Inklusion ist spätestens seit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und dem darin festgeschriebenen Recht aller Menschen auf gemeinsame Erziehung und Bildung ein zentrales Thema des pädagogischen Diskurses – mit weitreichenden Folgen für die Gestaltung von Schule genauso wie für das Selbstverständnis der Disziplin Sonderpädagogik.1 Der Geschichte des Diskurses dieser Disziplin zwischen 1900 und 2000 geht Jan Weisser, Professor am Institut für Spezielle Pädagogik und Psychologie in Basel, in seinem 2017 veröffentlichten Buch nach. Sein explizites Ziel: „Einblicke in die Stabilität der Konfliktfelder um Inklusion und Exklusion“ (S. 19) zu gewinnen. Dies, so Weissers Wunsch, soll zur Gestaltung inklusiver Bildungsmöglichkeiten in Gegenwart und Zukunft beitragen.
Die von Weisser erzählte Geschichte thematisiert den „Diskurs der Hilfsschul-, Heil,- Sonder-, und Integrationspädagoginnen und -pädagogen, den diese im Verlauf des 20. Jahrhunderts geführt, das heißt entwickelt, durchgesetzt, verteidigt und variiert haben“ (S. 13). Damit wird insofern eine Forschungslücke geschlossen, als dass er – anders als bisher im Fach Sonderpädagogik üblich – weder eine Ideengeschichte noch eine Sozial- oder Institutionengeschichte schreibt.2 Stattdessen nimmt er, den diskurstheoretischen Überlegungen von Berger/Luckmann, Keller und Luhmann3 folgend, den Diskurs innerhalb der Profession in einem Längsschnitt in den Blick. Hierbei weiß er sich der Idee einer historischen Sozialwissenschaft verpflichtet, wobei die Betonung auf Sozialwissenschaft liegt.
Als Quellengrundlage dienen drei Zeitschriften, die im Laufe des 20. Jahrhunderts „sowohl das Organ des fachwissenschaftlichen Diskurses wie des professionspolitischen Diskurses darstellen“ (S. 14) – Die Hilfsschule (erscheint ab 1908 bis 1934), Die deutsche Sonderschule (erscheint ab 1934 bis 1943) sowie die Zeitschrift für Heilpädagogik (erscheint ab 1949, zunächst unter dem Titel Heilpädagogische Blätter). Forschungspragmatisch ist diese Entscheidung sicherlich sinnvoll, historisch lässt sie außer Acht, dass zum einen bereits vor 1908 Fachzeitschriften existierten, die „besondere Erziehung und Bildung“ (S. 14) diskutierten, und zum anderen auch nach 1908, entgegen Weissers Annahme, diverse weitere einschlägige Zeitschriften existierten.4
Seine Diskursgeschichte gliedert Weisser in vier Hauptkapitel, die jeweils einen Zeitraum von etwa 20 Jahren umfassen. Für jeden Zeitabschnitt werden fünf Topoi (Aussagen und Überzeugungen) rekonstruiert. Jeder Topos stellt eine diskursive Lösung für fünf Linien der Auseinandersetzung dar. Dabei bleibt unklar, ob Weisser diese Linien aus Sekundärliteratur oder den Quellen (re-)konstruiert. Sie werden systematisiert als a) „Theorie der Schule“, b) „Theorie der Zuschreibungsdifferenz“ c) „politische Theorie“ d) „Institutionalisierungsprozess“ mit Fokus auf die „Konstituierung der Profession“ und e) „moralische Implikationen“ und für jeden Zeitabschnitt expliziert (S. 18).
Kapitel eins widmet sich der Zeit von 1908 bis zum Beginn der NS-Zeit. Für diesen Zeitraum war der Topos „für die schwachbegabten Kinder ist ein gesonderter, ihrem Geisteszustand angepasster Unterricht nötig“ (S. 21) laut Weisser zentral. Hilfsschule und Hilfsschulkind begründen sich hierbei gegenseitig, wobei der erfolglose Besuch der Volksschule, ohne genauer bestimmt zu sein, als einziges Kriterium des schwachbegabten Kindes ausreichend erscheint. Flankiert wurde dieser Topos von Aussagen, die der Hilfsschule eine zentrale Aufgabe im Hygienediskurs der Zeit und für die entstehenden Wissenschaften vom Menschen zuschrieben, sowie von der sehr ausdauernden Überzeugung, dass die Hilfsschule die Volksschule entlastet. Bis Ende der zwanziger Jahre habe sich die Hilfsschulpädagogik als Heilpädagogik zu einer Disziplin entwickelt, die sich erfolgreich „eine autonome Stellung zwischen den medizinischen und philosophischen Wissenschaften“ (S. 41) erkämpft hatte.
Der weiteren Entwicklung während der NS-Zeit widmet sich das zweite Kapitel. Hier gelingt es Weisser auf überzeugende Weise nachzuzeichnen, wie die Hilfsschullehrerschaft die Möglichkeiten nutzte, die die NS Ideologie bot, um weitere Modernisierungsgewinne zu erzielen. Dazu gehörte unter anderem die Etablierung der nun in Sonderpädagogik umbenannten Disziplin als ein einheitliches Arbeitsgebiet, sowie die Betonung der Verantwortung von „Sonderschullehrpersonen für die Gesundheit von Nation und Volk“ (S. 50). Daraus folgte, dass es die Sonderschullehrer/innen waren, denen die Expertise zugeteilt wurde, zu entscheiden, wer nach dem „Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses“ sterilisiert werden sollte. Dies sei geschickt verknüpft worden mit dem Topos, dass (nur) die Sonderschule in der Lage sei, die als minderwertig kategorisierten Kinder zu „noch brauchbaren Kindern der Volksgemeinschaft“ (S. 51) zu erziehen. Die so legitimierte Sonderpädagogik konnte sich stattdessen darauf konzentrieren als Teil des gesamten Bildungssystems wahrgenommen zu werden.
Auf das hohe Maß an Identifikation der sonderpädagogischen Disziplin mit dem rassehygienischen Programm der Nationalsozialisten folgte nach 1945 ein Transformationsdruck, der laut Weisser vor allem durch das diskursive Ereignis der Unterzeichnung der UN-Charta ausgelöst wurde. Charakteristisch sei in dieser Zeit, dass auf der Ebene der gesellschaftlichen Bedeutung der Sonderpädagogik das volkswirtschaftliche Argument einer Kosten-Nutzen-Rechnung zugunsten der Überzeugung zurücktrat, dass die Heil- bzw. Sonderpädagogik „Dienst am benachteiligten Kind“ (S. 83) sei. Das von Weisser als „heilendes Helfen“ (S. 98ff) beschriebene neue Selbstverständnis war für die neu zu konstituierende Disziplin entscheidend. Sie konnte sich der Gräueltaten der NS-Zeit ungeachtet als eine Sonderdisziplin der Pädagogik etablieren, indem sie weiterhin auf den Topos verwies, „dass Kinder mit besonderen Hemmungen besondere Schulformen“ (S. 89) benötigten.
Mit Beginn der 1970er-Jahre stellt Weisser zwei deutliche Verschiebungen innerhalb der sonderpädagogischen Überzeugungen fest. Zum einen wird erstmals überhaupt die Existenz der Sonderpädagogik nicht mehr mit dem Anspruch legitimiert, als separate Disziplin benötigt zu werden. Dagegen sprach der universalistische Anspruch des Rechts eines jeden Kindes auf Bildung sowie die Flexibilisierung des sonderpädagogischen Selbstverständnisses. Stattdessen lauteten zwei zentrale Topoi nun, dass a) die sonderpädagogische Förderung das Regelsystem unterstützt werden solle und b) dass die „Förderung von Kindern und Jugendlichen so inklusiv wie möglich und so speziell wie nötig“ (S. 110) zu gestalten sei. Zum anderen stellte der menschrechtliche Diskurs über das gleiche Recht auf Bildung für alle die „disziplinären Ambitionen der Sonderpädagogik grundsätzlich infrage“ (S. 111). Nicht mehr das Fach, sondern das Subjekt mit seinen Rechten steht nun im Zentrum des Diskurses – was aber nicht bedeute, dass innerhalb der Wissenschaft die historisch tradierten und institutionalisierten Differenzkategorien aufgelöst würden. Dies ist eines von mehreren Beispielen, die Weisser aufführt, um zu zeigen, wie sich das „Establishment sonderpädagogischer Überzeugungen“ (S. 114) den Reformbestrebungen aus der integrativen/inklusiven Pädagogik verweigert ohne „die anhaltenden Konstitutionsprobleme des Faches und seiner Gegenstände“ (S. 134) kompensieren zu können.5 Infolgedessen sei das Fach davon abhängig, dass es den beteiligten Akteuren gelingt, in der Praxis von Erziehung und Bildung einen anerkennenswerten Beitrag zu leisten, um dadurch einen Reputationsgewinn zu erzielen.
Abschließend skizziert Weisser eine auf universalistischen Menschenrechten basierende, inklusive Pädagogik als Möglichkeit der Transformation aus dieser defensiven Position heraus. Begleitet wird das durch einen Epilog, in dem er ein auf den oben genannten (re)konstruierten Linien der Auseinandersetzung basierendes Analyseraster entwirft, das dazu anleiten will, „im Bereich von Erziehung und Bildung Exklusionseffekte geltender Inklusionsbedingungen zu erkennen und etwas gegen sie zu unternehmen“ (S. 147).
Kritisch anzumerken ist, dass hin und wieder die historische Detailgenauigkeit unter dem sehr großen Zeitrahmen von 100 Jahren, den die Untersuchung abdeckt, leidet. So erscheint für den Zeitraum vor 1973 die Hilfsschullehrerschaft als monolithischer Block, in dem fachliche Differenzen quasi nicht existierten. Auch über das „Dispositiv sozial- und schulpädagogischer Maßnahmen“ (S. 33), das sich „zwischen Armen- und Hygienediskurs“ formierte, hätte man gerne mehr erfahren – wie setzte es sich zusammen, wofür bot es eine Lösung, welche Machteffekte hatte es? Selbiges gilt auch für das von Weisser kurz skizzierte Diagnose-Maßnahme-Schema (S. 39), das er als zentral für die Wissensproduktion der Sonderpädagogik ausmacht. Es bleibt offen, wie genau diese Form der Wissensgenerierung funktioniert und was daran problematisch ist. Fragen in Bezug auf die Periodisierung bleiben ebenfalls bestehen – insbesondere im Hinblick auf die angenommene Verbindung von Regimewechseln mit Brüchen im sonderpädagogischen Diskurs. Insgesamt liegt jedoch ein sehr informatives und lesenswertes Buch vor, durch das der sonderpädagogische wie auch der inklusionspädagogische Diskurs ungemein gewinnt, da Weissers Darstellung dazu einlädt, so manche disziplinäre Gewissheit in Frage zu stellen.
Anmerkungen:
1 Vgl. im Überblick Gottfried Biewer / Sandra Schütz, Inklusion, in: Ingeborg Hedderich / Gottfried Biewer / Judith Hollenweger / Reinhard Markowetz (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn 2016, S. 123–127; Gottfried Biewer, Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Recht auf Bildung, in: Oskar Dangl / Thomas Schrei (Hrsg.), Bildungsrecht für alle?, Wien 2011, S. 51–62. Kritisch dagegen Bernd Ahrbeck, Inklusion. Eine Kritik, Stuttgart 2014.
2 Vgl etwa Andreas Möckel, Geschichte der besonderen Grund- und Hauptschule, Heidelberg 2001; Sieglind Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München 2008; Birgit Herz, Zur historischen Proximetrie einer Wissenschaftsdisziplin. Sonderpädagogik und die Dialektik von Inklusion und Exklusion, Bad Heilbrunn 2017.
3 Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1969/2003; Rainer Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998.
4 Vgl. etwa die Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer (Organ der Konferenz für das Idiotenwesen) ab 1880; Die Kinderfehler. Zeitschrift für Pädagogische Pathologie und Therapie ab 1896; EOS. Zeitschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher Abnormer ab 1905; u.a.m.
5 Weitere Beispiele, die aufgeführt werden, ist das Nutzen von Schulkritik als Mittel zur Stabilisierung der Sonderpädagogik als Disziplin sowie die Ablehnung einer integrativen Schule für alle durch die Einführung von individualisierter Förderung.