Seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich die Forschung mit neuem Elan mit sowjetischen Verhaftungswellen und Gerichtsprozessen gegen Deutsche in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und in der DDR auseinandergesetzt. Die partielle Öffnung der post-sowjetischen Archive sowie der Zugang zu den Unterlagen der ehemaligen DDR erlaubten erst jetzt eine genauere statistische Erfassung sowie eine aktengestützte Analyse der Vorgehensweise und Motive sowjetischer Stellen und ihrer ostdeutschen Unterstützer.1 Damit wurden Einschätzungen von Zeitzeugenberichten und westlichen Außenanalysen substantiell erweitert. Tatsächlich prägten in der Epoche des Kalten Kriegs vielfach dessen offizielle Diskurse und Fronten die Interpretationen von sowjetischer Nachkriegsjustiz und Internierungspolitik. Im Westen sprach man recht pauschal davon, dass Verhaftete und Verurteilte nach 1945 sowjetischer Rachsucht, politischer Verfolgung und niederen Motiven ostdeutscher Quislinge zum Opfer gefallen seien. Der Osten wertete das eigene Vorgehen als konsequente Verfolgung nationalsozialistischer Täter sowie als notwendigen Schutz der neuen, besseren Ordnung. Für Betroffene wiederum erwiesen sich in dieser politischen Gesamtmatrix ihr individuelles Leiden hinter Stacheldraht bzw. eine tatsächliche oder empfundene Unverhältnismäßigkeit, mit denen die UdSSR ihre Handlungen verfolgte und abstrafte, als wichtige Fluchtpunkte der Erinnerungen. Zudem handelte es sich bei ihren Beschreibungen stets auch um indirekte Auseinandersetzungen mit dem Umgang, den nicht-kommunistische Gesellschaften und deren politische Repräsentanten mit diesem besonderen Aspekt der deutschen respektive deutsch-sowjetischen Vergangenheit pflegten. Ehemalige Insassen stalinistischer Gefängnisse monierten hier in aller Regel, dass man in der so genannten freien Welt ihre Erlebnisse nicht angemessen würdige und ihre Erkenntnisse zum eigenen Schaden ignoriere (S. 9). Diese Wahrnehmung fiel jedoch, betrachtet man etwa die Publikationslandschaft in der „alten“ Bundesrepublik, zu negativ aus.2
Derlei überkommene Diskrepanzen in Bewertung und Einordnung beeinflussen durchaus auch heute noch erinnerungskulturelle Diskussionen. Die trotz allem nach wie vor schwierige Überlieferungslage erschwert die Debatte zusätzlich. Zudem bleibt die Herausforderung, die Vielfalt individueller Schicksale sowie Komplexität und zugleich Flexibilität sowjetischer Motivationen und Maßnahmen gemeinsam in den Blick zu nehmen.
Die Studie von Andreas Weigelt dokumentiert entlang des ostdeutschen Städtchens Bad Freienwalde diese Bandbreiten und Dynamiken. Präsentiert werden Fälle von Frauen und Männern, die bei der Verhaftung hier wohnten, dazu von Personen, die in der Stadt in sowjetischer Haft waren oder die von sowjetischen Dienststellen aus Bad Freienwalde in anderen Gegenden verhaftet wurden. In diese Kategorien fallen insgesamt 317 Menschen. Von ihnen waren 255 in so genannten Speziallagern inhaftiert, 62 wurden von sowjetischen Militärtribunalen abgeurteilt. Die Studie erhebt nicht den Anspruch, mit diesem Personenkreis einen repräsentativen Querschnitt der über 120.000 Internierten und rund 35.000 Verurteilten zu untersuchen. Tatsächlich verdankt sich der genaue Blick auf den brandenburgischen Ort in der Nähe der Oder dem Engagement von Angehörigen ehemaliger Häftlinge (S. 270). Im Endergebnis bereitet der Band so vor allem das vorhandene personenbezogene Quellenmaterial zu den lokalen Einzelfällen auf. Die eigentliche Ermittlungstätigkeit sowjetischer Organe oder die Zusammenarbeit sowjetischer und deutscher Stellen und Personen bleibt beispielsweise mehrheitlich außen vor.
Ungeachtet dessen erweist sich die Studie in zweierlei Hinsicht als aufschlussreich. Erstens führt sie an den konkreten Beispielen die komplexe Quellenlage mit ihren zahlreichen Verästlungen, Lücken und interpretatorischen Herausforderungen vor Augen. Einzelschicksale und erst recht wichtige Zusammenhänge der Thematik können offenkundig erst erhellt werden, indem Unterlagen der BStU, des DRK-Suchdienstes, Erinnerungs- und Zeitzeugenberichte, Aussagen der NS-Bürokratie, Dokumente des Ministeriums des Innern der DDR sowie Urteils- und Strafakten sowjetischer Behörden zusammengeführt werden. Ohne diesen multiperspektivischen Zugriff führen einseitige Bewertungen auf Basis einzelner Quellengruppen leicht in die Irre.
Ungeachtet solcher Anstrengungen bleibt es einstweilen unmöglich, alle relevanten Einzel- und Gruppendaten zusammenzutragen. Dementsprechend verbieten sich für eine geschichtswissenschaftliche wie erinnerungskulturelle Betrachtung pauschale Gesamturteile. Hervorzuheben bleibt jedoch unter anderem die Erkenntnis, dass die sowjetische Besatzungsmacht in ihrem Bestreben, den Nationalsozialismus endgültig zu zerschlagen und die eigene Präsenz zu schützen, Verhaftungen weniger blindwütig als kalkuliert und ausgewählt vornahm, zumindest vornehmen wollte. Allerdings lässt sich umgekehrt aus Verhaftungen keineswegs automatisch auf politische anti-kommunistische, geschweige denn demokratisch motivierte Widerstandstätigkeit der Betroffenen zurückschließen (S. 265–266). Ohnehin bleiben die Bandbreite und Streuung der individuellen Schicksale enorm, wie auch in diesem Band aufschlussreiche Einzelbeispiele illustrieren. Die entsprechenden sowjetischen Ermittlungen waren in der Tat vielfach völlig unzureichend, ideologisch durchtränkt und mehr am Nachweis von tschekistischer Wachsamkeit als an der Wahrheitsfindung interessiert (S. 136–198, 226–265).
Zweitens zeigt die Studie vor diesem Hintergrund auf, wie schwierig die Herausforderung bleibt, angesichts sehr verschiedener Schicksale und Gruppen eine adäquate Gedenklösung für die Gruppe der von sowjetischen Verhaftungen, Deportationen und Verurteilungen Betroffenen zu entwickeln (S. 11). Eine genaue Aufarbeitung aller individuellen Fälle, die mögliche Verantwortlichkeiten auch von Verhafteten klar benennt, ist hier sicherlich ein wichtiger Schritt. Diese genaue Rekonstruktion wird auch in Zukunft tradierte Denkmuster und Bewertungskategorien aufbrechen. Es wird, das legen frühere Erinnerungskonflikte in dieser Sphäre nahe, hoher Reflexion und Kompromissbereitschaft bedürfen, um zumindest ein Gedenken zu erreichen, das das breite Spektrum und die komplexe Einbettung des Geschehens erfasst.3
Anmerkungen:
1 Vgl. Sergej Mironenko / Lutz Niethammer / Alexander von Plato (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland, 1945–1950, 2 Bde., Berlin 1998. Aus der Zeit vor 1989/90 vgl. Karl W. Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung, 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979. Zuletzt Klaus-Dieter Müller / Thomas Schaarschmidt / Mike Schmeitzner / Andreas Weigelt (Hrsg.), Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche, 1944–1947, Göttingen 2015.
2 Vgl. beispielhaft die Bibliographie in Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten, 1945–1955, Köln 2003, S. 813–865.
3 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2013.