Die frühen Anfänge des japanischen Zeichentrickfilms, kurz: Anime, sind ein immer noch unzureichend erschlossenes Forschungsfeld. Die japanischsprachigen Arbeiten von Watanabe Yasushi / Yamaguchi Katsunori (1978), Yamaguchi Yasuo (2004) oder Tsugata Nobuki (2004) haben inmitten der Fülle an einschlägigen Publikationen nach wie vor kanonischen Status.1 Dies führt wiederum dazu, dass sie als Referenzquellen nahezu unreflektiert in allen nachfolgenden Arbeiten übernommen werden.
In westlichsprachigen Arbeiten zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Publikationen zur Geschichte des Anime bleiben auch hier die große Ausnahme und rekurrieren dann, wie z.B. bei Jonathan Clements (2013) oder Maria Roberta Novielli (2018), entweder auf die zuvor genannten drei Pionierwerke oder verfallen in einen Kulturnationalismus, wie er auch in vielen Arbeiten zum Manga beobachtbar ist. Hier werden dann die Anfänge des Anime, wie z.B. bei Brigitte Koyama-Richard (2010), sogar bis zu den mittelalterlichen Bildrollen („emakimono“) zurückverfolgt – eine äußerst problematische These, die der Anime-Regisseur Takahata Isao 1999 en détail aufgestellt hat.2 Vor diesem Hintergrund verdient der vorliegende Band, der eine revidierte und erweiterte Fassung der deutschen Ausgabe von 2016 darstellt3, besondere Beachtung.
Der Autor unternimmt eine archäologische Spurensuche nach den Ursprüngen des Anime. Auf rund 120 Seiten versucht die Arbeit – wenn auch vom Autor nicht explizit so dargelegt – drei Dinge der bisherigen Geschichtsschreibung des Anime zu korrigieren: Erstens die etablierte Datierung des ersten Anime, zweitens die bisherige Sonderstellung von Kitayama Seitarô unter den drei frühen Pionieren und schließlich die viel zitierte Bedeutung dieser Pioniere für die weitere Geschichte. Dazu konsultiert der Autor einerseits reichliche, bislang wenig oder gar nicht beachtete zeitgenössische Artikel aus der Fach- oder Tagespresse und wagt andererseits zahlreiche erhellende Vermutungen und Schlussfolgerungen, was jedoch an vielen Stellen die Gesamtlektüre beschwerlich macht.
Das erste Kapitel wirft zunächst einen Blick auf den in der japanischen Forschung nur wenig beachteten Bereich des „Heimkinos“ als möglichen Geburtsort des Anime. Der Autor argumentiert plausibel anhand zeitgenössischer Werbeanzeigen in japanischen Zeitungen, dass spätestens um das Jahr 1904/05 Kinematographen und kurze Endlosfilme („loop film“) aus Deutschland über den direkten oder indirekten Import nicht nur in großem Stile vertrieben worden waren in Japan, sondern dort auch bald die Herstellung einheimischer Produkte stimuliert hatten. Und tatsächlich scheint diese Argumentation schlüssig – denn die japanische Herstellung von kommerziell vertriebenen Laterna Magica blickte, wie beispielsweise von Ôkubo Ryô (2015) aufgezeigt4, zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine längere Tradition zurück, so dass eine Erweiterung der Produktpalette auf Projektoren und Filme für den Heimbereich seitens der Produzenten nahe lag. Für den Autor steht, nicht zuletzt auch aufgrund der verwendeten Technik (das heißt der „printed animation“, die auch in Deutschland zum Einsatz kam), außer Zweifel, dass es sich bei dem 2005 zufällig entdeckten Film „Katsudô shashin“ (bewegtes Bild), dem bislang ältesten animierten Material in Japan, ebenfalls um einen Endlosfilm für den Heimkinobereich handelt. Der Streifen, den Litten auf das Jahr 1907 datiert, ist für ihn nicht nur Ausdruck einer blühenden japanischen Heimkino-Tradition Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern markiert gleichzeitig den Beginn des Anime in Japan – das heißt zehn Jahre vor der gängigen Datierung. Tatsächlich scheiden sich hier, wie vom Autor selbst angemerkt (S. 111), die akademischen Geister: Denn zum einen gibt es bis zur „nächsten“ Veröffentlichung von japanischen Anime im Jahre 1917 keine weiteren Belege; selbst ein Nachweis, dass „Katsudô shashin“ tatsächlich in Japan hergestellt worden ist, lässt sich schwer erbringen (der Schriftzug im Film ist kein Beleg für eine japanische Herkunft!). Zum anderen fand auch das Prinzip der „printed animation“ anscheinend keine weiteren Nachfolger.
Im Anschluss unternimmt Litten eine Rekonstruktion der Titelliste von westlichen Animationsfilmen, die vor der offiziellen Geburtsstunde des Anime in Japan 1917 in japanischen Kinos aufgeführt worden waren. Auch hier vermag die Arbeit wieder, Datierungsunstimmigkeiten in der gängigen Forschungsliteratur aufzuzeigen und die durch Mehrfachübersetzungen bzw. -nennungen ein und desselben Filmtitels in den zeitgenössischen Quellen entstandene Gemengelage zu ordnen und zu bereinigen. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass ungeachtet verschiedener anderer oft genannter Filmtitel nachweislich erst 1912 ein westlicher Animationsfilm, Émile Cohls „Les exploits de feu follet“ (1911), in japanischen Kinos aufgeführt wurde und quasi den Startschuss für weitere Importe bildete.
Kapitel 3 folgt zwar der orthodoxen Geschichtsschreibung des Anime, indem den drei Pionieren, Shimokawa Ôten, Kitayama Seitarô und Kôuchi Jun’ichi, die alle im Jahr 1917 ihre ersten Anime-Filme herausbrachten, jeweils ein Kurzporträt gewidmet wird. Doch wendet sich Litten hier gegen die bestehende Kanonisierung, wenn er kritisch Kitayamas Beitrag zum Anime hinterfragt. Die vom Autor vorgebrachten Kritikpunkte hinsichtlich des Stellenwerts von Kitayama als Anime-Künstler und -Produzent verdienen zweifelsohne Aufmerksamkeit, insbesondere aufgrund des Personenkultus, der einerseits aus Kitayamas retrospektiver Selbstdarstellung und andererseits seiner späteren künstlerischen Würdigung durch Anime-Forscher wie Tsugata Nobuyuki resultiert.5 Als Leser kann man sich jedoch bei teils recht subjektiven Werturteilungen wie „a middling painter / artist“ (S. 63) oder „movies being rather poor to watch“ (S. 116) des Eindrucks nicht erwehren, dass mit der vorliegenden Arbeit bis zu einem gewissen Grade auch gezielt eine Art „counterhistory“ geschaffen werden soll, wodurch die ansonsten gelungene Argumentation der Arbeit merklich leidet.
Eine Rekonstruktion der im Jahr 1917 in Japan veröffentlichten Anime folgt im vierten Teil. Für die nach Monaten unterteilte Darstellung wertet Litten zeitgenössische Zeitschriften aus und vermag so, ein differenzierteres Bild des gerade erst zum Leben erwachten Anime-Business zu zeichnen. Die Darstellung zeigt, dass bei weitem mehr Filme produziert wurden, als es die üblichen Geschichtsdarstellungen glauben machen, und dass unter Umständen 1917 sogar noch mehr Titel hergestellt worden sein könnten, die jedoch in den Filmzeitschriften unerwähnt geblieben sind, da sie direkt für den ausländischen Markt bestimmt waren (Litten führt das Beispiel der Japanese-French Society an, S. 100). Das anschließende Kapitel 5, das im Vergleich zur deutschen Ausgabe neu hinzugekommen ist, gibt einen eher kursorischen Überblick über weitere Anime-Produktionen der Jahre 1918 und 1919.
Zu Recht fragt der Autor in seiner Zusammenfassung am Ende dieses Bandes: „what remained“? (S. 111). Mit seiner Studie des Heimkinos in Japan eröffnet Litten einen kenntnisreich rekonstruierten Bereich für die weitere Anime-Forschung. Inwieweit der vom Autor auf das Jahr 1907 datierte Endlosfilm „Katsudô shashin“ tatsächlich als erster „Anime“ bezeichnet werden kann, hängt entscheidend davon ab, ob „Anime“ als Darstellungsformat oder als Medium verstanden wird. In letzterem Fall sprechen sowohl die Technik, bei der eben keine Kamera bei der Produktion zum Einsatz kommt, als auch der Produktionsrahmen gegen diese frühe Datierung; im ersteren Fall müssten dann doch einige Vorläufer, die vom Autor ausgeschlossen wurden, wiederum berücksichtigt werden. Problematisch ist der im Titel genannte Untersuchungszeitraum bis 1919. Er wird an keiner Stelle der Arbeit begründet und macht aus medienhistorischer Sicht wenig Sinn. Entweder wird, wie im deutschen Vorläuferwerk von Litten der Fall, 1917 in den Mittelpunkt einer Untersuchung gerückt, oder aber das Kantô-Erdbeben 1923, das eine Zäsur in der frühen Mediengeschichte darstellt, wird als Endpunkt der „kick off“-Phase der Anime-Geschichte genommen. Mit Kapitel 5, das den Zeitraum 1918 und 1919 nur kursorisch erfasst, verliert die Arbeit an argumentativer Kraft.
Für Leser, die bereits mit der Geschichte des Anime vertraut sind, stellt die vorliegende Arbeit eine Fundgrube dar. Vor allem die sorgsame Rekonstruktion der Anime-Veröffentlichungen des Jahres 1917 ist wegwesend für weitere Arbeiten (wenngleich eine tabellarische Darstellung aller Titel und Daten hilfreich wäre). Für einen ersten Einstieg in das Thema Anime ist die Arbeit aber sicherlich „hard to read“.
Anmerkungen:
1 Vgl. Watanabe Yasushi / Yamaguchi Katsunori, Nihon animêshon eiga shi [Filmgeschichte der japanischen Animation], Tôkyô 1978; Yamaguchi Yasuo, Nihon no animêshon zenshi. Sekai wo sei shita Nihon anime no kiseki [Gesamtgeschichte der japanischen Animation. Das Wunder des japanischen Anime, der die ganze Welt beherrscht], Tôkyô 2004; Tsugata Nobuyuki, Nihon animêshon no chikara. 85-nen no rekishi wo tsuranuku futatsu no jiku [Die Kraft der japanischen Animation. Die zwei Achsen, die sich durch seine 85-jährige Geschichte ziehen], Tôkyô 2004.
2 Vgl. Jonathan Clements, Anime. A History, Basingstoke u.a. 2013; Maria Roberta Novielli, Floating Worlds. A Short History of Japanese Animation, Boca Raton 2018; Brigitte Koyama-Richard, Japanese Animation. From Painted Scrolls to Pokemon, Paris 2010; Takahata Isao, Jûni seiki no animêshon [Animation im zwölften Jahrhundert], Tôkyô 1999.
3 Vgl. Freddy Litten, Animationsfilm in Japan bis 1917. Die Anfänge des Anime und seine westlichen Wurzeln, Norderstedt 2016.
4 Vgl. Ôkubo Ryô, Eizô no arukeorojî [Archäologie des projizierten Bildes], Tôkyô 2015.
5 Vgl. die wissenschaftliche Hommage von Tsugata Nobuyuki, Nihon hatsu no animêshon sakka Kitayama Seitarô [Japans erster Animations-Künstler Kitayama Seitarô], Kyôto 2007.