M. Vössing: Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik

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Titel
Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik. Westdeutsches Engagement für Vietnam in den 1960er und 1970er Jahren


Autor(en)
Vössing, Michael
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 251
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
619 S., 7 Diagramme
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Vietnamkrieg hatte auch auf Deutschland starke Rückwirkungen: Im Westen dynamisierte er bekanntlich die Proteste der „68er“, in der DDR die staatlich geförderte Solidarität mit dem kommunistischen Norden.1 Das deutsche Engagement für Vietnam reichte aber darüber hinaus. Nachdem die USA von der Bundesrepublik militärische Unterstützung verlangt hatten, forcierte die Bundesregierung ab 1965 kompensatorisch eine humanitäre Hilfe. Zahlreiche große Wohlfahrtsverbände, parteinahe Stiftungen und zivilgesellschaftliche Gruppen halfen in Vietnams Süden, aber auch im Norden. Insgesamt stellte die Bundesrepublik nach den USA bis 1970 das zweitgrößte humanitäre Hilfsprogramm für das ostasiatische Land auf die Beine, wie Michael Vössing betont. In seiner Mannheimer Dissertation will er zeigen, wie dies zustande kam und wie die beteiligten Organisationen mit ihrer selbst proklamierten politischen Neutralität umgingen. Dabei fasst er eingangs die humanitäre Hilfe als Teil der Auslandsbeziehungen. Als Quellen dienen ihm Akten des Bundestagsunterausschusses „Humanitäre Hilfe“ (der hier erst entstand), Archivalien der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und parteinahen Stiftungen sowie Unterlagen einiger Anti-Vietnamkriegs-Gruppen.

Der Untertitel des Buches weckt dabei etwas andere Erwartungen, als der Inhalt bietet: „Westdeutsches Engagement“ lässt an die Hilfe vor Ort denken; die Studie behandelt jedoch fast ausschließlich die bürokratischen Aushandlungsprozesse über die Unterstützungsleistungen in der Bundesrepublik. Ebenso wird mancher bei der Vietnamhilfe „in den 1960er und 1970er Jahren“ auch die Hilfe für die „Boat People“ vor Augen haben, die mit großem Spendenaufkommen und vielfältigem Engagement Ende der 1970er-Jahre erfolgte, während das Buch nur die Kriegsphase 1965 bis 1973 umfasst und die Flüchtlingshilfe ausspart.2 Neuland erschließt die Studie vor allem, indem sie detailliert die Entscheidungswege von Spitzenverbänden der Wohlfahrtspflege belegt. Vor allem zeigt sie deren Versuche auf, neben Südvietnam auch den Norden zu unterstützen, obgleich die Bundesregierung bündnistreu auf der Seite der USA stand und entsprechend öffentliche Mittel vor allem für den Süden einsetzen wollte.

Bis heute am besten bekannt ist das mit öffentlichen Mitteln geförderte Hospitalschiff „Helgoland“ des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), dessen Entsendung Vössing zunächst eingehend beschreibt. Offiziell sollte es ab 1966 neutral allen Verletzten helfen, also auch Kommunisten. Tatsächlich ankerte es nur in Südvietnam, wodurch es de facto eine Form der parteilichen Hilfe war. Das DRK agierte so als enger Partner der Bundesregierung, zumal seine Leitung eng mit dem Bundesinnenministerium und dem Bundesgesundheitsministerium verbunden war. Um dem Vorwurf der Parteilichkeit zu entgehen, sammelte das DRK zugleich Spendengelder für beide Teile Vietnams und bemühte sich auch um Hilfe für den Norden, was nur mit kleineren Medikamentenlieferungen gelang. Gezielte Hilfsleistungen wurden generell dadurch erschwert, dass das Rote Kreuz Nordvietnams de facto ein Monopol über die Verteilung vor Ort hatte. Ebenfalls als Partner der Bundesregierung half der katholische Malteser-Hilfsdienst in Südvietnam, wo er ein Krankenhaus errichtete. Um ihre Unabhängigkeit zu unterstreichen, lehnten die Wohlfahrtsverbände es allerdings ab, im Arbeitsausschuss für Südvietnam mitzuwirken, mit dem die Bundesregierung die Arbeit der Wohlfahrtsverbände koordinieren wollte.

Vössing zeigt zudem, wie konfessionelle Wohlfahrtsverbände, die Diakonie und die Caritas, Hilfe für Süd- wie Nordvietnam organisierten und dabei viel enger als zuvor überkonfessionell zusammenarbeiteten – etwa mit gemeinsamen Spendenaufrufen. Sie bedienten sich in Vietnam konfessioneller Netzwerke, doch erst nach dem Waffenstillstand gelang der Caritas ein Austausch mit dem Episkopat Nordvietnams. Stattdessen bemühte sich die Caritas, über Nordvietnams Botschaft in Ost-Berlin Kontakte für Spendenlieferungen zu erhalten. Relativ viele Helfer schickte zudem die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, die mit öffentlichen Mitteln humanitäre Hilfe für Südvietnam leistete.

Etliche Hilfslieferungen scheiterten. Das galt für eine Care-Pakete-Aktion und die Sendung von Omnibussen. Ebenso scheiterte das Versprechen der Bundesregierung, möglichst viel Personal nach Vietnam zu entsenden. Die USA hatten einige tausend gefordert, am Ende waren lediglich rund 140 bundesdeutsche Helfer dort (S. 284). Eine vom Axel-Springer-Verlag geplante Lieferung von Schulbüchern nach Südvietnam scheiterte wiederum daran, dass die Bundesregierung diese nicht kofinanzieren wollte.

Auch die Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg sammelten Spenden – für Nordvietnam und die südvietnamesische Befreiungsfront. Dabei kooperierten die studentisch geprägte Opposition und ihre „Hilfsaktion Vietnam“ auch mit der Caritas und der Diakonie. Vertreterinnen und Vertreter aller drei Organisationen bereisten zwei Mal zusammen Nordvietnam. Bei der zweiten Reise wurden sie 1970 sogar von Ho Chi Minh empfangen; Vössing zitiert ausführlich die positiven Reise-Eindrücke der Gruppe. Die Bundesregierung lehnte freilich eine Unterstützung dieser Hilfe für den Norden ab, da keine Absprachen auf Regierungsebene möglich seien.

Das letzte Kapitel des Buches behandelt schließlich die Hilfe speziell für Kinder, die vor allem drei weitere Organisationen leisteten: Während SOS-Kinderdorf hauptsächlich in Südvietnam Kinder unterstützte, vermittelten terre des hommes-Deutschland und die Aktion Friedensdorf die medizinische Behandlung in der Bundesrepublik und hiesige Adoption von vietnamesischen Kindern. Von konservativer Seite, vom DRK und vom Bundesfamilienministerium wurde dies als „Entwurzelung“ kritisiert (S. 530).

Michael Vössing kann zeigen, wie humanitäre Hilfe im Austausch mit der Bundesregierung und anderen Organisationen aufkam. Während bislang vor allem der Biafrakrieg (1967–1970) als Ausgangspunkt einer kooperativen humanitären Hilfe galt, betont Vössing, dass die breit koordinierte Vietnamhilfe dem Einsatz in Afrika zum Teil vorausging. Ein Lesevergnügen ist die Arbeit nicht. Die Entscheidungsabläufe in den Organisationen werden in allen Details geschildert, oft mit langen Zitaten aus den Akten und vielen Wiederholungen. Gewiss hätte das Buch um die Hälfte gekürzt werden können. Dass dagegen die Umsetzung der humanitären Hilfe in Vietnam kaum berücksichtigt wird, ist misslich, da dies sicher deutlicher deren Probleme oder auch Leistungen aufgezeigt hätte. Etwas blass bleiben die Bezüge zur bisherigen Fachliteratur zu den behandelten Fragen, etwa zur Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, zum Wandel des Spendenmarktes3 oder zum Zusammenhang von Medien und humanitärem Engagement.4 Lobenswert ist dagegen, dass über die vielfältige „68er“-Literatur hinaus hier eine andere Perspektive eingenommen wird, die wichtige Akteure wie Deutsches Rotes Kreuz, Caritas oder SOS-Kinderdorf einbezieht. Deren weltweites Engagement weiter zu untersuchen, wäre eine lohnende Aufgabe.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Günter Wernicke, „Solidarität hilft siegen!“. Zur Solidaritätsbewegung mit Vietnam in beiden deutschen Staaten. Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre, Berlin 2001.
2 Vgl. Frank Bösch, Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer „Boat People“ in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 13–40, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2017/id=5447 (14.03.2019).
3 Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die frühen 1980er Jahre, Göttingen 2009.
4 Patrick Merziger, Konstruktionen der Katastrophe. Die Rolle der Medien bei der Auslösung und Formierung von Humanitären Hilfsaktionen 1968 – 1973 – 1979 – 1984, in: Arnulf Kutsch / Patrick Merziger / Denise Sommer (Hrsg.), Großbothener Vorträge zur Kommunikationswissenschaft XIV, Bremen 2015, S. 155–183.