Nicht nur für Wissenschafts- und MedizinhistorikerInnen dürfte sich die Lektüre des Sammelbands Medizinisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis als anregend erweisen, wird mit dem praxeologischen Zugang zur Geschichte des medizinischen Gutachtens doch ein Perspektivwechsel vorgeschlagen, der etablierte Annahmen über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft in Frage zu stellen verhilft. Alexa Geisthövel und Volker Hess legen in ihrer programmatischen Einleitung allgemeine Überlegungen zur Begutachtung dar, die über die Medizingeschichte hinausweisen. Das „Gutachten“ wollen sie als nominalisiertes Verb verstanden wissen, als durch „Verfahrenslogiken“ (S. 25) bestimmte Praxis, die neben dem „Votum eines Sachverständigen“ auch dessen „Vorbereitung und Erstellung“ (S. 13) einschließt. Spezifisch sei dabei die Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern: Von externen Akteuren (etwa Gerichten) in Auftrag gegeben, ziele das Gutachten darauf ab, durch die Anwendung wissenschaftlichen Wissens auf den Einzelfall eine konkrete Entscheidung bzw. Handlung zu ermöglichen. Der Gutachter sei dabei gezwungen, sich dem Adressaten nicht nur formal (etwa sprachlich) anzunähern, er müsse auch die außerwissenschaftliche Logik des adressierten Handlungsfeldes aufgreifen. Keinesfalls dürfe das Gutachten als reine Anwendung wissenschaftlicher Expertise auf andere Gesellschaftsbereiche missverstanden werden. Ihren Ansatz grenzen Geisthövel und Hess von älterer Historiographie ab, die medizinische Gutachten einzig als Manifestation gesellschaftlicher Makroprozesse (Sozialdisziplinierung/Normalisierung, Medikalisierung, Professionalisierung, „Verwissenschaftlichung des Sozialen“) interpretiere. Der Aufsatz überzeugt und regt zu weiterführenden Fragen an. Wie etwa gestaltet sich das Verhältnis des Gutachtens zur Krankengeschichte, die ja ebenfalls auf den Einzelfall ausgerichtet ist?1 Welchen Beitrag leisteten Gutachten zur Konstitution medizinischen Wissens?
Unterschiedlich eng am einleitend skizzierten Ansatz orientiert, sind die Beiträge dann Fallstudien gewidmet, die hier exemplarisch diskutiert werden sollen. Sie sind drei systematischen Sektionen zugeordnet: „Gutachten für Gemeinwesen“, „Begutachtung von Sachen“ und „Gutachten vor Gericht“. Diese Kategorisierung stößt teilweise an ihre Grenzen, ist das Gemeinwesen doch auch Bezugspunkt der in den anderen Abschnitten erörterten Gutachten. Einer der dreizehn Beiträge, die sich fast ausschließlich mit dem deutschen Sprachraum befassen, ist im Mittelalter, drei sind in der Frühen Neuzeit, die restlichen neun im 19. und 20. Jahrhundert verortet. Für die in der Einleitung vertretene These, das medizinische Gutachten sei keineswegs spezifisch modern, sondern blicke auf eine lange Geschichte zurück, präsentiert der Band mithin nur wenige Beispiele. Die Verteilung der Beiträge scheint den traditionell konstatierten Bedeutungsgewinn des medizinischen Gutachtens in der Moderne zudem zu bestätigen.2
Auf die These starker Kontinuitätslinien heben insbesondere die Aufsätze Andrew J. Mendelsohns und Alexa Geisthövels in der Sektion „Gutachten für Gemeinwesen“ ab. Mendelsohn beschäftigt sich mit der mittelalterlichen Lepraschau, die er als „Urszene medizinischen Gutachtens“ verstanden wissen will. Darin, dass die Lepraschau mit ihrer Orientierung am Gemeinwohl nicht nur auf individuelle Gerechtigkeit für die Betroffenen abzielte, sondern diese dem kollektiven Interesse unterordnete, erkennt er eine Parallele zu eugenischen Gutachten des 20. Jahrhunderts. Ähnlich argumentiert Geisthövel in ihrem Beitrag zu Epilepsie-Gutachten im Nationalsozialismus. Anstatt die Begutachtung (vermeintlich) erbkranker Epileptiker zwecks Zwangssterilisation primär als Bruch mit der „am Wohl des einzelnen Patienten orientierten Behandlungsmedizin“ (S. 124) zu interpretieren, stellt sie die Kontinuität einer „seit Jahrhunderten praktizierten ärztlichen Gemeinwohlorientierung“ (S. 140) heraus. Denn schon lange vor den nationalsozialistischen Erbgesundheitsverfahren wägten ärztliche Sachverständige zwischen Gemeinwohl und Individualwohl ab, um trotz erheblicher wissenschaftlicher Unsicherheiten zu einem eindeutigen Votum zu kommen – etwa in sozialrechtlichen Kontexten. Nicht erst die Protagonisten der NS-Medizinverbrechen stellten das individuelle Wohl des Patienten also zur Disposition. Etwas aus dem Blick zu geraten scheint bei dieser einleuchtenden Argumentation jedoch die Exklusivität der rassistisch definierten Gemeinschaft – galt das Individualwohl jener, die als „Erbkranke“ nicht der Volksgemeinschaft zugerechnet wurden, überhaupt als relevant? Geisthövel betont in ihrem Aufsatz zudem zahlreiche „Querverbindungen“ zwischen eugenischen und sozialrechtlichen Begutachtungen (letztere untersuchen auch die Beiträge von Knoll-Jung und Lengwiler). Interessant wären darüber hinaus die Beziehungen zu zivilrechtlichen psychiatrischen Gutachten (insbesondere Entmündigungs- und Scheidungsgutachten) gewesen.
Saskia Klerks Aufsatz wendet sich im Abschnitt zur „Begutachtung von Sachen“ einem Vergleich der Begutachtung ein und desselben Geheimmittels gegen Nieren- und Blasensteine in London und Paris in den 1730er-Jahren zu. Bezog die Begutachtung in London die Presse- und Parlamentsöffentlichkeit ein, vollzog sie sich in Paris hinter geschlossenen Mauern und im Rahmen institutionalisierter „Regularien und Prozeduren der Akademie und ihrer Gilden“ (S. 183). Der politische Kontext bestimmte folglich Rahmen und Ergebnis der Begutachtung. Mit der Begutachtung von Geheimmitteln befasst sich auch Volkers Hess‘ Beitrag. Anhand der Zulassung eines Krebsheilmittels im Preußen der 1820er-Jahre setzt er sich mit dem Zusammenhang von Wissenschaft und Bürokratie auseinander. Der These einer bürokratischen „Herrschaft durch Wissen“ (Max Weber), in der sich der säkulare Prozess der Rationalisierung niederschlage, setzt er den Vorschlag entgegen, Bürokratie und Wissenschaft als „geronnene Praktiken“ (S. 218) auf der Mikroebene zu begreifen. Genau hier seien „Papiertechniken“ (S. 216) wie die tabellarischen Übersichten in den untersuchten Gutachten des Kultusministeriums zu verorten. Derartige Machttechniken seien der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Verwaltung mithin vorgeordnet, der von Weber behauptete Transfer von Wissen in den handelnden Bereich der Politik folglich unhaltbar. Auf Hess‘ Überlegungen geht der Aufsatz von Axel C. Hüntelmann nicht ein. Unter der Überschrift „Die Gutachten-Maschine“ setzt er sich mit Gutachten des Kaiserlichen bzw. Reichsgesundheitsamts über Fragen der öffentlichen Gesundheit zwischen 1870 und 1930 auseinander. Die massive Ausweitung der Produktion derartiger Gutachten beschreibt Hüntelmann ganz klassisch als Aspekt modern-staatlicher Bürokratisierung und greift dabei auch Lutz Raphaels in der Einleitung kritisierte These von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auf, ohne zur Kritik der HerausgeberInnen Stellung zu beziehen. Sein Beitrag rückt mit der Definition eines Sachverhalts als lösungsbedürftiges politisches Problem allerdings auch eine Funktion des Gutachtens in den Blick, die in den anderen Beiträgen wenig Beachtung findet. Anhand von Beispielen veranschaulicht er zudem den konkreten Ablauf der Begutachtung.
Die vier Beiträge des letzten Abschnitts beschäftigen sich mit „Gutachten vor Gericht“. So analysiert Urs Germann die narrativen Strukturen jenes Korpus gerichtspsychiatrischer Gutachten, das er bereits für seine Dissertation über „Psychiatrie und Strafjustiz“ in der Schweiz um 1900 verwendet hat. Überzeugend legt er dar, wie psychiatrische Gutachten die Biographien von Straftätern auf höchst selektive Weise zu einer determinierten narrativen Einheit, einer „plausiblen Geschichte“ verdichteten, die anschließende rechtliche Maßnahmen notwendig erscheinen ließ und so zur sukzessiven Ausweitung sozialer Kontrolle beitrug. Stark an Foucault orientiert erläutert Germann, dass diese deterministischen Narrative als Beleg für die (künftige) Gemeingefährlichkeit der Betroffenen fungierten. Erklärungsbedürftig erscheint mir, dass sich ähnliche narrative Strukturen auch in zivilrechtlichen Gutachten finden lassen, die die Frage der Gemeingefährlichkeit explizit ausklammerten. Die behördliche Nachfrage nach plausiblen Narrativen mit prognostischem Gehalt, so ist zu vermuten, reichte über den Kontext der Gemeingefährlichkeit hinaus, was als Hinweis auf einen umfassenderen Präventionsdiskurs gedeutet werden könnte.3 Über die von Germann fokussierte narrative Dimension hinausgehend hebt Stephanie Langer in ihrem Beitrag die „Plurimedialität“ (S. 315) rechtsmedizinischer Gutachten hervor. Als Beispiel für die Bündelung unterschiedlicher (schriftlicher, mündlicher und bildlicher) Medien betrachtet sie den Mordprozess gegen Philipp Halsmann in Innsbruck Ende der 1920er-Jahre. Dem „Medienverbund ‚Gutachten‘“ (S. 311) kam demnach insbesondere im Geschworenenprozess die Funktion zu, das Verbrechen anhand (vermeintlich) „unmittelbarer Evidenz“ (S. 312) zu veranschaulichen.
Durch den gemeinsamen praxeologischen Ansatz vermitteln die thematisch breit gestreuten Beiträge ein trotz unvermeidlicher Blindstellen kohärentes Bild unterschiedlicher Facetten der Geschichte des medizinischen Gutachtens. Dabei regen gerade jene Beiträge, die ihre Befunde auf umfassendere historische Makronarrative zu beziehen wagen, dazu an, das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu überdenken. So nährt der Befund, dass medizinische Gutachten keineswegs ohne Weiteres als Kronzeugen moderner Prozesse der Rationalisierung, Verwissenschaftlichung oder Medikalisierung gedeutet werden können, Zweifel an diesen Prozessen selbst.
Anmerkungen:
1 Eine zunehmende Einbindung von Gutachten in psychiatrische Krankenjournale um 1900 konstatiert etwa die Einleitung in Cornelius Borck/Armin Schäfer (Hrsg.), Das psychiatrische Aufschreibesystem, Paderborn 2015.
2 Für das Sozialversicherungswesen bedarf dies wohl keiner weiteren Erläuterung. Für die forensische Medizin, vgl. etwa Richard F. Wetzell, Psychiatry and Criminal Justice in Modern Germany, 1880–1933, in: Journal of European Studies 39, 3 (2009), S. 270–289, hier: S. 271.
3 Vgl. hierzu etwa Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1,1 (2008), S. 38–48.