Reinhard Gehlen, langjähriger Chef der Abteilung Fremde Heere Ost des Oberkommandos des Heeres (OKH), der nach ihm benannten Organisation Gehlen und des Bundesnachrichtendienstes, galt lange Zeit als Mann „ohne Gesicht“. Seiner Person hat der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller, Co-Vorsitzender der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968, jetzt eine fulminante und voluminöse Biografie gewidmet. Auf mehr als 1.370 Seiten breitet der Autor, detailliert und durch zahlreiche Aktenfunde unterfüttert, die Lebensgeschichte des ersten Geheimdienstchefs der Bonner Republik aus. Hierbei scheute er auch nicht den Streit mit der Familie Gehlen, die zunächst dienstliche Akten aus der Wehrmachtszeit zur Verfügung stellte, nach dem Lesen des Rohmanuskripts aber, „empört über das gezeichnete Bild“ (S. 14), ihre Unterstützung zurückzog.
Müller widmet sich in seiner in vier Teile gegliederten Biografie zunächst dem militärischen Werdegang des 1902 in Erfurt geborenen Gehlen. Sein Vater hatte als Oberleutnant der Artillerie nur eine mäßige Karriere hingelegt und war dann im Verlagsgeschäft tätig geworden. Dennoch wählte auch der Sohn den Offiziersberuf. Der strebsame, fleißige und offenbar auch sehr karrierebewusste junge Mann trat ebenfalls bei der Artillerie ein und wusste seine Vorgesetzten früh von den militärischen Vorzügen seines Charakters zu überzeugen. Anfang der 1930er-Jahre absolvierte er mit Bravour die Generalstabsausbildung, Gehlen stieg damit in die Elite der künftigen Wehrmacht auf. An der Kriegsakademie in Dresden hatte der junge Offizier verinnerlicht, dass systematisches Denken und sorgsames Abwägen kühnen Entschlüssen vorzuziehen seien. Folglich strebte er nicht nach einem Truppenkommando, sondern nach einer Tätigkeit im Generalstab. Hier wurde sein Förderer Franz Halder – inzwischen Chef des Generalstabes des Heeres – auf ihn aufmerksam und ernannte ihn im Sommer 1940 zu seinem I. Adjutanten. Im Herbst 1940 wechselte Gehlen zur Operationsabteilung des Generalstabes, wo er u.a. an der Ausarbeitung des Planes „Barbarossa“ für den Angriff auf die Sowjetunion beteiligt war. Anfang April 1942 ernannte ihn Halder zum Leiter der OKH-Abteilung Fremde Heere Ost.
Für Gehlen war diese Beförderung ein unerwarteter Karrieresprung, zumal er weder besondere Kenntnisse über die Sowjetunion besaß, noch der russischen Sprache mächtig war. Diese waren bei der Führung von Fremde Heere Ost auch nicht zwingend erforderlich, denn hier wurden weder Geheimdiensteinsätze noch die nachrichtendienstliche Beschaffung von Informationen geplant. Vielmehr hatten Gehlen und seine Mitarbeiter die durch das Amt Ausland/Abwehr und von anderen Quellen beigebrachten Erkenntnisse über die Rote Armee, deren Absichten sowie Schlagkraft auszuwerten und in entsprechenden Prognosen für die militärische Führung zusammenzufassen. Die Kunst bestand darin, aus der Perspektive des Generalstabes die möglichen Operationsabsichten des Gegners plausibel darzulegen und gleichwohl möglichst viele Varianten offen zu lassen, um dann später behaupten zu können, Fremde Heere Ost habe mit seiner Einschätzung richtig gelegen. Dieses „semantische Tricksen“ wurde auch später zum wichtigen Kennzeichen Gehlens, der sich so den Nimbus „überlegenen Wissens“ (S. 239) verschaffte.
Die Wirklichkeit war ernüchternder. Trotz neuer Arbeitsmethoden und dem akribischen Anlegen von Karteikarten und eindrucksvollen Diagrammen konnten Gehlen und seine Nachrichtendienstoffiziere weder die sowjetische Offensive bei Stalingrad noch die drückende Überlegenheit der Roten Armee an Panzern während der Kursker Schlacht korrekt vorhersagen. Auch die sowjetische Sommeroffensive des Jahres 1944, die mit der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte zur bislang größten Katastrophe in der deutschen Militärgeschichte führte, sah Fremde Heere Ost nicht voraus. Obgleich Gehlen aufgrund des ihm vorliegenden Zahlenmaterials bewusst gewesen sein wird, dass der Krieg schon lange verloren war, fand er – wie zahlreiche andere Wehrmachtsoffiziere auch – nicht die Kraft, sich dem Widerstand gegen Hitler anzuschließen.
Fast bis zum Ende des Krieges behielt der inzwischen zum Generalmajor beförderte Gehlen seine Position als Abteilungsleiter, im März 1945 versetzte Hitler den „Märchenerzähler“ schließlich in die Führungsreserve. Den so gewonnenen Freiraum nutzte der Offizier, um seine Nachrichtendienstorganisation auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten. Als Dr. Schneider bot er sein Wissen über die Rote Armee den Amerikanern an. Für sie war Gehlen vor allem deshalb interessant, weil dieser, gestützt auf das von ihm während des Krieges gesammelte Material, umfangreiche Kenntnisse über die taktische Gliederung und Aufstellung der sowjetischen Streitkräfte besaß. Damit hatte er einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber den zahlreichen Konkurrenten, die sich, wie beispielsweise der Abwehrexperte Hermann Baun oder der Agentenausbilder Friedrich Wilhelm Heinz, gleichfalls den Amerikanern andienten. In diesem Wettstreit nutzte Gehlen jedoch nicht nur sein Fachwissen, sondern auch feingesponnene Intrigen, um die lästige Konkurrenz auszuschalten. Auf ähnliche Weise gelang es ihm auch, seine jetzt als Organisation Gehlen bezeichnete Spionagedienststelle in eine Bundesbehörde umzuwandeln, die ab 1956 unter dem Titel Bundesnachrichtendienst als westdeutscher Auslandsgeheimdienst fungierte. Es lag im Wesen Gehlens begründet, dass sein Dienst nicht nur gegen den Ostblock spionierte, sondern auch dem jetzt zivilen Militär verdächtig erscheinende Politiker und Journalisten im Inland bespitzelte.
Ganz dem artilleristischen Grundsatz „Deckung vor Wirkung“ verpflichtet, verzichteten die Organisation Gehlen und der BND auf spektakuläre Agentenabenteuer. Sie beschränkten sich im Wesentlichen auf Observation und Überwachung. So ließen sich bis zum Mauerbau zwar fundierte militärische Kenntnisse über den Warschauer Pakt beschaffen, belastbare politische Informationen blieben allerdings Mangelware. Der Stellung Gehlens tat dies zunächst keinen Abbruch, zumal Kanzleramtsminister Hans Globke seine schützende Hand über den Nachrichtendienstchef hielt.
Deutlich wird, dass mit der Etablierung des Bundesnachrichtendienstes der dienstliche Eifer Gehlens zusehends erlahmte. Offenbar konnte er sich nur schwer damit abfinden, dass sich das fast familiär gehaltene Unternehmen zur Bundesbehörde wandelte. Liebgewonnene Praktiken wie das Beschäftigen von Verwandten und der freihändige Umgang mit finanziellen Mitteln, aber auch langepflegte Seilschaften mit Offizierskameraden hatten endgültig ausgedient. So muss es ein Rätsel bleiben, warum sich der alternde und amtsmüde Präsident noch bis 1968 im Amt hielt, obgleich er sich mit den zahlreichen Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes „bald hoffnungslos überfordert“ (S. 1317) zeigte.
Wie verheerend seine Amtsführung für den BND gewesen war, offenbarte wenig später der Bericht der Mercker-Kommission. Zu dieser Zeit arbeitete Dr. Schneider bereits an seinen Memoiren, um sich der Nachwelt weiter als Nachrichtendienstexperte zu präsentieren. Die drei Bücher aus seiner Feder brachten jedoch nicht den erwünschten Erfolg, sein Ruf als tadelloser Kenner der Sowjetunion und des Ost-Blocks verblasste schnell. Als er 1979 starb, ging auch in der Bundesrepublik endgültig eine Epoche zu Ende, in der Interessengruppen der Kriegsgeneration die politischen Geschicke des Landes bestimmten. So sehr sich die Funktionselite der NS-Diktatur nach 1945 als Aufbaugeneration bewährte, so sehr behinderten ihre Prägungen aus Kaiserzeit, Weimarer Republik und „Dritten Reich“ einen wirklichen demokratischen Neuanfang. Mit dem Ende der Kanzlerdemokratie Adenauers führte Gehlen, dem jetzt Rückhalt und Freiräume fehlten, den Bundesnachrichtendienst in die Agonie. Nach seinem Weggang blieb ein personeller und konzeptioneller Neuanfang für den Dienst unausweichlich.
Rolf-Dieter Müller ist es mit seiner mitunter etwas weitschweifigen Biografie gelungen, Gehlen endlich ein Gesicht zu geben, den Mythos des unfehlbaren Spionagechefs endgültig zu zerstören. Er zeigt, gestützt auf eine ungewöhnlich breite Quellenbasis, eindrucksvoll die Stärken, aber auch Schwächen des nationalkonservativen, antikommunistischen Generalstabsoffiziers, der sich nicht von den Regeln und Beschränkungen der deutschen Militärkaste lösen konnte und wollte. Aufgrund seiner Längen und Detailverliebtheit gleicht Müllers Werk einem Rohdiamanten, der durch gekonnten Schliff überzähliger Ecken und Kanten zweifelsohne zum Brillanten geworden wäre. Gleichwohl wird diese Gehlen-Biografie über viele Jahre hinweg das Standardwerk zur Frühgeschichte des Bundesnachrichtendienstes und seines ersten Präsidenten bleiben.