Cover
Titel
Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken


Autor(en)
Thiemeyer, Thomas
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
299 S., 13 s/w Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristiane Janeke, Tradicia History Service, Berlin

In Thomas Thiemeyers Buch geht es um die Ausstellung bzw. das Museum als Träger und Vermittler von Wissen, konkret um das „Depot als Erkenntnismethode“ (S. 252) oder auch „als epistemische Methode“ (S. 253). Damit positioniert sich der Autor im Diskurs der Wissenschaftsgeschichte. Enttäuscht werden also jene Leser/innen, die eine Analyse des Formats der Depotausstellung im Kontext der eher praxisorientierten „Museum Studies“, das heißt der Museumswissenschaft, Museologie oder Museumskunde erwarten. Thiemeyer schließt damit eine Lücke, die er selbst 2013 in seiner Rezension der Studie „Tabu Depot“ von Martina Griesser-Stermscheg beklagt hat, bei der er „eine Mentalitäts- oder Ideengeschichte der Sammlungs- und Speicherideologien und -praktiken“ im Kontext des „Archivdiskurses mit seinen Bezügen zu Psychoanalyse, Herrschafts- und Speichertechniken“ vermisste.1

Die Abhandlung gliedert sich in vier vom Autor in der Einleitung umrissene Teile: „empirische Grundlage“, „Ideengeschichte“, „analytische Perspektiven“ und „Conclusio [zur] Frage nach den Versprechen des Depots für die Museen der Gegenwart“ (S. 15f.). Konkret geht es dabei um (1) die Darstellung verschiedener Depotausstellungen in vier Museen im deutschsprachigen Raum (Österreichisches Museum für Kunst und Industrie in Wien, Übersee-Museum in Bremen, Deutsches Literaturarchiv in Marbach, Deutscher Werkbund in Berlin), (2) eine Analyse von „intellektuellen Impulsgebern“ für Depotausstellungen („das linke Denken und die Neue Kulturpolitik der 1970er Jahre, die Krise der Repräsentation, die Wiederentdeckung der materiellen Kultur und [ein] neuer Archiv-, Sammlungs- und Wissensdiskurs“ (S. 179)), (3) aus „Konventionen des Zeigens“ und „expositorischen Praktiken“ (S. 212) abgeleitete Ausführungen zu den Objekten in ihrer Zuschreibung als Werk, Exemplar oder Zeuge sowie, im selben Abschnitt, Gedanken zu den Unterschieden zwischen Depot- und Ausstellungsräumen und den darin begründeten „Statuswechsel“ der Dinge von Archivalien zu Exponaten sowie schließlich (4) ein Resümee zum „Depot als politische Utopie, als epistemische Methode und als geheimnisvoller Ort“ (S. 249).

Abweichend von diesem Überblick finden sich im Inhaltsverzeichnis allerdings sechs gleichwertig ausgewiesene Kapitel: Vorangestellt ist ein Abriss der historischen Entwicklung (Stichworte sind die Wunderkammer, die Entstehung von Sammlungsstrukturen infolge der Französischen Revolution und die Trennung von Ausstellung und Sammlung sowie die Entwicklung von Schaudepots in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts), und die beiden Unterthemen im dritten Abschnitt sind getrennt und gleichwertig ausgewiesen. Ärgerlich ist das vielleicht nur für Pedanten, verwirrend ist es aber für alle Leser/innen, zumal der Autor zudem noch eine duale Struktur des Buches benennt: „Zwei Fragekomplexe – ein epistemischer und ein politischer – bilden sein Zentrum.“ (S. 13) Diese Unstimmigkeiten in der Gliederung ziehen sich durch den gesamten Text, bringen häufige Redundanzen mit sich und führen zu Wiederholungen von Ideen und Thesen in jeweils anderen logischen und kausalen Zusammenhängen oder unter einer anderen Überschrift. Im Ergebnis ist die Argumentation nicht immer schlüssig und zentrale Aussagen verlieren sich in der mit insgesamt 715 Fußnoten versehenen Arbeit.

Stark ist die Studie bei den Fallbespielen, die die Hälfte des Buches ausmachen, selten bekommt man einen ebenso detaillierten wie fundiert recherchierten Einblick in die individuelle Sammlungsgeschichte der Häuser und ihrer Motive für die jeweilige Ausstellungspolitik, zumal vier verschiedene Museumstypen und Sammlungsarten untersucht werden. Stilistisch wie inhaltlich effektvoll ist die Auswahl je eines Exponats bzw. einer Exponatgruppe, die in der Beschreibung wandelnder Ausstellungskonzeptionen immer wieder auftauchen. Pointiert und sachverständig sind auch die Abschnitte zu den „Dingen“ (Objekten) und Räumen. Es sind diese Passagen, die von der zugleich praktischen Ausstellungserfahrung und wissenschaftlichen Expertise des Autors profitieren, eine in diesem Forschungsfeld eher seltenen Kombination.

Dagegen fallen die Ausführungen zur Entwicklung des Ausstellungswesens und der Schluss ab. Erstere, weil sie wenig Neues bieten, also kulturpolitische sowie soziale Entwicklungen und Diskussionen wiedergeben, die bekannt sind, der Schluss, weil er inhaltlich nicht über die vorherigen Teile hinausgeht und sogar die zuvor affirmativ aufrechterhaltene Differenzierung zwischen Depot- und Sonderausstellungen wieder verwischt: Viele der hier als Chancen und Erwartungen an Depotausstellungen formulierten Schlussfolgerungen gelten ebenso für andere Ausstellungsformate, sofern diese reflektiert und konzeptionell fundiert realisiert werden. Es ist diese Unschärfe, die insbesondere professionelle und verantwortungsbewusste Kurator/innen beklagen werden, die die von ihnen ausgewählten Objekte ebenso ernst nehmen wie den verfügbaren Raum und ihre Besucher.

Ebendiese spielen praktisch keine Rolle, die Lektüre jedoch macht deutlich, dass eine Museums-, Sammlungs- oder Ausstellungsanalyse den Rezipienten zwar methodisch, nicht aber aus den Beobachtungen und Ergebnissen des Untersuchungsgegenstandes ausschließen kann, ohne im luftleeren Raum zu bleiben. Auch wenn der Fokus auf „Institutionen und Kuratoren“ (S. 14) liegt, können diese nicht frei von den Erwartungen der Besucher/innen und ihren Reaktionen betrachtet werden. Dies belegen wiederkehrende Hinweise auf kuratorische Entscheidungen als Konsequenzen beabsichtigter oder unbeabsichtigter Wirkungen auf die Besucher/innen (S. 35, 43 in der historischen Rückschau, S. 101, 112, 114f. für das Übersee-Museum in Bremen, S. 136, 138f., für das Literaturarchiv in Marbach, S. 174f., 178 für das Werkbundarchiv). Nicht nur an diesen Stellen hätte es den Ausführungen gutgetan, darauf näher einzugehen.

Diese Schwerpunktsetzung unterstreicht noch einmal das ausschließliche Verständnis des Museums als Institution der Wissensvermittlung. Das ist es zweifellos, aber eben nicht nur. Was zu kurz kommt, sind neben Ergebnissen der Besucherforschung Fragen der Gestaltung und sinnlichen Vermittlung. Der Verweis auf die Rezeption der Theorien zur Aisthesis (S. 197) im Museumsdiskurs und die äußerliche Beschreibung von Ausstellungsräumen in den Portraits ist nicht hinreichend. Es fehlt das Gefühl [sic!] für diesen Erkenntnismodus und seine Besonderheiten, wie der Titel des entsprechenden Abschnitts „Die Logik der Räume“ (S. 234–248), die viel zu geringe Zahl an Abbildungen und das Fehlen von Raumplänen der besprochenen Ausstellungen unterstreichen.

Eine Einschränkung hat der Autor auch mit dem Fokus auf den deutschsprachigen Raum vorgenommen, dies allerdings zum Vorteil. Er tut dies zum einen mit der Auswahl der Museen, zum anderen mit dem politischen und gesellschaftlichen Kontext, vor dem er die gegenwärtigen Depotausstellungen profiliert. Auf diese Weise kann er das Feld in der Tiefe ausleuchten, zumal das Literaturarchiv und der Werkbund zusätzliche Aspekte einbringen. Mit Marbach wird das Archiv mit seinen vom Museum abweichenden Kriterien von Provenienz, Ordnung und Gattung einbezogen; der Werkbund öffnet das Panorama jenseits der Hochkultur. Die Rückschau auf frühere Schaudepots in den USA, Kanada und anderen europäischen Museen lassen die „Eigenheiten […] einer für den deutschsprachigen Raum spezifischen Gemengelage“ (S. 205) umso klarer hervortreten. Dennoch wäre gerade am Schluss die Betrachtung weiterer aktueller europäischer Varianten von Depotausstellungen interessant gewesen. Das 2010 eröffnete Depot der Eremitage in St. Petersburg, um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen, zeigt etwa, dass nicht nur „Museen, deren Sammlungen problematisch geworden waren“ (S. 12) mit diesem Ausstellungsformat experimentieren. Auch kann hier keine Rede davon sein, dass das Depot „die dunkle Seite des Museums“ (S. 11) ist, vielmehr öffnet sich das Museum gerade hier mit einem Blick hinter die Kulissen, indem es Schaudepots mit offenen Restaurierungswerkstätten und Bildungsprogrammen verbindet.

In ihrer Gesamtheit fordert diese zweifellos wichtige und eindrucksvolle Studie in ihrer Fokussierung zu einer breiter angelegten Diskussion heraus, um zu einem vertieften Verständnis der Institution Museum, des Mediums der Ausstellung, der Sammlung und des Objekts zu kommen. Dafür bietet sie zahlreiche Anknüpfungspunkte, zu denen auch so aktuelle Themen des Museumsdiskurses gehören wie der Umgang mit dem kolonialen Erbe in den Sammlungen, das Abbilden der Zeitgeschichte im Museum, Partizipationsmöglichkeiten für die Besucher oder die Digitalisierung und Vernetzung der Bestände.

Anmerkung:
1 Thomas Thiemeyer, Rezension zu: Bettina Habsburg-Lothringen (Hrsg.), Dauerausstellungen. Schlaglichter auf ein Format, Bielefeld 2012 / Martina Griesser-Stermscheg, Tabu Depot. Das Museumsdepot in Geschichte und Gegenwart, Wien 2013, in: H-Soz-Kult, 26.11.2013, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19779> (14.08.2018).