Als Homer Simpson im Begriff ist, seinen Kindern Bart und Lisa eine Hiobsbotschaft hinsichtlich seines Gesundheitszustandes mitzuteilen, verweisen diese auf ihre Zugehörigkeit zur „MTV-Generation“ und ihre damit verbundene emotionale Unerschütterlichkeit. Grundsätzlich seien sie weder fröhlich noch traurig. Sichtlich irritiert fragt Homer nach, wie sich das anfühle, worauf Lisa gleichgültig mit den Schultern zuckt, das Gesicht verzieht und lediglich ein indifferentes „eh!“ hervorbringt.1
Die in dieser Szene parodierte „MTV-Generation“ firmiert außerhalb der Serien-Realität unter dem Begriff „Generation X“ und stellt einen zentralen Topos in der 2014 an der LMU München eingereichten Dissertation von Moritz Fink über die US-amerikanische Zeichentrickserie „The Simpsons“ dar. Aufgrund neuartiger Kulturtechniken wie zum Beispiel durch diskursive Interaktionen in Internetforen konnte diese Alterskohorte erstmals Einfluss auf TV-produzierte Popkultur ausüben; gleichzeitig griffen die Produzenten der Simpsons dieses Partizipations-Element gezielt auf, um eine Fernsehserie zu schreiben, die sich dezidiert an diese Zielgruppe richtete. Insofern konstatiert Fink in seinem Buch, dass die von einem subversiven Ethos inspirierten Simpsons in den vergangenen beiden Dekaden eine avantgardistische Rolle eines Paradigmenwechsels in der Medienproduktion von einer „consumer culture“ zu einer „convergence culture“ spielten und somit nicht nur zu einer viel ausgezeichneten popkulturellen Institution des Mainstreams, sondern auch zum Trendsetter für weitere satirische TV-Formate wurden (S. 1).
Bereits in der sehr detaillierten Einleitung erörtert Fink die im kulturtheoretischen Sinne nach dem „Bottom-up-Prinzip“ verlaufende Genese von TV-Popkultur, wonach die Fernsehzuschauer/innen nicht lediglich passiv eine Sendung konsumieren, sondern aktiv eigene Narrative – mitunter auch in diametralem Kontrast zu den hegemonialen Interpretationen – konstruieren und somit ihre eigene Fankulturen erschaffen (S. 10f.). Anschließend gliedert er seine Arbeit in drei thematische Teile à zwei Kapitel. Im ersten Abschnitt schildert er das Paradoxon, wonach der dem republikanischen Spektrum zugerechnete Fernsehsender FOX in einer ebenso stark konservativ geprägten Medienlandschaft Ende der 1980er-Jahren eine sozialkritische Zeichentrickserie für Erwachsene zur Primetime ausstrahlt, die schließlich in den frühen 2000er-Jahren zur weltweit meistgesehenen TV-Sendung avancierte. Fink identifiziert die Gründe für diesen Erfolg einerseits in der Dekonstruktion der als anachronistisch empfundenen Omnipräsenz des „American Dream“ in den Medien während der Präsidentschaft Reagans sowie das folgerichtige Thematisieren von realitätsnahen und sukzessive an Bedeutung gewinnenden Sujets wie beispielsweise die dysfunktionale Familie, häusliche Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum oder Homosexualität (S. 50). Andererseits attestiert er den Schöpfern der Simpsons eine logische Reaktion auf die Erwartungen der jungen, liberalen und urbanen „Generation X“ an das Qualitätsfernsehen: Aufgrund des bis dato beispielslosen Medienkonsums schreibt Fink dieser ersten echten „Fernsehgeneration“ eine sogenannte „Gen-X sensibility“ (S. 34) zu, die sich in erster Linie durch ein Faible für postmoderne Elemente wie beispielsweise Intertextualität, Metafiktionalität und Stilpluralismus kennzeichnet. Die Produzenten der Simpsons, darunter etliche Harvard-Absolventen, lieferten mit ihrem satirischen, selbstreferentiellen und selbstreflexiven Humor eine adäquate Zeichentrickserie für diese Zielgruppe und lösten somit in den 1990er-Jahren eine Renaissance des Cartoon-Genres aus.
Im zweiten Teil erfolgt eine Analyse der Simpsons nach ästhetischen und formalen Kriterien. Fink veranschaulicht dabei, wie die Show in einem stilistischen Dualismus zwischen (hyper-)realistischen Darstellungsformen à la Disney und surrealistischen Visualisierungen im Stile der Produktionen des Hanna-Barbera Animationsstudios wechselt. Einerseits hält die Serie am Realismus-Kodex fest, was sich zum Beispiel daran erkennen lässt, dass die Charaktere verwundbar und sterblich sind und sich trotz der karikaturesken Situationen, denen sie ausgesetzt sind, in der Regel wie Menschen verhalten (S. 77). Andererseits finden sich bei den Simpsons reichlich klassische, tradierte Cartoon-Elemente, die jedoch wie zum Beispiel in der fiktiven Binnen-Zeichentrickserie „Itchy and Scratchy“ – eine blutrünstige Parodie auf Tom und Jerry – oftmals ad absurdum geführt werden. Indem sich die Simpsons gleichermaßen mit dem Cartoon-Genre identifizieren als auch davon distanzieren, sprechen sie Zuschauer/innen auf verschiedenen Ebenen an: Nach dem Prinzip der sogenannten „double-coding“-Theorie schauen Kinder die Zeichentrickserie wegen ihrer unbedarften Cartoon-Ästhetik, Jugendliche und Erwachsene aufgrund der satirischen Komik und des polysemischen Potentials (S. 70). Da die Simpsons somit die Grenzen zwischen „Hoch-“ und „Populärkultur“ verwischen, wurden sie Fink zufolge im Synergismus mit der Medienversiertheit der „MTV-Generation“ zum Vorreiter eines „new age of television“ (S. 102), in dem das hierarchische Verhältnis zwischen Medien-Produzenten und -Konsument/innen dekonstruiert wird und erstere intertextuell auf Fandiskurse reagieren. Das beste Beispiel dafür ist der Charakter Comic Book Guy, der in seiner notorisch despektierlichen Manier und seiner mantrahaften Redewendung „worst episode ever!“ in der Fernsehserie ein Spiegelbild besonders kritischer Fandebatten im Internet darstellt (S. 112).
Im dritten und letzten Teil der Arbeit beleuchtet Fink dieses interaktiv-diskursive Verhältnis zwischen Medien-Produzenten und -Konsument/innen differenzierter. Während dieses zunächst recht problematischer Natur war, da 20th Century Fox als Urheberrechtsinhaber bei Rechtsverletzung wie beispielsweise dem Erstellen von Websites Fans rigoros mit Unterlassungsklagen drohte, erkannte die Filmproduktionsgesellschaft schließlich, dass die Fans durch ihre Aktivitäten und ihre Meinungsmacht durchaus zur weiteren Popularisierung des Medieninhaltes beitragen können. Fink stellt in diesem Kontext die These auf, dass die Simpsons eine Art textuelle Anleitung für eine aktive Partizipationskultur der Rezipient/innen mit den Medientexten lieferten (158f.), was Impulse für ein neues kulturelles Paradigma setzte, wonach sich aus den einstmaligen Konsument/innen sogenannte „Prosumenten“ – ein Kofferwort aus Konsument und Produzent – entwickelten. Im Verlauf der digitalen Revolution und der Verbreitung des im Vergleich zu den traditionellen Medien fundamental demokratischeren Internets entstanden sodann unzählige Paratexte – Parodien, Mashups und Remixes – auf diversen Internetplattformen, die die Simpsons stets weiter popularisierten.
Obgleich Fink detailgenau einzelne Exempel dieser Partizipationskultur untersucht, ist „Understanding the Simpsons“ insgesamt eine Publikation, die das Medienphänomen „The Simpsons“ aus einer Meta-Ebene kulturell zu analysieren versucht. Wer von dem Buch klassischen „Fan-Service“ erwartet, dürfte angesichts der in relativ überschaubarem Ausmaß erfolgten Auseinandersetzung mit konkreten Episoden und Szenen etwas enttäuscht sein; denn Fink schlägt bewusst nicht in die Kerbe zahlreicher (populär-)wissenschaftlicher Publikationen über die beliebtesten US-amerikanischen Fernsehsendungen wie zum Beispiel „The Simpsons and Philosophy“2, in denen die Charaktere der Serie durch ein philosophisches Brennglas forciert analysiert werden, weshalb diese Veröffentlichungen nicht selten sehr konstruiert wirken. Er untersucht die Simpsons hingegen bezüglich ihrer institutionellen Produktionsbedingungen, formaler Ästhetik und transmedialer Fan-Partizipationskultur und liefert dadurch ein durchaus holistisches Bild über die Entstehungs- und Entwicklungsprozesse der Serie. Die Stärken des Buches sind dabei eindeutig die Erklärungen zeitgenössischer Popkultur-Konzepte wie etwa „Cartoonalness“, „Popular Encoding“ oder „Convergence Culture“ am Beispiel der Simpsons. Zwar ist es auffällig, dass Fink zahlreiche Theorien des amerikanischen Medienwissenschaftlers Henry Jenkins – etwa zur „Participatory Culture“ – relativ unkritisch übernimmt; nichtsdestotrotz werden die Leser/innen nach Lektüre dieses Buches nicht nur die Simpsons, sondern die auch nach wie vor vom Fernsehen generierte zeitgenössische Popkultur besser verstehen.
Anmerkungen:
1 Die Simpsons, Staffel 4, Folge 11, „Oh Schmerz, das Herz!“ (dt. Erstausstrahlung: 03.07.1994).
2 William Irwin / Mark T. Conard / ), Aeon J. Skoble (Hrsg.), The Simpsons and Philosophy: The D’oh! of Homer, Chicago 2001.