Der vielzitierte Titel des von Eric Hobsbawm und Terence Ranger herausgegebenen Sammelbandes „The Invention of Tradition“ machte zu Beginn der 1980er-Jahre darauf aufmerksam, wie sehr die Wahrnehmung der Vergangenheit von unserer eigenen Gegenwart her und damit verbundenen rückwärtsgewandten Geschichtskonstruktionen und Geschichtsbildern geprägt ist. Mehr noch haben, anknüpfend an das von Pierre Nora herausgegebene Werk „Les Lieux de Mémoire“, sich die Historiker seitdem den vielfältigen Wechselwirkungen von persönlicher Erinnerung und kollektiven Erinnerungsgehalten zugewandt.1 Wenn es je nach einem der Leitmotive des Historismus um mehr gegangen sein sollte, als zu zeigen wie es eigentlich gewesen ist, so verdankt sich dies eben dieser Berücksichtigung von Imaginationen und Erzählungen als geschichtsprägenden Faktoren.
Es ist das Verdienst des von Stefan Krankenhagen, Kulturwissenschaftler an der Stiftung Universität Hildesheim und Viola Vahrson, Kunst- und Bildwissenschaftlerin an der Hochschule Düsseldorf, herausgegebenen Sammelbandes, diese grundsätzlichen Fragen aus der Perspektive der Kunst- und Medienwissenschaften zu diskutieren und dabei das Medium Ausstellung in den Blick zu nehmen. Angesichts eines Überangebots von Geschichte, vor allem etwa in den multimedialen Angeboten des Internet, so macht es der Herausgeber in seiner Einleitung deutlich, kann es künstlerisch-kuratorischen Praktiken gelingen, hier eine Auswahl zu treffen und Bedeutungszuweisungen vorzunehmen, kurz, den „ästhetischen An-Ordnungen der Vergangenheit“ nachzuspüren (S. 12). Der Band rekurriert dabei auf die kuratorische Praxis, Geschichte zu visualisieren und sich dabei unterschiedlichster Medien im Spektrum von Modellen, Bildern, Performances bis hin zu Filmen zu bedienen. Diese Überlegungen fügen sich damit in aktuelle Diskussionen seitens historischer Museen ein, etwa partizipative Konzepte oder Digital Storytelling in ihre Ausstellungen mit einzubeziehen.2
Das paradoxale Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit diskutiert Jens Kabisch in seinem einleitenden Beitrag über die museale Inszenierung US-amerikanischer Geschichte in Freilichtmuseen. So beschreibt er das von Henry Ford Ende der 1920er-Jahre nahe Detroit gegründete Greenfield Village als eine räumliche Vergegenwärtigung verschiedenster amerikanischer Bauepochen und als Collage unterschiedlichster Artefakte. Hingegen verdankt sich die Inszenierung des historischen Stadtkerns von Williamsburg als Colonial Williamsburg dem Wunsch, einen authentisch-historischen Ort der Frühgeschichte der USA zu schaffen. Schließlich dient der 1947 rekonstruierte Siedlungsplatz Plimouth Plantation der Erinnerung an die Pilgrim Fathers, wobei Darsteller in historischen Kostümen und im Sprachidiom des 17. Jahrhunderts das Bemühen um historische Authentizität auf die Spitze treiben. Stehen diese Rekonstruktionen für eine lebendige Geschichte am konkreten historischen Ort, so ist die Erinnerung an William F. Cody alias Buffalo Bill, wie Stefan Krankenhagen in seinem Beitrag ausführt, geprägt von medialen Inszenierungen in populären Bühnenshows und Groschenromanen. Aus dem Blick der Mediengeschichte kuratiert Cody sein eigenes Leben und wählt daraus all jene Elemente, die sein späteres Bild als Westernhelden ausmachen. In dieser Uneindeutigkeit von dramatischer Figur und historischem Ereignis sieht Krankenhagen das Wesen populärer Kultur, die in diesen Fiktionen auch künftige Geschichtsbilder vorwegnehmen kann.
In die Gegenwart kuratorischer Praxis führt Susanne Wernsing, die in ihrem Aufsatz ein an der Akademie der Bildenden Künste Wien entstandenes Ausstellungsprojekt zur Zeit- und Alltagsgeschichte der DDR vorstellt. Mit Hilfe von Modellen, die bestimmte Erinnerungsorte abbilden, entsteht im Ausstellungsraum eine für den Besucher begehbare Erinnerungslandschaft bzw. Erinnerungsskulptur, die mit den dort jeweils ausgestellten Filmen und Interviews von Zeitzeugen interagiert. So ruft diese Auswahl eine „Diskrepanz zwischen Orten normativer Geschichtsdeutung und gesellschaftlich getragenen Erinnerungsräumen“ (S. 51) hervor, der sich der Besucher in seinem Rundgang immer wieder aufs Neue aussetzt.
Dass es zumal künstlerische Positionen sind, die festgefügte Geschichtsbilder und -überlieferungen aufbrechen, zeigen vier weitere Beiträge, die sich mit dem Schweizer Medienkünstler Mats Staub beschäftigen. Staub, der in seinen Werken immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von persönlicher Erinnerung und allgemeiner Geschichte stellt, wird in seinen Videointerviews, wie Simone von Büren aufzeigt, zum Kurator eines „generationenübergreifenden Erinnerungsarchivs“ (S. 64), das aus der Fülle einzelner Lebensgeschichten bestimmte charakteristische Aspekte herausgreift. Die weitverbreitete Sehnsucht nach einer klaren und eindeutigen historischen Erzählung wird so unterlaufen. Etwa in Staubs Installation 21, in der sich seine Interviewpartner an ihren einundzwanzigsten Geburtstag erinnern und die Annemarie Matzke unter dem Aspekt einer Performance und Volker Wortmann im Kontext autobiographischer Dokumentarfilme untersuchen. Der Psychoanalytiker Werner Greve deutet, angesichts eines Verlusts klarer Identitäten und einer Vielzahl unterschiedlicher „Selbste“, Staubs Werk hingegen als ein Plädoyer, das Selbst als soziale Konstruktion zu begreifen. Die Stabilisierung des Selbst gelingt im Kunstprojekt, das gewissermaßen exemplarisch die eigene Biografie kuratiert.
Diese biografischen Konstruktionen lassen sich im weiteren Sinne auch auf das Internet und seine anonyme Gebrauchsfotografie übertragen. Torsten Scheid beschreibt das Ausstellungsprojekt „Editing the World“, das der dortigen Bilderflut durch automatisierte Verfahren und eine „künstlerisch-kuratorische Translokation“ (S. 103) gegenübertritt. Die Bilder, etwa Google Street-View-Ansichten, werden auf diese Weise einer Auswahl unterzogen, bearbeitet und verfremdet.
Die drei letzten Beträge des Bandes widmen sich performativen Aspekten kuratorischer Arbeit. Am Beispiel der Performancekünstlerin Marina Abramovic und ihrer 2010 am Museum of Modern Art in New York durchgeführten Performance „The Artist is Present“ problematisiert Mareike Herbstreit das Verhältnis von Performance und ihrer Dokumentation bzw. anschließenden Musealisierung. Sie macht deutlich, dass eine solche Historisierung eines ephemeren Ereignisses, eingebunden in ein Feld unterschiedlichster Medientechnologien, von Beginn an von Abramovic intendiert war. Um das Verhältnis zwischen dem Ereignis und seiner Aufzeichnung kreist auch Thomas Langes Beitrag über Jeremy Dellers Re-Enactment der Battle of Orgreave. Während des großen Bergarbeiterstreiks 1984 in Großbritannien war es in Orgreave zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Bergleuten und Polizeikräften gekommen. 2001 ließ Deller dieses Ereignis mit ehemaligen Beteiligten und Laiendarstellern am Ort nachstellen und vom Regisseur Mike Figgs filmisch dokumentieren. Lange macht deutlich, dass es sich hier nicht um ein Re-Enactment als historistisches und illusionistisches Spiel handelt, sondern um ein Ereignis mit klarem Gegenwartsbezug im Sinne von Vergeltung und Wiedergutmachung. Dass eine solche Vergegenwärtigung von Geschichte auf fragwürdige Weise misslingen kann, zeigt ein Videointerview, in dem der Künstler Artur Zmijewski einen ehemaligen Auschwitzgefangenen dazu nötigt, seine Gefangenennummer vor der Kamera nachtätowieren zu lassen. Der provokative Gestus dieser Aktion weist ins Leere, handelt es sich doch, wie Viola Vahrson in ihrem abschließenden Beitrag darlegt, um eine „Rhetorik, die Gewalt im Namen der Kunst zu legitimieren suche“ (S. 152).
So ermöglicht der künstlerische Blick auf die Vergangenheit eine Auswahl aus der Vielzahl überlieferter Geschichten. Doch wodurch unterscheidet sich diese von derjenigen, die eine methodisch orientierte Geschichtswissenschaft vornimmt? Die meisten der im Band vorgestellten Projekte sind Kunstprojekte, und es hätte sich meiner Meinung nach gelohnt, einen ergänzenden Blick auf historische Ausstellungen zu werfen und hier der Frage nachzugehen, wie der Fachhistoriker als Kurator von künstlerischen Interventionen profitieren kann. Auch sind die hier vorgestellten Projekte zumeist auf die Gegenwart und die Erfahrungshorizonte jetzt lebender Menschen bezogen. Doch wie lässt sich eine Vergangenheit im Medium der Kunst präsentieren, wenn statt lebendiger Stimmen und Bilder allein schriftliche Überlieferungen und stumme Artefakte als Zeugen der Vergangenheit vorliegen? Doch erweisen sich die hier versammelten Beiträge immer dann als höchst anregend, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen historisch-methodischer Betrachtung und künstlerisch-kuratorischer Arbeit diskutieren und damit der Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten einer Verlebendigung von Geschichte nachgehen.
Anmerkungen:
1 Eric Hobwbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983; Pierre Nora (Hrsg.), Les Lieux de Mémoire, 3 Bände, Paris 1984–1992.
2 Susanne Gesser u.a. (Hrsg.), Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 2012; Innovationsagentur Medien- und Kreativwirtschaft (Hrsg.), Open up! Museum. Wie sich Museen den neuen digitalen Herausforderungen stellen. Ein Leitfaden aus Baden-Württemberg, Stuttgart 2016, in: http://wissenschaftliche-sammlungen.de/files/3514/7195/5307/opm_inn_web_fin1108.pdf (26.02.2018).