Auch noch 50 Jahre nach „68“ beschäftigen die politischen und kulturellen Aufbrüche der damals überwiegend jungen aktivistischen Intellektuellen die deutsche Debattenlandschaft. Insgesamt zeichnet sich dabei seit einiger Zeit eine ideengeschichtliche und praxeologische Erweiterung zuvor behandelter politischer Perspektiven der Akteure des sprichwörtlichen roten Jahrzehnts (Gerd Koenen) ab.1 Zentral für diese Auseinandersetzung mit den linksintellektuellen Impulsen sind zwei eng miteinander verwobene Topoi. Zum einen werden in den letzten Jahren verstärkt Leselust und Theoriebegeisterung der 68er als genuines Feld mit eigenen Sinnstrukturen thematisiert.2 Zusätzlich hierzu entstanden und entstehen Arbeiten, die die publizistische Infrastruktur der linken Szene und deren Verhältnis zu den politischen Akteuren der Zeit und ihrem Denken vermessen.3
Auch Kristof Nieses Studie „‚Vademekum‘ der Protestbewegung?“ (zugleich die 2016 an der Universität Bonn eingereichte Dissertation des Autors) lässt sich beiden Bereichen zuordnen. Ihr Gegenstand ist die Zeitschrift Kursbuch. Mit einer Erstauflage von rund 50.000 Exemplaren Anfang der 1970er-Jahre war es das auflagenstärkste Periodikum linksintellektueller Publizistik seit den 1960er-Jahren. Kristof Niese ist nicht der erste Forscher, der sich dem Kursbuch widmet. Selbstbewusst tritt er in Deutungskonkurrenz mit Henning Marmullas 2011 veröffentlichter Studie.4 Dessen Fokussierung auf den Herausgeber und Gründer Hans Magnus Enzensberger möchte er um eine genauere Ausleuchtung der Redaktions- und Verlagstätigkeiten ergänzen.5
Dieses Unterfangen gelingt Niese. Dabei ist es ein Pluspunkt des Buches, die herausgehobene inhaltliche Bedeutung des eigenwilligen Mitherausgebers Karl Markus Michel, aber auch der Verleger Siegfried Unseld oder Klaus Wagenbach aufzuzeigen. Darüber hinaus soll das Kursbuch, das Niese als literarisch-politische Zeitschrift einordnet, als Sonde dienen, um die Chiffre 68 zu hinterfragen. Niese zeichnet hierfür die wechselvolle Verlagsgeschichte der Zeitschrift nach und stützt sich in seiner Studie systematisch auch auf die wissenschaftlich bislang kaum beachteten „Kursbögen“. Gerade diese graphisch sehr aufwendig produzierten Beilagen werden als wirkmächtiges Feature des Kursbuches präsentiert, das eine Rezeption der Themen über die Zeitschrift hinaus ermöglichte. Das titelgebende Ziel der Abhandlung ist es dabei, die Rolle des Kursbuches als Handbuch, Ideenlieferant und Stichwortgeber der Protestbewegungen um und nach 68 zu bewerten („Vademekum“). Ohne sich ausführlich zur Methodik zu äußern, wertet Niese hierfür neben den Zeitschriften und Kursbögen auch zeitgenössische intellektuelle Diskurse und Autorennetzwerke aus. Ausführlich wird die Rezeption der Texte dabei auch in vergleichbaren Medien wie dem Argument oder dem Kürbiskern aufgegriffen.
In der Mehrzahl der Kapitel glückt diese ambitionierte Aufgabe überzeugend. Kristof Niese schreibt seine Geschichte ohne unnötige Schnörkel klar und sachlich. Hervorzuheben ist die enorme Akribie, mit der der Autor sein Narrativ stützt. Gerade von der üppigen Quellensammlung des Suhrkamp-Archives im Literaturarchiv Marbach wird ausgiebig Gebrauch gemacht. Ohne Neubewertungen der linken Bewegungen über das Kursbuch hinaus vorzunehmen, positioniert Niese seine Arbeit auf sichere Weise in der aktuellen Literatur zum Thema. Alleine 90 der insgesamt 776 Seiten sind Quellen vorbehalten. Die tiefen Einblicke in die Entstehungsgeschichten der einzelnen Texte lassen ein anschauliches Portrait der Gedankenwelten der Herausgeber und der Themen der Zeitschrift entstehen. Kristof Niese erzählt die Geschichte des Kursbuches eng am Blatt und mit dem Anspruch, die publizierten Hefte erschöpfend zu behandeln.
Bei allen Vorzügen einer derart detaillierten Darstellung resultieren hieraus auch Probleme. In der chronologisch angelegten Arbeit wird beinahe jeder Aufsatz der ersten zehn Kursbuch-Jahrgänge behandelt. Wie schwer diese Informationsflut zu bändigen ist, zeigt gerade das mit 220 Seiten zu lang geratene vierte Kapitel, das sich dem Kursbuch zwischen 1967 und 1970 widmet. Hier hätte der Darstellung mehr Pointierung und eine begründete Auswahl der behandelten Themen gutgetan. Schwerer als der fehlende Fokus wiegt jedoch, dass durch die Erklärung aus der Zeitschrift heraus die politischen Strukturen und Akteure der linken Szene undeutlich bleiben. Niese zeigt zwar, dass das Kursbuch zentrale Fragen der Zeit verhandelte und auf der Linken rezipiert wurde. Die politischen Gruppen selbst erscheinen aber etwas unvermittelt und bleiben meist schemenhaft. Wie genau das Verhältnis des Kursbuches zu den Protestbewegungen beschaffen war, ist jenseits der Rezeption in ausgewählten Medien aus dieser Perspektive jedenfalls nur schwer erklärbar. Auch die im Titel aufgeworfene Frage, ob das Kursbuch ein Vademekum der beginnenden Aufbrüche war, bleibt so unbeantwortet.
Abgesehen davon ist viel darüber zu erfahren, wie sich die Zeitschrift um eine Vermittlung transnationaler Debatten bemühte und wie Kontakte zu zentralen Akteuren, vor allem der West-Berliner Studentenbewegung und APO, später auch den entstehenden Parteiaufbaugruppen oder der Solidaritätsorganisation Rote Hilfe, angebahnt wurden. Niese zeigt, wie das Kursbuch Themen in linken Diskursfeldern nah am Zeitgeist aufspürte und bereicherte. In puncto Studentenbewegung, Notstandsgesetze, Ökologie oder Bildung bestellte die Zeitschrift das Feld für emanzipatorische Initiativen mit.
Seine Nähe zu Trends und politischen Verschiebungen scheint jedoch auch dazu geführt zu haben, dass das Kursbuch Entwicklungen besonders zuspitzte. Anders als vergleichbare publizistische Unternehmen, wie etwa Das Argument, zeigt Niese, dass sich die Zeitschrift in bedenklichem Maße zu einer mitunter verstörend wirkenden Radikalität hinreißen ließ. Die distanzlose Diskussion kindlicher Sexualität im Kursbuch ist aus diversen vorherigen Publikationen bekannt. Ohne dass Niese diese Linie konstruieren würde, wird im Kursbuch von Frantz Fanon über den Maoismus und die Stadtguerilla der Tupamaros eine Linie erkennbar, die 1973 in einer großen Nähe zur RAF gipfelte (Kap. 6). Gelungen zeigt Niese, dass derartige politische Affinitäten aus dem fast allgegenwärtigen Faschismusvorwurf gegen den deutschen Staat resultierten. Da sich hieraus umgehend Imperative zum Kampf gegen den Faschismus ableiten ließen, konnte sich die RAF als eine solche Kämpferin inszenieren und durfte lange auf die Loyalität in Teilen der linken Szene hoffen. Gerade weil das Kursbuch eine Herausgeberzeitschrift war, hätte man sich aber deshalb eine mutigere Bewertung Enzensbergers gewünscht. Während Ulrike Meinhof schon zeitgenössisch gegen Karl Markus Michel ätzte, galt dies für Enzensberger augenscheinlich nicht. Seine späteren, sehr fragwürdigen Distanzierungen von der eigenen Biographie hätten hier deutlicher hinterfragt werden können.6
Den Schlusspunkt des Buches bildet der Ausstieg Enzensbergers aus der Redaktion im Jahr 1974. Hier, im letzten Kapitel seiner Studie, zeigt Kristof Niese, dass das Kursbuch auch dabei half, den Subjektivismus der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre zu erschließen. Themen wie Kinder, Ökologie oder Männer wurden nun innerhalb der Linken breit diskutiert und führten zu neuen Allianzen. Über eine Neubestimmung linker Verkehrsformen wagte sich die Zeitschrift auf der Suche nach neuen Anknüpfungspunkten auch in die Provinz, die neu definiert werden sollte. Durch die große Reichweite in Kombination mit weitgehender politischer und redaktioneller Ungebundenheit der Zeitschrift stellt sich angesichts der vielen Kurswechsel des Kursbuches die Frage, inwiefern die Zeitschrift selbst Trends für die Kritik an den Bewegungen der Jahre zuvor setzte.
Alles in allem legt Kristof Niese mit seiner Studie ein Werk vor, das die weitere Beschäftigung mit dem Kursbuch nicht ignorieren darf. Auch wenn der Autor stärker auf die Zusammenhänge zwischen den politischen Akteuren und der linksintellektuellen Landschaft der 1960er- und 1970er-Jahre hätte hinweisen sollen, finden sich viele Anknüpfungspunkte für die Intellectual History der Neuen Linken. Vorwürfe muss sich allerdings der Verlag gefallen lassen. Zum einen hätten sich Wiederholungen, Anschlussfehler und stehen gebliebene Satzzeichen durch ein gründlicheres Lektorat leicht vermeiden lassen. Besonders schwer fällt aber der überteure Verkaufspreis (149 Euro) ins Gewicht. Außerhalb von Bibliotheken wird das Buch so wohl nur selten gefunden werden. Seinem Autor verbaut der Verlag hierdurch die verdiente Reichweite.
Anmerkungen:
1 Zentral: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
2 Hierzu: Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015. Zudem die entstehende Dissertation von Benedikt Sepp (Konstanz), „Theoriehunger“. Autobiographisch: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die Jahre des wilden Lesens, Stuttgart 2014.
3 Vgl.: Uwe Sonnenberg, Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in West-Deutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016. Hinzu kommen diverse im Entstehen begriffene Dissertationen, die sich Zeitschriftenprojekten widmen. Zur alternative: Moritz Neuffer (HU und ZfL Berlin), Die journalistische Form der Theorie; zur neuen kritik: Felix Kollritsch (ISB Bochum), Transnationale Netzwerke linker Intellektueller im Kontext der Neuen Linken in der BRD; zu Das Argument und PROKLA: David Bebnowski (ZZF Potsdam), Die Neue Linke West-Berlins.
4 Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011.
5 So zuvor auch die Kritik von Christoph Kapp, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-17560 (09.07.2018).
6 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Tumult, Berlin 2014. Zuletzt kritisch hierzu: Willi Jasper, Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche „Kulturrevolution“, Berlin 2018, S. 10.