Mit seiner Geschichte der Volksrepublik (VR) China seit 1949 legt Klaus Mühlhahn, Professor für chinesische Geschichte an der Freien Universität Berlin, einen detailreichen und eingängigen Überblick über die Zeit- und Gegenwartsgeschichte Chinas bis ins Jahr 2015 vor. Der Band ist Teil einer Reihe historischer Grundrisse, die insbesondere Lehrer und Studenten ansprechen soll, ohne sinologische Grundkenntnisse zu erfordern. Konzipiert als „das erste geschichtswissenschaftliche Lehrwerk in deutscher Sprache zur Geschichte der VR China bis zur Gegenwart“ (S. IX) strebt Mühlhahn an, den Fokus von der politischen Geschichte zu anderen gesellschaftlichen Themen, wie wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, zu verschieben. Ebenfalls schenkt Mühlhahn in seiner historischen Darstellung den Ereignissen der Reform- und Öffnungsperiode (1977–1989) sowie der Entwicklung Chinas bis 2015 genauso viel Aufmerksamkeit wie der Periode unter Mao Zedong. Der Band ist, wie andere Publikationen derselben Reihe, zweigeteilt in eine historische Darstellung der Geschichte der Volksrepublik (Kapitel 1) und in eine Diskussion der Grundprobleme und Tendenzen der Forschung (Kapitel 2), die fast denselben Raum einnimmt wie die historische Darstellung. Den beiden Hauptkapiteln folgen eine nach Themen gegliederte Literaturübersicht (Kapitel 3) sowie eine Zeittafel und Sach-, Personen- und Autorenregister im Anhang. Der Band ist der dritte Teil zur Geschichte Chinas aus derselben Reihe, beginnend mit der „Geschichte Chinas bis zur mongolischen Eroberung 250 v. Chr. – 1279 n. Chr.“ von Helwig Schmidt-Glintzer1 und der „Geschichte Chinas 1279–1949“ von Sabine Dabringhaus2.
In seiner historischen Darstellung verzichtet Mühlhahn auf eine theoretische Einführung in geschichtswissenschaftliche Betrachtungen zur Volksrepublik und macht nur gelegentlich einen kurzen Rückbezug auf die Ereignisse vor 1949. Zunächst konzentriert er sich auf die Frage, wie sich die Kommunistische Partei Chinas trotz signifikanter Widerstände im Volk und Uneinigkeit in der Partei in dem von Bürgerkriegen und gesellschaftlichen Krisen geplagten Land etablieren konnte (Kapitel 1.1). Dem Anspruch, die politischen Entwicklungen gleichwertig zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen der VR China zu beschreiben, kann die Darstellung für diese Periode nur eingeschränkt gerecht werden. Viele der in der Zentralregierung getroffenen Entscheidungsabläufe der 1950er- und 1960er-Jahre stehen im Mittelpunkt, wohingegen unterschiedliche Entwicklungen in den Provinzen und Akteure außerhalb des zentralen Regierungskreises nur marginal erwähnt werden. Dies ändert sich jedoch ab dem Überblick zur Reform- und Öffnungsperiode (Kapitel 1.3), in dem als Ausdruck der allgemeinen Öffnung des Landes und der Entstehung von nicht von der Regierung kontrollierten Aktionsräumen anderen gesellschaftlichen Akteuren mehr Platz eingeräumt wird.
Die Beschreibung der Entwicklungen in den 1980er-Jahren, die mit den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in 1989 schließt, ist ausgeglichen und detailreich. Besonders gut zusammengefasst ist die Einschätzung der diversen Ursachen und Konsequenzen der Niederschlagung der Proteste. Die Darstellung der jüngsten 15 Jahre, die durch staatlich gefördertes, immenses wirtschaftliches Wachstum und relativ wenige politische Reformen gekennzeichnet waren, schließt mit einem Ausblick auf künftige Spannungen und Unsicherheiten. Ein Fazit über die historischen Entwicklungen der ersten knapp 60 Jahre der VR China ersetzend, malt Mühlhahn hier ein tendenziell negatives Bild der näheren Zukunft, die durch soziale Ungleichheiten und den „Abschied von der sozialen Utopie“ gekennzeichnet sein werde (S. 162). Hier hätte eine Evaluation von gegensätzlichen Positionen zur künftigen Entwicklung Chinas, eventuell als Überleitung in den Forschungsüberblick, interessant werden können.
Im Forschungsteil verzichtet Mühlhahn auf eine Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Forschungsgebiete zu China sowie auf eine Stellungnahme zu seiner Auswahl von größtenteils englischsprachiger Literatur. Von den durchaus unterschiedlichen Forschungstraditionen in den verschiedenen westlichen Ländern abgesehen, wäre eine ausgewogenere Gegenüberstellung westlicher und chinesischer, einschließlich der Publikationen zur VR China aus Hong Kong und Taiwan, und japanischer Arbeiten wünschenswert. Außerdem hätte ein kurzer Hinweis auf die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Arbeiten zur VR China insbesondere deutsche Leser interessiert. Bei der Eingrenzung der Literatur hätte Mühlhahn auf den Vorgängerband von Dabringhaus Bezug nehmen können, in dem kurz und schlüssig der Umfang und die Grenzen des vorgestellten Forschungsstandes erklärt werden.3 Mühlhahn, der zu Beginn der Diskussion die vorliegende Literatur in „Totalitarismus-Modell“, „Modernisierungs-Ansatz“ und „Marxistische Interpretation“ unterteilt, legt großen Wert auf die Diskussion von Ergebnissen westlicher Studien mit einem sozialwissenschaftlichen Hintergrund. Er weist jedoch richtig darauf hin, dass sich die Anwendung von quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden für die Zeit vor der Reform- und Öffnungsperiode aufgrund des fehlenden Zugangs zu Quellen aus der VR China schwierig gestaltete (S. 164 ff.).
Viele mit Marginalien versehene, thematisch in sich geschlossene Absätze bestätigen den Eindruck, dass sowohl der Autor als auch die Herausgeber der Reihe das Ziel hatten, ein verständliches und gut sortiertes historisches Übersichtswerk vorzulegen. Dies ist, nicht zuletzt aufgrund der eingängigen Sprache und der auch für Laien auf dem Gebiet der Geschichte der VR China gut strukturierten Abfolge der Kapitel, gelungen. Unterstützt wird die historische Darstellung durch den mit den Kapiteln des ersten Teils oft korrespondierenden Forschungsüberblick im zweiten und das thematisch geordnete Literaturverzeichnis im dritten Teil des Bandes. Der an einem Thema tiefergehend interessierte Leser kann die Darstellung bestimmter Themengebiete und eine entsprechende Diskussion des Forschungsstands nach wenigem Blättern rasch auffinden. Dennoch würde historisch arbeitenden Lesern des Darstellungskapitels ein Hinweis auf die entsprechenden Kapitel des Forschungsüberblicks sehr weiterhelfen. Auch wären Verweise auf bereits publizierte Übersetzungen der Schriften Maos und weiterer politischer Führer im Darstellungsteil hilfreich, der mit Zitaten ohne Quellenangaben überrascht. Für Leser mit sinologischen Vorkenntnissen wäre ein Glossar der chinesischen Begriffe mit einer Transkription in Pinyin nützlich. Ebenfalls wäre das Anfügen einer Karte der VR China von Vorteil, wobei sich Mühlhahn hier, wie bei der Angabe der Lebensdaten der wichtigsten erwähnten Personen, an den Vorgängerbänden der Reihe hätte orientieren können.
Für Einsteiger in die Geschichte der VR China ist insbesondere der vorliegende historische Überblick empfehlenswert. Mit den oben genannten Einschränkungen gilt dies auch für die Diskussion des Forschungsstandes. Fortgeschrittene Leser könnten allerdings die fehlenden direkten Verweise auf weiterführende Literatur im Darstellungstext frustrieren. Sollten sich Leser auch für die kaiser- und republikzeitlichen Wurzeln der erwähnten politischen und gesellschaftlichen Phänomene in der VR China interessieren, seien alternative Geschichtsüberblicke zu empfehlen. Dazu gehört die Lektüre von historischen Gesamtdarstellungen seit dem 19. Jahrhundert, wie zum Beispiel Thoralf Kleins „Geschichte Chinas. Von 1800 bis heute“4 sowie Hu Kais und Gerhard Schildts „Das moderne China. 19. und 20. Jahrhundert“5.
Anmerkungen:
1 Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte Chinas bis zur mongolischen Eroberung 250 v. Chr. – 1279 n. Chr. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte Bd. 26), München 1999.
2 Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279–1949 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte Bd. 35), 3. überarb. und akt. Aufl., Berlin 2015 (1. Aufl. 2006).
3 Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279-1949, S. 105f.
4 Thoralf Klein, Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart, 2. durchges. Aufl., Paderborn 2009 (1. Aufl. 2007).
5 Hu Kai / Gerhard Schildt, Das moderne China. 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2014.