J. Adam u.a. (Hrsg.): Europa dezentrieren

Cover
Titel
Europa dezentrieren. Globale Verflechtungen neu denken


Herausgeber
Adam, Jens; Römhild, Regina; Bojadzijev, Manuela; Knecht, Michi; Lewicki, Pawel; Polat, Nurhak; Spiekermann, Rika
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Streinzer, Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main / School of Humanities and Social Sciences, Universität St. Gallen; Veronika Siegl, Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln / Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien

Im April 2021 verkündete die ungarische Regierung, den Bau einer chinesischen Elite-Universität in Budapest zu unterstützen – etwa zwei Jahre nachdem Premier Orbán einen Teil der renommierten Central European University aus dem Land gedrängt hatte, weil er das für den Betrieb der Universität notwendige Regierungsabkommen mit dem US-Bundestaat New York nicht unterzeichnen wollte. Ob der Campus der Fudan-Universität tatsächlich im Süden der Hauptstadt entsteht, bleibt abzuwarten. Die Veränderungen in der universitären Landschaft Ungarns unter der nationalistischen Regierung können jedoch als eines der jüngsten Beispiele für die Krise (EU-)Europas interpretiert werden, die – laut den Herausgeber:innen des vorliegenden Sammelbandes – mit einer globalen „geo- und machtpolitischen Neuausrichtung“ (S. 11) Hand in Hand gehen. Die Umwälzungen reflektieren auch die Fragilität des Konstruktes „Europa“, dessen Grenzen immer wieder durch Ein- und Ausschlüsse umkämpft sind und hinterfragt werden können.

Genau bei dieser Fragilität setzt das Buch „Europa dezentrieren“ an. Das dahinterstehende Kollektiv von sieben im deutschsprachigen Raum federführenden Kulturanthropolog:innen formuliert darin Programm und Perspektive einer kritischen, postkolonialen und reflexiven Anthropologie des gegenwärtigen Europas. In ihrem Einleitungsbeitrag schlagen sie vor, Europa „entschiedener als bisher“ (S. 8) als umstrittene, verflochtene und interdependente Prozesse zu begreifen. Hierin bauen die Autor:innen auf Chakrabartys „Provinzialisierung“ auf und gehen mit dem Vorschlag einer „rezentrierenden Dezentrierung“ (S. 13) darüber hinaus.

Das analytische Instrument der rezentrierenden Dezentrierung soll „Europa in das Zentrum einer kritischen Untersuchung […] rücken, um es zugleich durch den Fokus auf seine globalen Verbindungen und Machtrelationen, seine inneren Brüche und Marginalisierungen zu dezentrieren“ (S. 17). Dadurch erscheint Europa als „weder-noch“ und „sowohl als auch“, illustriert an Prozessen von Machtgewinn und -verlust: So ist Europa autoritäre Macht von oben, aber auch Ziel von Demokratisierungsbewegungen von unten, während die Idee der europäischen Integration vom Aufstieg nationalistischer und rassistischer Parteien sowie von gegenhegemonialen Initiativen, Imaginationen und Entwürfen „anderer Europas“ hinterfragt wird (S. 7). Die rezentrierende Dezentrierung offenbart zudem den strategisch-selektiven Okzidentalismus der europäischen Moderne. Die Betonung von europäischen Werten, Menschenrechten und Aufklärung trifft dabei auf das massenhafte Sterben an den europäischen Grenzen und die Verleugnung westlich-europäischer Verantwortung für das Scheitern an den eigenen Idealen – sei es in Hinblick auf die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und ihrer Kontinuitäten oder den Zusammenhang zwischen Klimakatastrophen und europäischer Wirtschaftsmacht.

Die im Buch formulierte Forderung nach einem prozessualen Blick auf Europa soll keineswegs zu einer reflexiven Re-Souveränisierung von Europa durch Auflösung oder Vermeidung von Widersprüchen führen. Vielmehr sollen diese als integraler Bestandteil des Untersuchungsgegenstandes ernst genommen werden. Durch den Fokus auf Ränder, Verflechtungen und Auslassungen (S. 8) wird die Gleichzeitigkeit von Fragilität und Macht sichtbar und analysierbar, ohne auf frühere Allgemeinplätze wie die „schwindende Dominanz des Westens“ (S. 11) zu verweisen.

Dem Einleitungskapitel folgt ein Gespräch zwischen Shalini Randeria, Jens Adam und Regina Römhild, ein äußerst lesenswerter Beitrag über die Entstehungsgeschichte des Verflechtungsansatzes (entanglement), den Randeria in den 1990er-Jahren als kritische Antwort auf unilineare und vermeintlich universale Modernisierungstheorien formulierte. In einem weiteren konzeptuellen Beitrag diskutieren Regina Römhild und Michi Knecht das Programm der Herausgeber:innen als Antwort auf eine „doppelte Lücke“ (S. 67): So seien postkoloniale Perspektiven in gegenwärtigen Anthropologien in und über Europa noch immer nicht ausreichend inkludiert und auch die postkolonial inspirierte Anthropologie würde sich zu wenig mit Europa beschäftigen.

Die folgenden zehn Kapitel des Buches lassen sich grob in drei Spannungsfelder unterteilen: 1) kulturelle Politiken; 2) polit-ökonomische Integration; 3) Klimawandel. Die Beiträge über kulturelle Politiken zeigen deutlich, wie die rezentrierende Dezentrierung eine Vielzahl an widersprüchlichen Prozessen Europas aufdecken und analysieren kann. Nilüfer Göle etwa schreibt über das Verhältnis zwischen europäischem (Selbst-)Geschichtsbild und Islam. Das als christlich und aufgeklärt-säkular vorgestellte Europa gerät dabei in eine verzeitlichte Spannung zu einem Islam, der vor diesem Hintergrund gleichzeitig anachronistisch und zeitgenössisch wirkt. Tanil Bora rekonstruiert die sich wandelnde Kategorie der „Weißen Türken“, eine ehemals aufgewertete kulturelle und wirtschaftliche Elite, die stark an Europa orientiert war und ist. Mit dem Aufstieg der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) und ihrer nationalistisch-konservativen Politik wurden die „Weißen Türken“ zum Symbol dekadenter und am eigentlich „Türkischen“ uninteressierter europäischer Hegemonie, die es loszuwerden gilt. Auch der Beitrag von Vassos Argyrou ist, unter anderem, den Spannungen zwischen Türkei und Europa gewidmet. Er argumentiert, dass beide Teile Zyperns auf unterschiedliche Art mit den Ambivalenzen desselben Modernitätsverständnisses zu kämpfen haben. Sowohl für Türk:innen als auch Griech:innen bedeute Modernisierung letztlich Ent-Osmanisierung (S. 115). Europa taucht hier als ein widersprüchliches Ziel auf, als „Gespenst von Autonomie und Modernität“ (S. 110).

Den Übergang zwischen kulturellen Politiken und polit-ökonomischer Integration bildet der Beitrag von Michael Herzfeld, der sich der „Politik kultureller Aggression“ (S. 195) gegenüber Griechenland in der Euro-Krise widmet. Herzfeld verdeutlicht die Spannung zwischen dem heutigen Griechenland und der Assoziation der Griech:innen mit einer idealisierten Antike. Auch hier funktioniert die rezentrierende Dezentrierung, weil die Widersprüchlichkeit Europas keine Überraschung, sondern analytische Prämisse ist. Anders in Keith Harts Beitrag: Für Hart ist die Widersprüchlichkeit keine Prämisse, sondern eher ein enttäuschtes Fazit – darüber, dass die europäische Währungsunion sowohl ein einender als auch spaltender Prozess ist. In Bezug auf die Euro-Krise fordert der Autor eine „realistische politische Debatte“ (S. 245), die den grundlegenden Gegensatz zwischen Demokratie und Finanzkapitalismus anerkennt (S. 268).

Europa zu dezentrieren und in seinen globalen Verflechtungen zu begreifen, bedeutet auch, Europa jenseits einer anthropozentrischen Perspektive zu denken, Dualismen wie Natur-Kultur zu überwinden sowie einfache Kausalitätszusammenhänge zu hinterfragen. Dies wird vor allem in den beiden Beiträgen zum Klimawandel deutlich. So erweitern Silja Klepp und Johannes Herbeck die Konzeptualisierung transnationaler Rechtsbildungsprozesse durch einen Blick auf Akteur:innen des globalen Südens sowie auf informelle Akteur:innen. Am Beispiel des massiv vom steigenden Meeresspiegel bedrohten pazifischen Inselstaates Kiribati veranschaulichen Klepp und Herbeck, wie die lokale Bevölkerung durch Aktivismus und Interventionen Recht und Klimagerechtigkeit mitgestaltet, während die Europäische Union diese Themen konsequent durch ein entwicklungspolitisch-humanitäres und sicherheitspolitisches framing depolitisiert und ihre globale Verantwortung zu umschiffen versucht. Somit lösen die Autor:innen das ein, was Kirsten Hastrup in ihrem Beitrag als große Herausforderung der heutigen Anthropologie formuliert: „Dinge miteinander in Beziehung zu setzen, die scheinbar räumlich getrennt sind und unterschiedlichen Größenordnungen angehören“ (S. 325). Für eine „Topographie des Klimawandels“ sei es unabdingbar, über herkömmliche Theorien von „Lokalität, Sozialität und Konnektivität“ hinauszugehen (S. 314). Der Klimawandel vereine den Globus auf eine Art und Weise, die eine „neu zu bestimmende Vorstellung von einem globalen gesellschaftlichen Zusammenleben“ (S. 331) erfordere. Hastrup ruft daher in ihrem Beitrag zu einem „global imaginary“ auf.

Dieser Aufruf zum globalen Denken oder zu einer „kosmopolitischen Wende“ der Gesellschaftswissenschaften, wie sie Ulrich Beck in seinem Beitrag formuliert (S. 223ff.), verdeutlicht eine weitere Stärke des Bandes: Es gelingt eine Konzeptualisierung der Idee des “Re-Worlding“ Europas, wie sie die Herausgeber:innen in ihrer Einleitung anreißen. Vorstellungen von Europa sollen durch reflexive und kritische Wissens-Arbeit nicht nur beschrieben und analysiert, sondern auch mit-erzeugt werden. Dieses „Re-Worlding“ kann im Sinne einer public anthropology verstanden werden, aber auch als Vorschlag an die vielfältigen Fächer, die sich mit Europa beschäftigen.

Mit „Europa dezentrieren“ liegt ein programmatisches Buch vor, das dazu anregt, Europa „entschiedener als bisher“ (S. 8) in seiner Vergangenheit und Gegenwart global zu verorten. Stellenweise bleiben die Konzepte und Aufforderungen der Herausgeber:innen zwar abstrakt und finden nicht immer ausreichend Eingang in die einzelnen Beiträge. Sehr gelungen ist allerdings die Kombination aus konsequent kritischen, postkolonialen und radikal reflexiven Perspektiven auf Europa, die zeitgenössische Zugänge aus verschiedenen anthropologischen Herangehensweisen zusammenbringt. In einer Forschungslandschaft, in der Kulturanthropologie, Ethnologie Europas, Soziologie sowie regional orientierte Forschung zu selten kooperieren, stellt das Buchprojekt auch eine Leistung an Zusammenarbeit dar. Bleibt zu hoffen, dass ein Projekt wie „Europa dezentrieren“ weitere Anstöße zum gemeinsamen Denken gibt, auch mit benachbarten Disziplinen wie den Geschichtswissenschaften. Anregungen dazu bieten die Herausgeber:innen und Autor:innen reichlich.