Das von Kate Merkel-Hess vorgelegte Buch „The Rural Modern. Reconstructing the Self and State in Republican China“ zeichnet ein faszinierendes Bild der konkurrierenden Visionen zur Einbindung der Landbevölkerung in den Aufbau eines modernen chinesischen Nationalstaates. Die chinesische Selbststärkungsbewegung hatte sich seit dem 19. Jahrhundert zunächst auf die urbanen Zentren Chinas konzentriert, doch ab den 1920er-Jahren zeigte sich, dass diese Reformbemühungen nicht die erhoffte Strahlkraft in die Peripherie hinein entwickeln konnten. Zu diesem Zeitpunkt war der Graben zwischen den urbanen Eliten sowie den Bauern und der ländlichen Führungsschicht so groß geworden, dass die Provinz zu einer gleichzeitig romantisierten und befremdlichen Projektionsfläche für die Reformvorhaben chinesischer und ausländischer Intellektueller werden konnte.
Die „ländliche Wiederaufbaubewegung“ – xiangcun jianshe yundong, von Merkel-Hess als „rural reconstruction movement“ übersetzt (S. 15) –, war bis zu den 1930er-Jahren ein eher lose gestricktes Bündnis von Reformern und Modellprojekten. Die Stärke des Buches liegt daher schon allein darin, dass Merkel-Hess sich der Herausforderung gestellt hat, die zum Teil widersprüchlichen chinesischen Diskurse zur Peripherie als alternatives Zentrum der Moderne zu rekonstruieren und in einen internationalen Kontext einzuordnen. Sie baut dabei auf eine Vielzahl von Biografien und Einzelstudien auf, erschließt aber auch eine große Zahl an bislang unbeachteten chinesischen und amerikanischen Quellen. So bietet dieses Buch, obwohl es eher als Überblicksdarstellung angelegt ist, doch tiefe Einblicke in die Niederungen eines mühsamen Ringens um verschiedene Visionen von ländlicher Moderne, die zwischen Forderungen nach regionaler Autonomie und dem Ausbau zentralstaatlicher Kontrolle oszillierten. Insgesamt geht es Merkel-Hess weniger darum zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“, als vielmehr darum, wie der ländliche Raum von den urbanen Eliten wahrgenommen und als Experimentallabor für soziologische Studien, genossenschaftliches Wirtschaften, Alphabetisierungskampagnen und derlei mehr Faszination ausübte (S. 17). Auch „The Rural Modern“ kann damit nicht die Schieflage der Forschung zur Republikzeit mit ihrem Fokus auf den Befindlichkeiten der Eliten ausgleichen, denn auch dieses Buch legt den Fokus auf die Modernitätsdiskurse der städtischen Oberschicht, während die Sicht der Landbevölkerung auf die aufoktroyierten Reformprogramme weitestgehend verborgen bleibt, obwohl Merkel-Hess sich sichtlich Mühe gegeben hat, deren Stimme trotz der schwierigen Quellenlage soweit möglich zu rekonstruieren.
Merkel-Hess argumentiert, dass im Gegensatz zu den auf die Zerschlagung ökonomischer Abhängigkeiten und Klassenstrukturen ausgerichteten Landreformen der Kommunisten, der ländliche Wiederaufbau zumindest in seiner Anfangsphase vor allem durch Bildungs- und Kulturarbeit einen Wandel einleiten und die Landbevölkerung zu modernen Staatsbürgern erziehen sollte. Erst mit der zunehmenden Vereinnahmung der Bewegung durch die Zentralregierung der Guomindang (Nationalisten) seien die Reformer in eine Position gekommen, in der sie nicht länger nur auf Überzeugungsarbeit setzten, sondern auch auf Sanktionen zurückgreifen konnten, um ihre Vision von Moderne gegebenenfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen (S. 112).
Das Buch folgt der Entwicklung der Reformbewegung chronologisch und beginnt im ersten Kapitel mit den Alphabetisierungskampagnen auf dem Land, den Wegbereitern der späteren ländlichen Modellprojekte (S. 26–28). In der von der ländlichen Reformbewegung vertretenen Vision eines chinesischen Nationalstaates, so Merkel-Hess, sollten die Reformer selbst proletarisiert (pingminhua) und damit ein Teil der lokalen Gemeinschaft werden. Moderne wurde damit nicht länger als die Summe von angeeignetem und angewandtem Wissen verstanden, sondern als eine Rekonfiguration der eigenen Identität (S. 56–57).
Trotz der Beteuerung, sich an die Landbevölkerung anpassen zu wollen, fiel es den Städtern nicht nur schwer, sich an die Entbehrungen des Landlebens zu gewöhnen, sondern sie konnten auch dem eignen Anspruch einer Interaktion auf Augenhöhe nicht gerecht werden, wie Merkel-Hess an Hand von Organigrammen demonstriert. Diese zeigen klar die zentralistische Herangehensweise der Reformer, die eine Diffusion der Moderne von oben nach unten anstrebten, anstatt sich wirklich auf eine Graswurzelbewegung einzulassen (S. 86). Das Leben sollte bis in das Privateste hinein einer klaren Struktur unterworfen werden und so widmet Merkel-Hess ein ganzes Unterkapitel den Theatergruppen, Teehäusern und ähnlichen, mit deren Hilfe jeder Staatsbürger auf das Projekt der Moderne eingeschworen werden sollte (S. 89–101).
Den ernüchternden Erfahrungen der Anfangszeit ist es wohl geschuldet, dass die führenden Köpfe der ländlichen Wiederaufbaubewegung die Angebote der Zentralregierung annahmen und ab den 1930er-Jahren nicht nur als Berater tätig wurden, sondern auch Regierungsverantwortung übernahmen. Die Regierung hoffte, durch eine Kooperation mit der Reformbewegung ein Gegengewicht zu dem Erstarken der Kommunisten und den Zentrifugalkräften der regionalen Autonomiebestrebungen setzen zu können (S. 111).
Laut Merkel-Hess veränderte die Anerkennung der Regierung die Selbstwahrnehmung der Gruppe und so wurde der Begriff „rural reconstruction movement“ von den Reformern auch erst ab 1933 verwendet (S. 142).
Die von Merkel-Hess beschriebene Form von „Entwicklungshilfe“, in der eine Gruppe nationaler und internationaler Philanthropen das Geschenk der Moderne an eine zivilisatorisch zurückgebliebene Lokalbevölkerung weitergeben wollte (gegebenenfalls auch mit Zwang), erinnert nicht zufällig an die europäisch-amerikanische Entwicklungshilfepolitik. So geht der letzte Teil des Buches auf die Rolle der amerikanischen Rockefeller Foundation ein, deren Einfluss mit der zunehmend schwierigen finanziellen Lage in China im Laufe der 1930er-Jahre stieg und so der Bewegung eine neue Ausrichtung gab. Gleichzeitig erhielt die chinesische ländliche Reformbewegung internationale Aufmerksamkeit und fand über Chinas Grenzen hinaus Nachahmer (145–147).
Insgesamt bleibt die Arbeit von Merkel-Hess in vielen Teilen holzschnitthaft, was weniger auf eine mangelnde Sorgfalt der Autorin zurückzuführen ist, sondern vielmehr darauf hinweist, welch große Lücken noch in der Forschung zu den Reformbewegungen der Republikzeit bestehen, die Merkel-Hess in ihrer Überblicksdarstellung unmöglich füllen konnte. Zu diesen Lücken zählen etwa eine genauere Ausleuchtung der Interaktion aber auch die Abgrenzung zwischen der chinesischen Volksbildungsbewegung („Mass Education Movement“), der Chinesischen Gesellschaft für Berufsbildung („Chinese Vocational Education Society“) sowie der ländlichen Wiederaufbaubewegung. Zudem wird immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen der chinesischen Vision einer im ländlichen Raum verwurzelten Moderne mit denen amerikanischer, indischer oder sowjetischer Vordenker verwiesen, doch wie genau zum Beispiel die chinesischen Modellprojekte in den USA rezipiert wurden (und vice versa) bleibt zukünftigen Forschungsarbeiten überlassen. Vage bleibt auch, welche Rolle die wiederholt erwähnten christlichen Organisationen in der Bewegung gespielt haben – dabei unterscheiden sich Visionen einer laizistischen Moderne doch sehr stark von denen einer christlichen Mission. Generell hätte Merkel-Hess sich noch ausführlicher mit den fast kolonial anmutenden Zügen der elitären Reformbewegung auseinandersetzen können, zum Beispiel mit Hinblick auf die Frage, welches Menschenbild den Reformen zugrunde lag.
Insgesamt ist dieses Buch ein wirkliches Grundlagenwerk für alle, die den intellektuellen Nährboden verstehen wollen, auf dem die kommunistische Partei mit ihren Landreformen aufbauen konnte und für alle, die sich für die Komplexität der Symbiosen und Konflikte zwischen Nichtregierungs-Gruppen und der Nationalregierung in der Republikzeit interessieren. Merkel-Hess lässt hier ein Kapitel der Republikzeit wiederauferstehen, das vom Glauben an die Erziehung der Landbevölkerung zum Träger der chinesischen Moderne kündet, der auch in den nächsten Generationen nachwirkte.