Die immer stärker zu beobachtende Verschränkung der für sozial- und geisteswissenschaftliche Studiengänge und Forschungen so wichtigen unterschiedlichen Beobachtungswelten und ihrer Praktiken ist erfreulich: So erscheint es zwar als Plattitüde, dass in den Popular Music Studies wissenschaftliche Praxis mit Praktiken des Musizierens, Filmens, Schreibens, Vermarktens, Performens oder Produzierens in Verbindung gebracht werden sollte. Dies ist aber in der konkreten Umsetzung in Lehre und Forschung durchaus weiterhin eine Herausforderung, der sich berufsnahe Überlegungen wie die der Popular Music-, Media- oder Cultural Studies seit langem stellen. Ein Indikator für diese Inter- oder sogar Transdisziplinarität sind vor allem Studien und Qualifikationsarbeiten von Schnittstellen-Personen, die selbst zwischen diesen Bereichen praktizieren. Dies trifft auch im Fall der vorliegenden Dissertationsschrift von Martin Lilkendey zu, der als freier Producer beim Musikfernsehen sowie als Diskjockey tätig war.
Lilkendeys Genregeschichte reiht sich aus der Perspektive von „Kunstpraxis und Kunstwissenschaft mit den Schwerpunkten Musikvideo und Portraitfotografie“ (S. 2) in die mittlerweile auch im deutschsprachigen Wissenschaftsraum mannigfaltige Landschaft der Studien zu Musikvideos ein. Letztere werden sogleich definiert: „Ein Musikvideo ist ein Musikkurzfilm der Unterhaltungsindustrie, in dem ein populäres Musikstück filmisch narrativ, performativ oder assoziativ thematisiert und gleichzeitig hörbar wird“ (S. 24). Ich bevorzuge die Bezeichnung dieser Kurzfilme als „Musikclips“, da sie nach eigenen Gesetzen zwischen Musik- und Medienindustrien funktionieren und schon lange nicht mehr von der ursprünglichen analogen Videotechnik geprägt sind.1
Lilkendey steigt mit einer Einführung in das Thema ein, indem er zum Begriff des Musikvideos Erläuterungen zusammenfasst, eben jene Definition anbietet und dann – in der Forschungslogik etwas unvermittelt – drei Kurzanalysen sowie medientheoretische Bezüge herstellt. Letzteres erfolgt meines Erachtens auf einer gänzlich anderen Argumentations- und Beschreibungsebene. Anschließend erstreckt sich die Studie über ca. 120 Seiten als eine Art Geschichte des Musikvideos von der „Frühgeschichte“ (Kapitel 2), über „Musikkurzfilme nach 1930“ (Kapitel 3), zu den zentralen Kapiteln „Musikkurzfilme im Fernsehen“ (Kapitel 4) und „Musikkurzfilme im Internet“ (Kapitel 5), bevor schließlich eine Aufarbeitung und Zusammenfassung der Ergebnisse stattfindet (Kapitel 6). Ein sinnvoller Anhang mit Literaturverzeichnis (welches meines Erachtens zwingend in die Arbeit selbst gehört) und hilfreichen Registern rundet die Arbeit ab.
Die Studie lässt sich im Umfeld einer zu beobachtenden neuen Konjunktur für die Forschung zu Popmusikkurzfilmen zwischen Popular Music-, Media-, Cultural- und Film Studies sowie Soziologie einordnen. Hintergrund dieses Interesses ist, dass sich offenbar nach dem Verschwinden des herkömmlichen Musikfernsehens mit den sozialen Netzwerken, Do-it-Yourself-Kulturen und Selbstvermarktungsoptionen auf der Produktions- und Distributionsseite sowie vor allem mit den mobilen Technologien auf der Rezeptions-, Nutzungs- und Weiterverarbeitungsseite eine gänzlich neue Infrastruktur herausgebildet hat, die eben auch den Musikkurzfilm als Content braucht, und die neuer umfassender Analysen bedarf.
Lilkendeys Eingangsthese besagt, „dass Musikvideos auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken dürfen, die nahezu durchgängig historisch nachzuweisen ist, obwohl sie durch verschiedene Distributionseinheiten oder Medien wechseln und sowohl den Inhalt als auch die formale Technik der Zeit nutzen und offenbaren. Musikvideos spiegeln immer die populärste Musik der Zeit wider. Sie hatten und haben deshalb immer einen Markt, der bedient wird.“ (S. 9) Genau diesen Nachweis liefert der Autor zwar lesenswert, allerdings oftmals sehr unterschiedlich gewichtet und dementsprechend im Gesamteindruck fragmentarisch. Obwohl er den Musikclip als Bestandteil der Unterhaltungsindustrie fasst, untersucht er ihn leider nicht systematisch im Hinblick auf seine Konstitution als Werbevehikel. Zugleich wird die Unterhaltungsindustrie auch nicht ausführlicher sachlich, sozial und/oder zeitlich ausdifferenziert und eingeordnet. Ich würde diese sowohl als Medien-, Musik- oder Kunstindustrien immer im Plural sehen, um von den teilweise Jahrzehnte alten (deswegen freilich nicht gänzlich überholten) Diskussionen um Unterhaltungs- und Kulturindustrie loszukommen, zumal in einer eher knappen Studie.
Vielleicht ist der Autor deswegen auch nicht anzugreifen, da er ja primär historisierend-deskriptiv arbeitet. Aber auch dann erscheint manche Gewichtung etwas schwer nachvollziehbar, wie etwa die lediglich 13 Seiten zu den „USA“ (Kapitel 4.2), denen ca. 60 zum „Musikfernsehen in Europa“ gegenüberstehen (Kapitel 4.3). Schade ist insbesondere, dass die für den Musikclip so prägenden und ihn, seine Texte und Kontexte, seine Akteur/innen und Institutionen umwälzenden letzten zwanzig Jahre dann doch eher kurz abgehandelt werden. Das betrifft vor allem die Entwicklungen des etablierten Musikfernsehens2, dessen Verfall und die „Neuentdeckung“ des Clips zwischen Kunst und Werbung durch die Möglichkeiten der Internet-Plattformen und der günstigen Produktions- und Distributionstechnologien.
Ebenso knapp werden zu Beginn auf nur ca. drei Seiten medientheoretische Bezüge eher oberflächlich – und warum an dieser Stelle? – dargestellt. Eine ausführlichere Diskussion etwa des Medien-Begriffs hätte adäquat auf die Genrethematik hinführen und diese ertragreicher machen können. Auch die anschließenden drei Musikkurzfilmanalysen zu den Clips von „Heroes“ (David Bowie, 1977), „The Child“ (Alex Gopher, 1999) und „Star Escalator“ (Sensorama, 1998) wirken an dieser Stelle der Studie etwas überraschend, wenn auch sicherlich eher illustrativ gemeint. Lilkendey definiert dann Musikvideos folgendermaßen: „In den allermeisten Fällen ist das Musikvideo ein kurzer Ton-Film, selten ein Videofilm, der zeitlich durch die Dauer des dazugehörigen Musikstücks begrenzt ist.“ (S. 18) Er koppelt seine Erläuterungen folglich immer wieder an den Film. Dabei kommen Bezüge zum Werbeclip etwas zu kurz, zumal es scheint, als wolle Lilkendey eben gerade weg aus der häufig in diesen Analysen dominanten pejorativen Kunstfilm(wissenschafts)perspektive. Dann aber wäre ein Schritt in Richtung einer Clipgeschichte als Werbekurzfilmgeschichte nicht uninteressant gewesen.
Auch popmusikkulturelle Kontexte sowie Definitionen und Bedeutungen der hier fokussierten Genre-Geschichte hätten durchaus noch stärker beleuchtet und sinnvoll in diese Geschichte der Musikvideos einbezogen werden können, um den Ertrag der Studie für die Popular Music Studies oder Musikfilmwissenschaft klarzumachen. Im Feld der Popular Music Studies gibt es hilfreiche Studien zum schwierigen und komplexen Genre-Begriff etwa von Simon Frith3 oder Fabian Holt.4
Sicherlich gibt der Band einen guten ersten Überblick und seine Betonung des nicht explizit künstlerischen Blicks – etwa vom Experimentalfilm her – erscheint sehr nachvollziehbar. Musikclips können durchaus als Erfindung und Produkt eines Industriekomplexes zwischen Popmusik und Film gelesen werden. Dieses Dispositiv scheint viel klarer auf das Format (oder hier bei Lilkendey: Genre) des Musikclips eingewirkt zu haben als „nur“ der künstlerische Bereich. Das ist ausdrücklich nicht normativ gemeint und scheint als weiter zu analysierender Aspekt für die Geschichte der Musikindustrie auch in Deutschland lohnend zu sein.5
In der Zusammenfassung der Ergebnisse sieht Lilkendey seine eingangs aufgestellte Definition von Musikvideos bestätigt. Weiterhin konstatiert er: „In dieser Auseinandersetzung wurden neue Ansatzpunkte für die Medientheorie, Kunst- und Filmgeschichte gezeigt, die aber nicht ausgewertet oder verfolgt werden konnten, weil es in erster Linie um die historische Beschreibung eines Genres ging, das bis jetzt nicht hinreichend sorgfältig diskutiert wurde. Vielleicht war bislang eine befriedigende Analyse auch nicht möglich, weil sich das Genre bis heute ständig verändert und viele Aspekte zur Bestimmung des Musikkurzfilms von anderen Stellen verklärt wurden.“ (S. 159) Etwas mehr Mut und Muße zur Aufklärung wären hier eventuell erkenntnisreich gewesen, die resümierend genannte Herangehensweise einer „empirisch-deskriptiven Methode“ (ebd.) bleibt zumindest dem rezensierenden Leser etwas unklar.
Insgesamt liefert die Studie also einen guten ersten Einstieg vor allem in die Geschichte des Musikkurzfilms mit sinnvoller Nuancierung in Richtung Musik- und Filmindustrien. In einem zweiten Schritt wäre aus meiner Sicht eine konsequentere Entscheidung sinnvoll gewesen, entweder eine Geschichte oder eine Systematik oder ganz bestimmte Fallstudien zu liefern.
Anmerkungen:
1 Vgl. Christoph Jacke, Kontextuelle Kontingenz. Musikclips im wissenschaftlichen Umgang, in: Dietrich Helms / Thomas Phleps (Hrsg.), Clipped Differences. Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo, Beiträge zur Popularmusikforschung 31, Bielefeld 2003, S. 27–40, hier S. 27.
2 Siehe dazu auch Marcus S. Kleiner / Christoph Jacke, Auf der Suche nach Musik! Zur Bedeutung von populärer Musik bei MTV Germany und VIVA, in: Christofer Jost / Klaus Neumann-Braun / Daniel Klug / Axel Schmidt (Hrsg.), Die Bedeutung populärer Musik in audiovisuellen Formaten, Baden-Baden 2009, S. 145–173.
3 Simon Frith, Performing Rites. On the Value of Popular Music, Oxford 1996.
4 Fabian Holt, Genre in Popular Music, Chicago 2007.
5 Siehe dazu auch Klaus Nathaus, The history of the German popular music industry in the twentieth century, in: Michael Ahlers / Christoph Jacke (Hrsg.), Perspectives on German Popular Music. Ashgate Popular and Folk Music Series, London 2017, S. 247–252.