Die bei Achatz von Müller (Basel) entstandene Dissertation Jan Rüdigers regt aus verschiedenen Gründen sehr zum Nachdenken an. Sie versteht sich selbst als Versuch zu der Frage, “auf welche Weise die Aristokraten und Poeten im tolosanischen Okzitanien um 1200 ihre Wahrnehmung von sich und ihrer Welt organisierten”. Rüdiger möchte soziale Praktiken der aristokratischen, insbesondere der patrizischen Eliten in und um Toulouse aus ihren sprachlichen und kulturellen Codes verstehen, aus dem, worüber (und wie darüber) im Rahmen höfischer Literatur gesprochen und geschwiegen wird. Als theoretischer Fokus dient ihm dabei das Konzept der Mentalität, verstanden als “jene endliche Menge von Optionen, aus denen die Menschen in der Praxis ihre Wahl treffen”. Dieser praxisbezogene Ansatz, den der Autor im Sinne der “histoire totale” als Schlüssel für soziale Vorstellungen, Wahrnehmungen, Haltungen und Aktionen in umfassender Weise zur Geltung bringt, stellt hohe Ansprüche an die Untersuchung und ihre Leser, wirft jedoch auch gewichtige methodische Probleme auf.
Für die soziale Verortung einer aristokratischen Mentalität im Toulousain konzentriert sich die Arbeit auf das Patriziat der Grafen- und Bischofsstadt Toulouse, und hier aus arbeitsökonomischen Gründen auf 18 Familien, deren regelmäßige Mitwirkung an den kommunalen Entscheidungsgremien als Selektionskriterium dient. Insbesondere aus den Arbeiten John Mundys kennt man seit langem den Reichtum der Toulousaner Archive hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Interaktionen dieser städtischen Eliten für das 12. und 13. Jahrhundert. Rüdigers Vorgehen liegt nun keineswegs im systematischen Vergleich der weitgehend unedierten Archivalien, etwa der mehr als 70 sozial einschlägigen Testamente zwischen 1165 und 1297, mit den Themen und ‘Reden’ der Trobadors; seine Hypothese liegt vielmehr darin, in eben jener poetischen Rede der Sänger und Dichter in Toulouse den Schlüssel zu den Konzeptualisierungen sozialer Organisation im Milieu des Patriziates in der Hand zu halten. Mit welchen Resultaten? In überzeugenden Kapiteln weist er Zentralbegriffe der höfischen Rede wie pros (probus homo, ‘Ehrenmann’ zur Selbstbezeichnung der Patrizier), cortesia (entsprechend etwa mhd. höveschheit) oder paratge (als Begriff für die soziale Seite der cortesia, der je nach Kontext ‘Verwandtschaft’, ‘Abkunft’ oder ‘edle Geburt’ meinen konnte) vielschichtig im Denken und Verhalten der städtischen Aristokratie nach. Etwa die Solidarisierungen der Toulousaner im Albigenserkrieg untereinander, mit einem Großteil der okzitanischen Aristokratie und nicht zuletzt mit König Peter von Aragon lassen sich in diesen Termini besser verstehen.
Gravierender indessen sind die Mißverständnisse, die sich aus dieser Hypothese ergeben. Dafür nur drei Beispiele: 1. In dem Prozeß, den eine päpstliche Gesandtschaft im Jahre 1178 gegen einen der führenden Toulousaner Katharer anstrengt, verweigert dieser schließlich den von ihm geforderten Wahrheitseid. Für Jan Rüdiger ein Beleg für das Konzept des pros, dessen Wort als Ehrenmann auch ohne Eid genügt; für den gesamten Rest der Forschung eine Konsequenz aus dem religiös begründeten Schwurverbot für katharische Perfekte.
2. Im Jahre 1202 kommt es im Konsulat von Toulouse zu einer auffälligen Häufung neuer Namen, hinter denen das ältere Patriziat zurücktritt. In der Perspektive ihres kulturellen Habitus möchte der Autor hier eine populare Partei am Werk sehen, was auf grundlegende Spannungen in der politischen Führung der Kommune hindeute. Untersucht man jedoch die besser faßbaren ökonomischen Bedingungen dieses ‘Wachwechsels’, zeigt sich, daß hier solche kaufmännischen und wirtschaftlich erfolgreichen Bürger in das Konsulat aufsteigen, bei denen nicht nur ein Großteil des älteres Patriziates hoch verschuldet ist, sondern mit denen auch Heirats- und Geschäftsbündnisse eingegangen werden. In diesem Sinne ist eher von einer ökonomisch notwendigen Erweiterung des Patriziates zu sprechen, als von einem Machtkampf zwischen Popularen und Patriziern. Die politischen Spannungen in Toulouse im Vorfeld und in der Frühzeit der Albigenserkriege verlaufen nicht vertikal zwischen verschiedenen sozialen Niveaus oder etwa zwischen Katharern und Katholiken, sondern gerade innerhalb der städtischen Führungsgruppen mit ihren konkurrierenden politischen, sozioökonomischen und religiösen Ambitionen.
3. Die Trobadors schweigen über kirchliche Fragen, Kleriker kommen in ihrer Lyrik nicht vor. Rüdiger zieht daraus den abenteuerlichen Schluß, die Kirche sei in den Dispositionen des Toulousaner Patriziates absent; er spricht von der “geringen säkularen Wirkungsmacht der Kirche” und davon, daß “die Oberschicht anscheinend keinen Wert auf Präsenz in kirchlichen Institutionen legte”. Die Kirchenarchive mit ihren in die Zehntausende gehenden Zeugnissen für rechtliche und ökonomische Interaktionen der Toulousaner sprechen eine deutlich andere Sprache. Gerade die von Rüdiger herangezogenen Familien zeichnen ihre soziale Vorrangstellung nicht zuletzt durch den Aufbau von Netzwerken mit den lokalen Kirchen aus: geschäftliche Verbindungen und Rechtsbeistand, Seelenheilstiftungen im hohen Umfang, ausführlichste Vorkehrungen zu Begräbnis, Memoria und Armensorge in den Testamenten, die Gründung von Hospitälern und Bruderschaften, deren Leitung und Mitgliedschaft, die Selbstübergabe an Kirchen als Donaten, der Eintritt als Laienbruder, Laienkanoniker oder gar die vollständige Konversion zur Vita religiosa – all diese Modi religiösen Verhaltens sind für die Toulousaner Eliten in hohem Maße kennzeichnend, wie es in anderen Fällen auch das Bekenntnis zum Katharismus ist. Unter Toulousaner Patriziern kommen um 1200 gar Fälle von ‘Doppelreligiosität’ vor, wenn man das Sterben nach Empfang der katharischen Sakramente und den ausdrücklichen, mit viel Geld erkauften Wunsch nach einem Begräbnis im Kreuzgang des Wallfahrtszentrums Saint-Sernin so bezeichnen will. Ausdruck für eine veräußerlichte ‘kaufmännische’ Religiosität, die das Risiko des Totalverlustes durch die Investition in beiden Religionen auffangen will.
Wenn Rüdiger in seinem Buch der ‘Mentalität’ des Toulousaner Patriziates in der von ihm selbst behaupteten ‘Totalität’ der Analyse nachgehen will, ist die Außerachtlassung des kirchlichen Aspektes, der florierenden monastischen und Pilgerkultur Okzitaniens und der ausgeprägten Partizipationsansprüche städtischer Eliten gegenüber kirchlichen Institutionen mehr als eine läßliche Sünde. Selbst wenn man diesen Anspruch ausklammert und nach der eigenen Leistung der höfischen Rede gerade für städtische Eliten fragt, bleibt überraschend unscharf, wo im sozialen Leben des Patriziates der Literaturbetrieb eigentlich untergebracht war. Die performative Seite der höfischen Literatur beleuchtet der Autor, wohl mit gutem Grund, ausschließlich an den Höfen der raimundinischen Grafen und seiner (ländlichen) Vasallen. Eine der wenigen Aussagen über die literarischen Vorlieben des Patriziates, die Rüdiger anführt und die aus einer im Toulousaner Dominikanerkonvent verfaßten Regula mercatorum (um 1315) stammt, ist gerade kein originär tolosanischer Beleg. Sie gehört zum Beispielvorrat der mendikantischen Bußlite-ratur und ist bereits 100 Jahre früher in Italien anzutreffen. Eine ausgewogene “histoire totale” hätte wohl unerläßlich die umfassende Kenntnis der archivalischen Quellen, die Rüdiger nur aus den mit ganz eigenen Interessen entstandenen Arbeiten John Mundys bezieht, oder zumindest der wichtigsten typologischen Forschung zu dieser Textgruppe: Mireille Castaing-Sicard, Les contrats dans le très ancien droit toulousain (Xe-XIIIe siècle), Toulouse 1959, erfordert. Mißt man die Arbeit nicht an diesem Anspruch, sondern an ihren theoriegesättigten literatur- und kultursoziologischen Überlegungen zur Rede der okzitanischen Trobadors, so bleibt sie dennoch ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zur hochmittelalterlichen Okzitanistik und zur methodischen Vermittlung von Literar- und Sozialhistorie.