Seine bloße Erwähnung jagte Tausenden von jungen Männern in der DDR Furcht und Schrecken ein: der „Armeeknast“ in Schwedt. Über das landesweit einzige Gefängnis für Militärangehörige kursierten zahlreiche Horrorgeschichten. Der Frage, wie der „Mythos Schwedt“ entstehen konnte, geht Arno Polzin in seinem jüngst erschienenen Werk nach. Sein Ziel ist es, die Verhältnisse im Militärgefängnis zu beschreiben und die mündlich tradierten Legenden zu hinterfragen. Dabei legt Polzin sein Hauptaugenmerk darauf, die Rolle der Staatssicherheit im Rahmen des Strafvollzugs zu untersuchen (S. 9).
Hinderlich ist einer vollständigen wissenschaftlichen Erschließung des Themas nach wie vor das Fehlen „hausinterner“ Akten, etwa der Gefangenenakten, die seit 1990 als verschollen gelten, der Personalakten der Bediensteten, die nur rudimentär überliefert und darüber hinaus nicht zugänglich sind, sowie der Verwaltungsakten, die ebenfalls lediglich bruchstückhaft vorliegen und sich verstreut in unterschiedlichen Archiven befinden. Polzin stützt seine Studie quasi zwangsläufig auf Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), wobei er sich auf personenbezogene Akten konzentrierte. Auf diese Weise ermittelte er rund 3.500 Personen, die mit „Schwedt“ zu tun hatten, davon 2.900 für die Insassen und 400 für die Bediensteten (S. 27).
Thematisch gliedert Polzin sein Buch in fünf große Kapitel. Nach der Einleitung widmet er sich zunächst Geschichte, Struktur und Organisation des Militärstrafvollzugs (S. 43–133). Anschließend beschreibt er Delikte, die zu Militärstrafen in Schwedt führten, und aus ihnen sich ableitende Kriterien für die Insassenverwahrung. Zudem präsentiert er Fakten und Hochrechnungen zu den Insassenzahlen (S. 135–158). Dann stellt Polzin Verwahrroutinen, Tagesablauf und Haftalltag dar (S. 159–256) und untersucht im Folgenden die beiden für den Militärstrafvollzug maßgeblichen Institutionen: die Kriminalpolizei und die Staatssicherheit (S. 257–289). Im Mittelpunkt des letzten Hauptkapitels steht die inoffizielle Arbeit von Staatssicherheit und K I/4, einer speziellen Abteilung der Kriminalpolizei für operative Aufgaben (S. 291–370).
Eröffnet wurde der „Armeeknast“ im Juni 1968, als Militärstrafgefangene und Strafarrestanten aus der Haftanstalt Berndshof in Mecklenbug-Vorpommern nach Schwedt verlegt wurden. Es gab dort anfangs zwei unterschiedliche Strafarten: den Militärstrafvollzug mit einer Strafdauer von bis zu zwei Jahren und den Strafarrest für Haftzeiten bis zu drei Monaten. „Bekanntschaft“ machten mit Schwedt Angehörige der NVA, der Grenztruppen und der Bereitschafts- und Transportpolizei. Die Strafgefangenen und Arrestanten waren zumeist Grundwehrdienstleistende, aber auch Zeitsoldaten, Berufsunteroffiziere und einige Offiziere.
Zu Beginn unterstand die Strafvollzugsanstalt dem Ministerium des Innern (MdI). Einschneidende Veränderungen ergaben sich dann im November 1980 durch einen Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates: Dieser legte zum einen die Übernahme des Strafvollzugs an Militärpersonen durch das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) fest, zum anderen die Schaffung der Disziplinarstrafe „Dienst in der Disziplinareinheit“. Die Besonderheit dieser Strafe lag darin, dass sie von Regiments- und Divisionskommandeuren verhängt werden konnte, ohne dass ein Militärgericht hinzugezogen werden musste. Möglich war ein solcher „Dienst“ für eine Dauer von bis zu drei Monaten.
Der Aufbau der Disziplinareinheit führte in Schwedt vorübergehend zu einer „Doppelstruktur“ (S. 47), da dieser der Nationalen Volksarmee (NVA) oblag, während den Militärstrafvollzug noch das MdI realisierte. Ab dem 1. November 1982 war das MfNV allein für den Strafvollzug zuständig, bereits einen Monat zuvor war die neue Strafe „Dienst in der Disziplinareinheit“ eingeführt worden. Die Disziplinareinheit bestand bis zum Dezember 1989, als ihre Schließung erfolgte. Nach Entlassung der letzten Militärstrafgefangenen dieses Bereichs wenige Monate später wurde die Disziplinareinheit am 1. Juni 1990 offiziell aufgelöst.
Polzin zufolge ist eine abschließende Analyse der Straftaten, die zu einem Aufenthalt in Schwedt führen konnten, aufgrund der mageren Quellenlage bislang nicht möglich (S. 135). Dennoch kann grundsätzlich festgehalten werden, dass laut Militärstrafgesetz zu den relevanten Delikten nicht nur Militärstraftaten gehörten, sondern auch Delikte allgemeiner Kriminalität und „politische“ Vergehen. Davon abgesehen ließen sich Rechtsverletzungen der beiden letztgenannten Kategorien strafrechtlich unterschiedlich interpretieren, sodass „Körperverletzung“ in „Befehlsverweigerung“ oder „Diebstahl“ in „Beeinträchtigung der Gefechtsbereitschaft“ umgewandelt werden konnte (S. 137).
Während der Verwaltung durch das MdI waren sowohl Staatssicherheit als auch K I/4 in Schwedt aktiv. Dabei lag der Schwerpunkt der K I/4 eher bei den kriminellen Insassen, während das MfS bei eher politischen Hafthintergründen zuständig war (S. 266). Obwohl die K I/4 über mehr inoffizielle Mitarbeiter als das MfS verfügte, mussten deren Mitarbeiter jede sie interessierende Person für die eigene „Bearbeitung“ erst von der Staatssicherheit freigeben lassen. Aus diesem Grund dürfte das MfS stets Kenntnis von den Absichten der K I/4 gehabt haben. Eine Schlüsselrolle kam hierbei Heinz Colberg zu: Er war seit 1966 in Schwedt Offizier für Kontrolle und Sicherheit (OKS). Als solcher war er offizieller Mitarbeiter der K I/4 und gehörte zum Personal der Vollzugsanstalt. Zugleich lieferte er dem MfS als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) „Johannes“ Informationen. Dies führte zu einer „Vermischung von Verantwortlichkeiten und Verbindungen, die nicht immer nachvollziehbar ist“ (S. 267).
Mit der Übernahme der Verwaltung durch das MfNV 1982 schied die K I/4 als Institution des MdI aus dem Militärstrafvollzug aus. Das MfS war bald darauf mit den hauptamtlichen Mitarbeitern Ronald Krugenberg und Siegfried Knobelsdorf in Schwedt vertreten. Deren Hauptaufgaben waren die Werbung inoffizieller Mitarbeiter und das Anlegen operativer Vorgänge über „auffällige“ Personen (S. 331). Vom Stammpersonal waren als IM von den im Stellenplan vorgesehenen 149 Mitarbeitern bis Ende 1988 zeitweise bis zu 17 Personen für das MfS tätig. Zu den dauerhaftesten IM zählten „Arnold“, Politstellvertreter Wolfgang Bailleu, „Egon“, Stabschef der Disziplinareinheit Horst Zimmermann, und „Rudloff“, Kompaniechef Ulrich Kunkel.
Unter den Militärstrafgefangenen und Strafarrestanten konnte das MfS von 1982 bis 1989 mindestens 34 Personen zur inoffiziellen Zusammenarbeit gewinnen (S. 342). Schwierig gestaltete sich dabei generell die Wahrung der Konspiration, da diese sich den reglementierten Bedingungen des Strafvollzugs anzupassen hatte. Kontakte zwischen MfS und IM, die stets verschleiert werden sollten, fanden darum meistens über „verschlossene Umschläge“ statt, „die entweder über den Kompaniechef oder über Briefkästen dem MfS zugingen“ (S. 343). Persönliche Treffs orientierten sich an den organisatorischen Abläufen im Haftalltag: So erfolgte die zahnärztliche Behandlung im Stabsgebäude, das auch die Zimmer des MfS beherbergte. Eine noch größere Herausforderung stellte die inoffizielle Arbeit unter den Disziplinarbestraften dar, da diese maximal drei Monate in Schwedt einsaßen. Laut Polzin verwundert es aus diesem Grund nicht, dass bisher nur fünf IM unter den Disziplinarbestraften bekannt sind (S. 350).
Über die Motive der einzelnen IM kann nur spekuliert werden. Sie hingen vom persönlichen Hintergrund ab. Doch auch die Hoffnung auf Hafterleichterung oder -verkürzung spielte sicher eine Rolle. Denn zu den Gründen für die Mythenbildung um das Armeegefängnis zählten wohl nicht zuletzt die Verlängerung der Dienstzeit um die Haftzeit und die Kombination des Strafvollzugs mit militärischem Ausbildungsalltag (S. 373). Darüber, inwieweit das MfS Vergünstigungen tatsächlich zubilligte, geben die Unterlagen kaum Auskunft. Eine gern genutzte und unauffällige Variante der „Belohnung“ durch das MfS dürfte aber gewesen sein, vorzeitige Entlassungen, die ohnedies vorgesehen waren, zu befürworten. So konnte dem IM der Eindruck vermitteln werden, dass das MfS positiv Einfluss genommen habe (S. 364).
Mit seinem Buch legt Arno Polzin eine überaus gründlich recherchierte Studie über den DDR-Militärstrafvollzug im Allgemeinen und die NVA-Disziplinareinheit im Besonderen vor. Sein großer Vorteil besteht sicher darin, dass er als Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) einen bisher einzigartigen Zugriff auf einschlägiges Aktenmaterial hat. Dadurch gelingt es ihm, einige Forschungslücken zu schließen. Dies gilt besonders für die Beschreibung der Leitung der Strafvollzugsanstalt und des Haftalltags. Gerade auf diese Aspekte gewährt Polzin tiefe Einblicke. Auch einige Zahlen und Daten kann der Autor korrigieren. Den Haupttext ergänzt Polzin durch thematische Exkurse, „Biogramme“ zu wichtigen Mitarbeitern von Schwedt, Tabellen und Diagramme zu den Strukturdaten des „Armeeknastes“ sowie durch einige Fotos. Wer sich eine genauere Vorstellung von der Strafvollzugsanstalt an der Oder machen möchte, dem sei zusätzlich der Bildteil der insgesamt wegweisenden Untersuchung „Ab nach Schwedt!“ des Militärhistorikers Rüdiger Wenzke1 sowie ein virtueller Geländerundgang im Internet2 empfohlen.
Anmerkungen:
1 Rüdiger Wenzke, Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs, 2. durchgesehene Aufl., Berlin 2013.
2 DDR Militärgefängnis Schwedt 1968, https://www.youtube.com/watch?v=FuQGtvHTOZA (04.11.2018).