In der Republik Polen (1918–1939) bildeten die drei Wojewodschaften Tarnopol (ukrainisch: Ternopil), Stanisławów (heute Ivano-Frankivs'k) und Lemberg die Region Ostgalizien, die bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehört hatte und heute einen Teil der Westukraine bildet. Die interethnischen Konflikte in diesem „kulturellen Grenzgebiet“ (S. 7 – besser wäre: Übergangsgebiet), insbesondere zwischen den als Polen betrachteten römisch-katholischen und den als Ukrainer gesehenen griechisch-katholischen Bauern, standen und stehen im Zentrum der Analyse zeitgenössischer polnischer Publizistik, aber auch der Geschichtsschreibung der 1990er-Jahre. Dies liegt nicht zuletzt in der Dynamik von terroristischen Aktivitäten ukrainischer Organisationen und „Pazifizierungs“-Aktionen des polnischen Staates (S. 27–29) begründet. Olga Linkiewicz macht es sich zur Aufgabe, herauszuarbeiten, ob und wenn ja, wie die einheimischen Bauernfamilien eine derartige Ethnisierung auch selbst vornahmen und welche entsprechenden Alltagsstrategien sie entwickelten. Zu diesem Zweck greift Linkiewicz auf Zeitzeugeninterviews zurück, die sie seit 20 Jahren mit einem ganzen Team von Ethnolog/innen vor Ort sowie in Schlesien und an der Eylauer Seenplatte führte. Letztere waren die Zielorte der nicht unbedingt freiwilligen Migration aus Ostgalizien nach 1945. Transkripte der Interviews bilden neben zeitgenössischen Zeitungen die Quellengrundlage für Linkiewiczs Analyse. Leider gibt Linkiewicz nicht an, wann die Interviews jeweils geführt wurden, ob und wie sie zugänglich sind.
Stärker als Nation, Ethnie oder Sprache war traditionell Religion eine identitätsbildende Kategorie auch im gemischtethnischen Ostgalizien. Doch Linkiewicz legt überzeugend dar, dass auch die römisch-katholische und die griechisch-katholische Konfession keine festen Burgen lokaler Identität, sondern vielmehr durchlässig waren: Mischehen waren nicht selten (S. 71f.). Dabei wählten Paare gerne die Konfession des jeweils reicheren Flügels der Familie (S. 50). Andere entschieden sich dafür, die Töchter in der Konfession der Mütter und die Söhne derjenigen der Väter zu erziehen. Die metryka, die Eintragung in kirchliche Tauf-, Heirats- und Sterberegister (es gab in der Republik Polen keine Zivilehen und staatlichen Standesämter) sagte längst nicht immer etwas über den tatsächlichen Gottesdienstbesuch aus: Den Einen war die Art der Zeremonie, Anderen die dort verwendete Sprache, Dritten die topographische Erreichbarkeit der Gottesdienste wichtiger als die „richtige“ Kirche. Selbst zum formellen Konfessionswechsel waren Bauernfamilien zuweilen für materielle Vorteile und – nach dem Ersten Weltkrieg – selbst „für 20 kg Zucker“ (S. 51) bereit. Freilich war solch ein Übertritt viel leichter als der zwischen Katholizismus und Orthodoxie oder Judentum, weil auch die griechisch-katholische Kirche den Papst zum Oberhaupt hatte. Das Wissen darum scheint Linkiewicz ebenso vorauszusetzen wie die Tatsache, dass die oft auch in wissenschaftlicher Literatur zu findende Gleichung „Polen = Römisch-Katholische und Ukrainer = Unierte (Griechisch-Katholische)“ allzu vereinfachend war. In der Volkszählung von 1931 ließen sich zwar 53 Prozent als ukrainisch (ruthenisch) und sieben Prozent als Jiddisch- oder Hebräisch-Sprechende eintragen, aber es gab 60 Prozent Griechisch-Katholische und zehn Prozent mosaischen Glaubens. Das „Pole“-Sein schien noch 1931 nicht durchgängig ethnisch definiert gewesen zu sein. Im Kapitel über „Lateiner und griechisch-katholische Polen“ geht Linkiewicz mit der bisherigen Historiographie ins Gericht, die allzu gerne eindeutige Kategorisierungen selbst uneindeutiger bzw. untypischer Fälle konstruierte. In diesem seit 2014 auch auf Englisch vorliegenden Kapitel1 stellt Linkiewicz die dörfliche(n) Wirklichkeit(en) dagegen und kommt zu dem Schluss, dass Ostgalizien noch keine national definierte Gesellschaft geworden, sondern eine örtliche Gesellschaft für sich geblieben war.
Im ersten von drei Teilen betrachtet Linkiewicz unter dem – seit den 1990er-Jahren im Polnischen verwendeten – Begriff „lokalność“ (Locality, Localness; Lokalität) auch verschiedene den Alltag prägende Festivitäten. Mit lokalność können dabei sowohl die lokalen Besonderheiten dieser (Grenz-)Region gemeint sein, als auch die allgemeine Lokalität, die in der Ethnographie den Gegensatz zur „großen Politik der Herrschenden“ bezeichnet. Linkiewicz bricht die Ordnung einer strukturalistischen Ethnologie auf, indem sie die offensichtliche Dynamik nicht nur von Staat und Herrschaft, sondern auch der sogenannten kleinen Dinge aufzeigt: Bekleidung (S. 88–93) und Sprache unterlagen Moden, „Gebäude, Werkzeuge und andere Gegenstände“ (S. 87) und die Ziegenhaltung (S. 95) wurden neu als typisch für die eigene oder fremde Welt markiert. Die Zeitgenossen unterschieden das Andere vom Eigenen, das Dort vom Hier gerade auch durch solche Dinge und nicht nur durch Religion und Nationalität.
Insbesondere das Grundschulwesen (Teil 2) war als Kampfplatz zwischen der polnischen und der ukrainischen Nation auserkoren. Die bereits in der Habsburgermonarchie eingeführte2 Schulpflicht galt auch in der Polnischen Republik. Nach bestimmten Quoten waren ab 1924 Schulen gesetzlich verpflichtet bzw. befähigt, durch Anträge und Abstimmungen der Eltern ukrainisch als Unterrichtssprache oder doch wenigstens als Unterrichtsfach einzuführen. Tatsächlich mischten sich die Eltern in diese Frage stark ein. Linkiewicz arbeitet heraus, dass neben der Unterrichtssprache für viele Bauernfamilien die Frage der Schul-pflicht von noch stärkerer Bedeutung war. Diese interessierten sich weniger für Schulpolitik als dafür, dass familiäre Arbeitskräfte in Feld und Flur zur Verfügung standen.
Der letzte Teil ist mit „Politik“ betitelt, worunter Linkiewicz – wie offensichtlich schon viele ihrer Quellen – verschiedene Zeremonien, Aufmärsche, staatliche und kirchliche Feierlichkeiten auf Straßen, Friedhöfen und in geschmückten Gebäuden behandelt. Diese sind in bildlichen, schriftlichen und aufgezeichneten mündlichen Quellen gut nachweisbar. Sie sollten bei den Zeitgenossen optisch und akustisch Eindruck schinden und prägten sich daher ein. Linkiewicz stellt dieses Zelebrieren unter Anwesenheit von Vizelandräten und pensionierten Lehrern oft als peinlich und unfreiwillig komisch dar (S. 224). Sie belegt auch, dass es nicht nur nationalistische Zeremonien von polnischer bzw. ukrainischer Seite gab: Gerade in der Zeit der Sanacja-Politik (1926–1935) unter Józef Piłsudski existierten offizielle Bestrebungen einer staatlichen Assimilation, die das friedliche Zusammenleben aller Einheimischen nicht nur postulierte, sondern auch zelebrierte (S. 208f.). Linkiewicz scheint all die – von der Ethnologie traditionell intensiv beachteten – Feierlichkeiten als das Politische im Dorf zu begreifen. Andere Politiken hingegen, wie zum Beispiel Infrastrukturmaßnahmen, lässt sie außen vor. Anhand ihres vielfältigen Materials kann sie belegen, dass die Provinzpolitiker, die Kirchenmänner, vor allem aber die Zielgruppe der zeremoniellen „Politik“ – die einheimischen Bauernfamilien – viel weniger Interesse an dieser Art von Feierlichkeiten aufbrachten, als von den Nationalisten beider Seiten gewünscht worden war und von der Historiographie herausgestellt wird. Interessant wäre zu fragen gewesen, wofür sich die Bauernfamilien stattdessen interessierten: Waren sie alle „unpolitisch“, allgemein frustriert, am Außerdörflichen desinteressiert oder gar glücklich? Befassten sie sich lieber mit Saisonarbeit oder ihrer Verwandtschaft in Kanada?3 Dass sich die Bauernschaft, egal welcher Konfession oder Sprache, für die überlieferte, nun auch durch eine steigende Bevölkerungszahl in Frage gestellte Agrarverfassung, -struktur und -produktion interessierte und die patriarchalische Familienwirtschaft unter Druck geriet, betrachtet Linkiewicz fast immer aus einer funktionalistischen Perspektive. Die Zuteilung von Ackerboden an polnische („mazurische“) Siedler sieht sie als Ausdruck der Nationalitätenfrage, die Einbringung der Ernte als Schulpflichtfrage, die Gründung landwirtschaftlicher Absatzgenossenschaften als Frage staatsnaher oder antistaatlicher Verbände, welche zur Ethnisierung lokaler Identität beitrugen. Warum gerät die für die Einheimischen wichtige Frage ausreichenden Bodenbesitzes und niedriger Abgaben nicht in den Blick?
Linkiewicz behandelt in ihrer preisgekrönten4 Monographie – endlich – die „dörflichen Gemeinschaften“ als solche und nicht als Manövriermasse für mehr oder weniger nationalistische Politiken. Doch eigenartigerweise thematisiert sie nicht die grundlegende Kategorie der Berufe. Nicht unwichtig für „Lokalität und Nationalismus“ wäre zu erforschen, inwieweit sich die Bauernfamilien als Teil einer Bauern-schaft nicht nur des eigenen Dorfes oder der eigenen Gegend begriffen. Hat Linkiewicz solche Fragen den Zeitzeug/innen nicht gestellt? Oder war vorhandenes Material nicht für ihr Thema „Lokalität und Nationalismus“ interessant? Es erweist sich, dass Linkiewicz einen innovativen Zugang zur Nationalismusfrage eröffnet, aber durch die genannte Lücke eine „Lokalität“ nicht in ihrer Ganzheit analysieren kann.
Nicht erst nationale bzw. nationalistische Bestrebungen und staatliche Inklusions- oder Exklusionsziele brachten die „alte Ordnung“, sollte sie jemals existiert haben, durcheinander und die Lokalität in Bewegung. Linkiewiczs Verdienst ist es, in einer, wie sie es nennt, „retrospektiven Ethnographie“ (S. 19f.) die Prozesshaftigkeit und Offenheit von Religion und Mode, von Familienstrukturen und überhaupt der dörflichen Gesellschaften spätestens in der Zwischenkriegszeit herausgearbeitet zu haben. Das ist wertvoll im heutigen immer noch ethnisierten Blick auf Ostmitteleuropa.
Anmerkungen:
1 Olga Linkiewicz, Peasant Communities in Interwar Poland’s Eastern Borderlands. Polish Historiography and the Local Story, in: Acta Poloniae Historica 109 (2014), S. 17–36.
2 Vgl. Jarosław Moklak, Hałyczyna contra Galicja. Ukraińskie szkolnictwo średnie i wyższe w debatach Sejmu Krajowego galicyjskiego 1907–1914, Kraków 2013.
3 Vgl. Matthias Kaltenbrunner, Das global vernetzte Dorf. Eine Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 2017.
4 Siehe Dr Olga Linkiewicz laureatką Nagród Historycznych „Polityki” 2019, https://ihpan.edu.pl/dr-olga-linkiewicz-laureatka-nagrod-historycznych-polityki-2019/ (21.11.2019).