Ein besonders faszinierendes Element der Jesuitenmission im frühneuzeitlichen China ist die Präsenz der Missionare am chinesischen Kaiserhof und insbesondere ihre Funktion als Hofastronomen der Kaiser der Ming- und Qing-Dynastie. Hinlänglich bekannt ist, dass die Jesuiten diese Präsenz dazu nutzen wollten, um ihre Mission zu fördern und zu schützen.1 Neuere Forschungen haben sich nun auch der Aufgabe zugewandt, die Hofjesuiten aus der Perspektive des Qing-Hofes zu beleuchten und aufzuzeigen, wie sich die Jesuiten in die höfischen Netzwerke einfügten und was ihre Präsenz für den Hof bedeutete.2 Die jesuitische Präsenz am Kaiserhof führte nicht nur zu wissenschaftlicher Kollaboration zwischen europäischen und chinesischen Akteuren 3, sondern auch zu Konkurrenz und Konflikten.
Eine Episode, an der sich das Konfliktpotential der Hofpräsenz der Jesuiten besonders gut nachzeichnen lassen, ist ein durch den Jesuitengegner Yang Guangxian angestrengter Gerichtsprozess, der in den Jahren 1664–1665 gegen den deutschen Jesuiten Johann Adam Schall von Bell, seines Zeichens Leiter des kaiserlichen Astronomischen Amts, geführt wurde. In diesem Prozess wurde Schall in mehreren, sowohl die wissenschaftlichen wie auch die missionarischen Tätigkeiten betreffenden Punkten angeklagt und entkam der Vollstreckung eines eigentlich bereits gefällten Todesurteils nur mit Glück. Diesen Ereignissen – und im Speziellen dem im Gerichtsprozess verhandelten Hauptanklagepunkt – widmet sich die hier anzuzeigende, kurze Studie, die Martin Gimm, Professor Emeritus für Sinologie und Manjuristik an der Universität zu Köln, vorgelegt hat.
Der Prozess gegen Adam Schall von Bell ist insgesamt bereits gut erforscht. Studien haben sich der Person und den Schriften Yang Guangxians angenommen und die sich verschiebenden Machtverhältnisse am Kaiserhof, die den Prozess ins Rollen brachten, analysiert.4 Wie Martin Gimm konstatiert, stand dabei aber der eigentliche Hauptanklagepunkt des Prozesses nur selten im Zentrum des Interesses. Denn obwohl der Prozess in der wissenschaftlichen Literatur unter dem Begriff „Kalenderprozess“ (calendar case, liyu) diskutiert wird, standen eigentlich nicht falsche kalendarische Berechnungen, sondern die falsche divinatorische Kalkulation von Ort und Zeitpunkt des Begräbnisses des Prinzen Rong, eines im Säuglingsalter verstorbenen Sohnes des Shunzhi-Kaisers, im Zentrum des Prozesses. Die Hintergründe dieses Falles hat Huang Yilong bereits 1991 in einem luziden, von Gimm leider nicht rezipierten Aufsatz analysiert.5
Worum ging es im „Fall Prinz Rong“? Wie Gimm im ersten, einleitenden Teil der Studie aufzeigt, war Adam Schall von Bell als Leiter des Astronomischen Amtes auch für die mit divinatorischen – d.h. chronomantischen und geomantischen – Berechnungen betraute Abteilung verantwortlich. Diese berechnete nach dem Tod des nur drei Monate alt gewordenen vierten Sohnes des Shunzhi-Kaisers Uhrzeit und Ort für eine glückverheißende Beerdigung. Die Berechnungen waren an und für sich korrekt, doch schlich sich bei der Weiterleitung ins Ritenministerium ein Übersetzungsfehler ein. Die Schreiber übersetzten nämlich die chinesische zweite Doppelstunde fälschlicherweise als siebte Doppelstunde, was Schall im Prozess beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Für Gimms auf Quellen jesuitischer Provenienz gestützte Mutmaßung, dass es sich dabei um eine gezielte Intrige des Ritenministers Enggedei gegen Schall gehandelt habe, finden sich indes keine Belege in den chinesischen oder mandschurischen Quellen. Deshalb ist vielleicht doch Huang Yilongs Deutung der Ereignisse plausibler, die davon ausgeht, dass es sich bei der Ankündigung der falschen Begräbniszeit „schlichtweg um einen Fehler“ des Ritenministeriums gehandelt habe, für den aber niemand die Verantwortung übernehmen wollte, um den kaiserlichen Zorn nicht auf sich zu lenken.
Man erfährt in Gimms Studie einiges nicht nur über Adam Schall von Bell und den gegen ihn geführten Prozess, sondern auch über das allzu kurze Leben des Prinzen Rong, das Prinzenbegräbnis und die dafür erbaute Grabanlage. Schade ist, dass die von Gimm beigezogenen mandschurischen „Geheimakten“ (miben) – ein von ihm selbst um 1990 im Ersten Historischen Archiv Chinas entdecktes, ca. 2.800 Seiten starkes Konvolut mit Akten zum Prozess6 – offenbar keine wirklich neuen Erkenntnisse zum „Fall Prinz Rong“ hinzufügen.
Gimms Studie rückt mit der Geschichte des Jesuiten, der zum Zwecke der Verbreitung der katholischen Lehre posttridentinischen Zuschnitts nach China geschickt und schließlich am chinesischen Kaiserhof aufgrund falscher divinatorischer Berechnungen verurteilt wurde, eine spannende und in vielerlei Hinsicht aussagekräftige Episode (erneut) in den Blick. Insgesamt hätte Gimm diesen Fall noch stärker in den Kommunikationszusammenhang des frühen Qing-Hofes einordnen können. Die Studie ergänzt aber die bestehende Forschung durch die minutiöse Rekonstruktion historischer Details rund um den „Fall Prinz Rong“.
Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Matthew Liam Brockey, Journey to the East. The Jesuit Mission to China, 1579-1724, Cambridge, MA 2007, S. 46–52.
2 So hat etwa Catherine Jami gezeigt, dass der Kangxi-Kaiser die von den Jesuiten am chinesischen Hof verbreitete „Neue Mathematik“ als Herrschaftsinstrument benutzte (vgl. Catherine Jami, The Emperor’s New Mathematics. Western Learning and Imperial Authority During the Kangxi Reign (1662-1722), Oxford 2012). Zur Position der Jesuiten im höfischen Sozialgefüge arbeitet zurzeit Eugenio Menegon (vgl. u.a. Eugenio Menegon, Amicitia Palatina. The Jesuits and the Politics of Gift-Giving at the Qing Court, in: Magda Abbiati / Federico Greselin (Hrsg.), Il liuto e i libri. Studi in onore di Mario Sabattini, Venedig 2014, S. 547–561.
3 Auf die Formen wissenschaftlicher Kollaboration hat jüngst Mario Cams hingewiesen: Vgl. Mario Cams, Companions in Geography. East-West Collaboration in the Mapping of Qing China (c. 1685-1735), Leiden 2017.
4 Vgl. Eugenio Menegon, Yang Guangxian’s Opposition to Johann Adam Schall. Christianity and Western Science in His Work Budeyi, in: Roman Malek (Hrsg.), Western Learning and Christianity in China. The Contribution and Impact of Johann Adam Schall von Bell, S.J. (1592-1666), Bd. 2, Sankt Augustin 1998, S. 311–337; Pingyi Chu, Scientific Dispute in the Imperial Court. The 1664 Calendar Case, in: Chinese Science 14 (1997), S. 7–34.
5 Vgl. Huang Yi-long, Court Divination and Christianity in the K’ang-hsi Era, in: Chinese Science 10 (1991), S. 1–20.
6 Diese Akten wurden u.a. im Rahmen eines DFG-Projekts an der Universität Köln bearbeitet. Vgl. dazu Shu-Jyuan Deiwiks, Some Cultural and Psychological Aspects of the Trial of Johann Adam Schall before the Supreme Court of Peking According to the Manchu Documents, in: Shu-Jyuan Deiwiks / Bernhard Führer / Therese Geulen (Hrsg.), Europe Meets China, China Meets Europe. The Beginnings of European-Chinese Scientific Exchange in the 17th Century, Sankt Augustin 2014, S. 155–176.