Über Galizien, das größte österreichische Kronland und seine prekären wirtschaftlichen Verhältnisse ist viel geschrieben worden. Der Schwerpunkt lag zumeist auf dem von nationalen, konfessionellen und sozioökonomischen Spannungen geprägten gesellschaftlichen Zusammenleben der verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen. Durch einen solchen auf innere Zustände gerichteten Fokus blieben die Motive und Auswirkungen imperialer Politik eher im Hintergrund. Derart ausgeblendet oder nur punktuell zur Illustration herangezogen, dienten äußere Faktoren in den früheren Schriften polnischer, ukrainischer und sowjetischer Autoren oft als Folie für einen Benachteiligungsdiskurs, dessen Ausgangspunkt in den Teilungen der polnischen Adelsrepublik gesucht wurde.
Im Gegensatz dazu widmet sich Klemens Kaps dezidiert der überregionalen Verflechtung von räumlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Veränderungen, er bindet Galizien in zentraleuropäische Wirtschaftszusammenhänge ein. Dabei gelingt es ihm überzeugend die Rolle der Region „als Absatzmarkt für Fertigwaren“ und zugleich als „Rohstoff- und Nahrungsmittellieferant“ (S. 442) darzustellen, was er mit dem Bestreben nach Unterordnung der territorial neu zugeordneten Gebiete unter die Interessen der „politischen und wirtschaftlichen Zentralräume“ (S. 451) Österreichs und Böhmens erklärt.
In seinen einleitenden Überlegungen resümiert Kaps den Weg der Forschung von Stanisław Szczepanowskis 1888 geprägtem Diktum eines „galizischen Elends“ über die von globalisierungstheoretischen Annahmen ausgehende Relativierung des Rückständigkeits- und Elendsdiskurses bis hin zu der These einer trotz vorhandener Modernisierungsdefizite spürbaren Binnenmarkt-Konvergenz. Anders als David F. Good, der in den 1980er-Jahren Galizien und die Bukowina von diesem Trend ausgenommen hatte, verwies Thomas David 2009 auf die etatistischen Steuerungsversuche.1 Letzterer stellte damit den Automatismus von wachsender Verflechtung auf den sich herausbildenden Märkten („erste Globalisierung“) und Konvergenz in Frage. Kaps folgt diesem Hinweis und widerlegt einerseits die verbreitete Meinung „einer nur losen Einbindung Galiziens in die habsburgische Arbeitsteilung“ (S. 449); andererseits zeichnet er nach, wie entwicklungsperspektivische Überlegungen zum Wandel der überregionalen Verflechtung der Monarchie in einen „semiperipheren Wirtschaftsraum“ die galizische Ökonomie mit wachsender Konkurrenz auf dem Binnenmarkt konfrontierten. Dies wiederum stimulierte die Suche nach Absatzmärkten jenseits der Grenzen, so dass sich der Status der Region schließlich als „multiple Peripherie“ (S. 165) beschreiben lässt.
Zu diesem Ergebnis kommt Kaps auf zwei Wegen, die den Aufbau seiner Untersuchung bestimmen: In Teil A werden die einzelnen Phasen der nach 1772 einsetzenden Desintegration des vor allem auf den Ostsee-Handel (Danzig) und das Osmanische Reich ausgerichteten Wirtschaftsraums materialreich dargestellt. Als Ausgangspunkt dienen Emanuel Wallersteins Zentrum-Peripherie-Konzeption und die von polnischen Historikern ausgearbeitete (mittlerweile relativierte) Auffassung von Polen-Litauen als innereuropäischer Modellperipherie. Im Scheitern diverser Regulierungsversuche der Hofkanzlei nach 1852 und der teilweisen Reintegration in überkommene Handelsbeziehungen zeigte sich das Weiterwirken „traditionelle(r), frühneuzeitliche(r) Austauschverhältnisse“ (S. 326), was deren Anschlussfähigkeit an Kompensationsversuche lokaler wie zentraler Behörden begründete. Festzuhalten aber bleibt, dass Galizien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und dann in der Phase des auf den Kameralismus folgenden Wirtschaftsliberalismus (1852 und 1862) besonders mit dem Ausland verflochten war. Markant ausgeweitet wurden die „Kontakte mit den Märkten innerhalb der Habsburgermonarchie“ durch die Eisenbahn „ab den 1860er Jahren“ (S. 138). Hier werden die aus der Konkurrenz bzw. aus der „Rückkehr zum Außenhandelsprotektionismus“ (S. 371) um 1878/79 folgenden Verwerfungen ebenso sichtbar wie die entwicklungshemmende Rolle permanenter Kapitalknappheit, die Modernisierungsinvestitionen behinderte.
Der als Longue-dureé-Studie angelegte Längsschnitt reicht von der gescheiterten Transformation des gutswirtschaftlichen Agrarsektors über die fehlgeschlagene Protoindustrialisierung bis zur Einbindung Galiziens in die überregionale Arbeitsteilung nach dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Untersuchung ist sowohl chronologisch als auch nach Produktions- und Austauschsphären gegliedert. Zwar werden so die Einbrüche im Produktionsniveau oder im überregionalen Handel sichtbar und es lassen sich die je nach Konjunkturverlauf bzw. politischer Weichenstellung erfolgten Verschiebungen innerhalb der einzelnen Sektoren nachverfolgen – der Übersichtlichkeit dient das jedoch nicht. Bei der Lektüre muss man ständig aufs Neue in unterschiedlichen Bereichen (von der Kornausfuhr über die Textilproduktion bis zum Fertigwarenimport oder den Reallöhnen etc.) den gesamten Zeitraum im Blick behalten. Man wird mit divergierendem statistischen Material und den „engen Grenzen“ konfrontiert, die dem interregionalen Vergleich beispielsweise durch das Fehlen von „Verbraucherpreisindizes, Lebensstandard und Reallöhnen“ (S. 77) gesetzt sind.
Solche methodischen Probleme werden von Kaps diskutiert; unterschiedliche Herangehensweisen, Erhebungsmethoden und Bewertungsmaßstäbe (Geldumrechnungswerte / Mengenangaben) reflektiert er kritisch und stellt die eigene Methodik dar. Das ist verdienstvoll, werden so doch verstreute Datensätze zusammen- und einer einheitlichen Interpretation zur Verfügung gestellt. Dabei bleibt es aber irritierend einerseits von Unternehmen auf adeligen Gütern zu lesen, die 1803 „nicht registriert wurden, da sie den Kriterien für Manufakturen nicht entsprachen, es aber andererseits dafür keine „klaren Regeln“ gegeben habe, „weshalb die Zahlen deutlich zu hoch sind“ (S. 113). Galiziens Anteil an der Fabrikdichte betrug um 1790 9,7 Prozent, sank aber bis 1808 auf 3,4 Prozent, weil jetzt nur noch 11 Betriebe übrig waren. Kaps erklärt dazu: „Insgesamt erscheint der Wert für 1808 zu niedrig, da wichtige Unternehmen wie die Tuchfabrik in Winniki bei Lemberg oder die Porzellan- und Steingutfabrik auf den Gütern der Grafen Zamoyski in Zamość ausgeblendet bleiben.“ (S. 113) An dieser Stelle zeigen sich jene Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man statistische Materialien durch Informationen aus anderen Quellen ergänzt.
Wer an wirtschaftshistorischen Details nicht allzu interessiert ist, wird den „Querschnitte“ überschriebenen Teil B mit großem Gewinn lesen. Kaps behandelt hier „Akteure“ und „Institutionen“ sowie die vermittelnden und auf widersprüchliche Weise handlungsleitenden „Diskurse“ (S. 203). Deutlich herausgearbeitet werden die auf der Suche nach Ersatzräumen etablierten neuen Handelsbeziehungen ins Innere der Monarchie sowie die vom Konkurrenzdruck ausgelösten Verdrängungstendenzen. Signifikant für das downgrading der Region sind nach Kaps insbesondere die neuen Muster der Eisen- und Textilproduktion. Der Bezug von Rohstoffen und Halbprodukten zur Fertigung von Metallwaren für den lokalen Markt wurde durch den Import und Absatz von Fertigprodukten ersetzt. Das betraf ebenso den Konsum von Luxusgütern und Gebrauchswaren. Im Bereich der Textilproduktion kam es zwar nicht zur Verdrängung, mit dem Verlagssystem und den Manufakturen veränderten sich aber die „räumliche(n) Muster der Textilerzeugung“ (S. 288).
Nach der Aufhebung der Untertänigkeit (1848) förderte die Grundentlastung zunächst die Heimarbeit, jedoch führte die Konkurrenz stärker mechanisierter schlesischer (Teschener Gebiet) und böhmischer Textilbetriebe zur „Herstellung einfacher Leinenstoffe, die mittels Hausiererhändler/innen abseits der Städte in Zentral- und Ostgalizien sowie der europäischen Türkei verkauft wurden“ (S. 368). Solche Verschiebungen der Absatzwege wie der qualitativen Struktur zeigt Kaps anhand diverser Produktgruppen (Getreide, Salz, Schnaps, Zucker, Erdölprodukte usw.) und es gelingt ihm nun anschaulich und nachvollziehbar, die aus den veränderten wirtschaftlichen Entwicklungen sich ergebenden sozialen Verwerfungen zu identifizieren. Eine einfache Umstellung der beiden Teile hätte dem Buch vielleicht gutgetan.
Teil B ist ausgehend von der „Primärperipherisierung Galiziens (1772–1830)“ in drei Abschnitte gegliedert. Über die krisenhafte „Mittelphase (1830–1873)“ führt der Weg zur „moderne(n) Rohstoff- und Agrarperipherie (1873–1914)“. Quasi nebenbei werden Erklärungsmuster dekonstruiert, „die soziale Verhältnisse ökonomisch weniger entwickelter Regionen durch die Brille kultureller Stereotype und ethnischer Kodes deuten“ (S. 25). So zeigte sich der Konflikt zwischen Adel und deutsch- tschechischen Beamten u.a. am „Sklavereinarrativ“, das „Despotismus“ zur Leitkategorie bürgerlicher Kritik an der „polnischen Leibeigenschaft“ (S. 217) erhob. Auf der anderen Seite wehrten sich galizische Grundherren mit Zuschreibungen wie „Trägheit“ und „Faulheit“ gegen die Entlassung ihrer Untertanen in die Selbstständigkeit. Ähnlich dekodiert Kaps den „Schmutzdiskurs“ (S. 226) als Symptom des Mangels an Know-How, da die anderswo zur Düngung verwendeten tierischen Exkremente in Galizien noch ungenutzt auf den Wegen herumlagen.
Überzeugend werden in der hier anzuzeigenden Monographie auch die ethnischen Segregationstendenzen erklärt, die zu Antisemitismus wie nationalistischen Differenzen zwischen der polnischen und ukrainischen Landbevölkerung führten. Hier wird das Potential einer verschränkten sozioökonomischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise besonders deutlich. So führten die Eisenbahnen zum Verschwinden ganzer Berufs- und Wirtschaftszweige wie des Schank- und Gasthausgewerbes, das ihre Hauptkundschaft, die Fuhrleute, verlor. Besonders Juden mussten jetzt im „Dorfgehen“ (S. 356) einen neuen Lebensunterhalt suchen. Erneut wird das downgrading der Textilindustrie sichtbar, da die einheimischen Waren nun abseits der großen Verkehrswege an die Landbevölkerung verhökert werden mussten. Jüdische Zwischenkaufleute wurden zu „VermittlerInnen zwischen den bäuerlichen ProduzentInnen der Peripherie und den Zielmärkten in den Zentralräumen“ (ebd.). Das erklärt antisemitische Ressentiments ebenso wie das plötzliche massenhafte Auftreten des typisch galizischen jüdischen „Luftmenschen“.2
Hervorgehoben sei, dass Kaps’ Ausführungen zu den Interessenkonflikten zwischen den lokalen bürgerlichen bzw. sich verbürgerlichenden Wirtschaftseliten und den um 1900 im Wiener „Polenklub“ einflussreichen galizischen Vertretern einsichtig machen, wie die verweigerte Selbstbestimmung wirtschaftlicher Entwicklung im Übergang zum „organisierten Kapitalismus“ (S. 371–373) ganz folgerichtig Unabhängigkeitsbestrebungen nach sich zog. Aufgrund der „multikulturellen Verfasstheit der galizischen Gesellschaft“ verstärkten wirtschaftliche Probleme auch die „nationale und ethnische Polarisierung“ (S. 449) zwischen Ukrainern und Polen, die das galizische Territorium allein für sich reklamierten. Klemens Kaps hat einen wichtigen Beitrag auch zum Verständnis des im Rückblick scheinbar nahtlosen Aufgehens Galiziens in das wiedererstandene Polen gleistet. In gewisser Weise scheint die von ihm behandelte Geschichte bis heute nachzuwirken.
Anmerkungen:
1 David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750–1914, Wien 1986; Thomas David, Nationalisme économique et industrialisation. L'expérience des pays d'Europe de l'Est (1789–1939), Genève 2009.
2 Vgl. Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008; 2. durchgesehene Aufl. 2014.