heiden sah in den NS-Anhängern viele, die nach der Kriegserfahrung zu einem politischen Neuanfang mit der Sozialdemokratie bereit waren, aber von dieser enttäuscht wurden. Heuss sah im Nationalsozialismus eher den Versuch bürgerlicher Schichten, die bürgerliche Lebensweise zu verteidigen. Ein Vergleich zwischen Heuss und Heiden kann auch sehr deutlich zeigen, was ein aufmerksamer Zeitgenosse bereits sehen und verstehen konnte, wenn er wollte. Und warum weite Teile des deutschen Bürgertums so sehr überrascht waren über die seit dem Januar 1933 einsetzende Politik. Über deren schreckliche Folgen berichtete Heiden als einer der Ersten ausführlich und systematisch wie über den Reichstagsbrand, den Röhmputsch und den Novemberpogrom 1938. In diesem Bericht, 1939 publiziert, sagte Heiden voraus, dass Hitler die Juden durch Giftgas umbringen werde. Er kannte die NS-Propaganda, Hitlers Denken und „Mein Kampf“, worin Hitler schrieb, man hätte 1914 die „hebräischen Vaterlandsverräter“ vergasen sollen, um somit den Weltkrieg gewinnen zu können.1 Das war sicher prophetisch, doch Heiden war nicht der Erste, der diese Entwicklung voraussah. Es sei nur auf Irene Harand verwiesen, die bereits 1935 auf den Zusammenhang von Hitlers Antisemitismus und den Protokollen der Weisen von Zion hinwies und als Konsequenz eine „Vergiftung ganzer Bevölkerungsteile“ mit „schauerlichen Giftgasen“ sah.2 Es gab neben Heiden einige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die die sich ankündigende Entwicklung erkannten.
Heiden selbst kämpfte erst noch publizistisch im Saarland, in der Schweiz und in Paris; 1940 wurde er von Varian Fry in die USA geschleust. Dort hatte er einigen publizistischen Erfolg, bis er wegen einer Parkinsonkrankheit das Schreiben aufgeben musste. Eine Rückkehr nach Deutschland gelang nicht, obwohl er dazu bereit war. So starb Konrad Heiden 1966 nach langer Krankheit und zwei Gehirnoperationen, vergessen von Zeitgenossen und Nachwelt. Beschämend und bezeichnend ist die Dokumentation von Heidens Antragsverfahren zur Entschädigung als NS-Verfolgter, die ihm, den die Nazis als „Halbjuden“ einstuften, versagt wurde.
Das Buch von Stefan Aust ist ein Buch eines Journalisten über einen Journalisten, den die Forschung und das öffentliche Bewusstsein sträflich vernachlässigt haben. Heiden ist für Aust in vielerlei Hinsicht ein Vorbild, in der Genauigkeit seiner Beobachtungen, der Konsequenz seiner politischen und moralischen Urteile, seiner Sprachgewandtheit. Heiden war ein Vorbild auch in der Hinsicht, dass er konsequent an seinen demokratischen Idealen festhielt und mit großem Mut für das von ihm als richtig Erkannte kämpfte. Der Preis war hoch und Heiden akzeptierte dies ohne Larmoyanz.
Wir sollten Austs Buch als Plädoyer auffassen, nicht nur Forschungslücken zu schließen, sondern uns auch mit den kleinen Schriften antidemokratischer und menschenfeindlicher Aktivisten – und (frühen) Warnungen gegenüber solchen Tendenzen – zu befassen, mit den Anfängen politischer Entwicklungen, die im Kontext der (Weimarer) Demokratie bereits die destruktiven Entwicklungsperspektiven aufscheinen ließen – oder lassen. Heidens Schicksal zeigt aber auch, dass das Engagement einer Öffentlichkeit und einer Zivilgesellschaft gegen zunehmende Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft nicht ausreicht, ja letztlich wirkungslos ist, wenn staatliche Instanzen sich nicht auch aktiv an der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten beteiligen.
Anmerkungen:
1 Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. 2: Die nationalsozialistische Bewegung, München 1927, S. 344.
2 Irene Harand, „Sein Kampf“. Antwort an Hitler, Wien 1935, S. 337.