Wie sah sie aus, die sogenannte Bonner Republik? Architektonisch hat die alte Bundesrepublik nicht den besten Ruf. Das gilt für die ehemalige Bundeshauptstadt und ihr in Vergessenheit geratendes Regierungsviertel, es gilt aber generell für viele Gebäude der langen westdeutschen Nachkriegszeit, die heute zwischen saniertem Gründerzeitaltbau und dem neuesten Standard ein Schattendasein klein und trist wirkender, in die Jahre gekommener Zweckmäßigkeit fristen. Unansehnlich gewordene Kachelfassaden, öde Funktionsbauten und die Auswüchse des Leitbilds einer „autogerechten Stadt“ sind dann Ursache sowie Wirkung eines Phänomens, dessen Nachtseiten in Kulturwissenschaft und Populärkultur – durchaus ironisch – unter dem Stichwort „BRD Noir“ diskutiert werden.1
Allerdings ist Kritik an der nüchternen Wiederaufbau-Moderne keineswegs neu, wie die Architekturhistorikerin Elisabeth Plessen in ihrer opulent publizierten Dissertation zeigt, sondern ein Kontinuum der Debatten über Architektur und Städtebau seit 1949. Jahrzehntelang beklagten Intellektuelle wie Wolf Jobst Siedler oder Karl Heinz Bohrer die ästhetischen Defizite Westdeutschlands. So wie viele Kritiker Bonn als Sitz von Parlament und Regierung unangenehm kleinstädtisch fanden, wurden zahlreiche Staatsbauten, die bis zum Berlin-Umzug entstanden, oft als uninspiriert, ja stillos geschmäht. Mit der Bonner Baukunst sei „kein Staat zu machen“, fasste die Architekturkritikerin Ingeborg Flagge 1992 die gängigen Lästereien zusammen.2 Schon 1955 hatte der Journalist François Bondy in der „Weltwoche“ über das „Stilchaos“ im „Funktionärsviertel“ am Rhein gespottet (zitiert im besprochenen Buch, S. 29).
Wer hingegen die Architektur der westdeutschen Nachkriegsmoderne verteidigen wollte – seit den 1980er-Jahren taten dies etliche Denkmalschützer –, lobte ihre leicht wirkenden Formen, die Funktionalität bei gleichzeitiger Zurückhaltung. Säulen und Symmetrie waren in der alten Bundesrepublik „out“, klassische Repräsentationsmerkmale oder Anklänge an NS-Architektur wurden sorgsam vermieden. „Wiedergutmachungsmoderne“ hat der Kunsthistoriker Heinrich Klotz das treffend genannt.3 Der Verzicht auf Erhabenheit galt als ausgesprochen demokratisch, weil alle Ansätze zu einer Ästhetisierung der Politik des Totalitarismus verdächtigt wurden. In den Augen der Befürworter machte gerade die Bescheidenheit die Bonner Republik vielleicht nicht sympathisch, aber unverdächtig – ihre Staatsarchitektur ebenso wie das ganze Land.
Zwischen Provinzschelte und dem Lob der Bescheidenheit schaut Plessen wohlwollend auf viele der ihrer Meinung nach „architektonisch anspruchsvolle[n] Bundesbauten“ (S. 9), die zwischen 1949 und 1989 entstanden sind. Vor allem aber kennzeichnet es ihren kulturhistorischen Ansatz, dass sie die Bundeshauptstadt, Architekturdiskurse und die politische Kultur der Bundesrepublik konsequent zusammendenkt. Plessens Thema im engeren Sinne sind die Bauten des Bundes, also das, was in Verantwortung insbesondere der Bundesbauverwaltung geplant wurde. Für diese Gebäude interessiert sich Plessen jedoch nicht allein kunsthistorisch. Vielmehr interpretiert sie diese – im Anschluss an Margarete und Alexander Mitscherlichs sozialpsychologischen Essay „Die Unfähigkeit zu trauern“4 – als Manifestationen einer verunsicherten Gesellschaft. Die Architektur, aber genauso die Debatten, die darüber geführt wurden, versteht Plessen als „Spiegelbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft in ihrer langen Suche nach einer Identität“ (S. 9) – und daher als wertvolle Quellen für eine Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik angesichts von NS-Vergangenheit, nationaler Teilung und einer explizit nur provisorisch beantworteten Hauptstadtfrage.
Die Studie gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Abschnitt, mit „Grundlagen“ überschrieben, geht es um die Bundesbaudirektion; porträtiert werden aber auch Politiker, die sich hier engagiert haben: der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt beispielsweise, auf den die Formel von der „Demokratie als Bauherr“ zurückgeht, oder Helmut Kohls Bauminister Oscar Schneider, der später maßgeblich die gläserne Kuppel des Berliner Reichstagsgebäudes durchgesetzt hat. Darüber hinaus präsentiert Plessen Bilder und Topoi der Bonner Provinzialität, die in den Medien formuliert wurden oder in Romanen wie Wolfgang Koeppens „Das Treibhaus“ (1953) und John le Carrés „A Small Town in Germany“ (1968). Selbst wenn nur wenige Bauprojekte größere öffentliche Aufmerksamkeit fanden, habe das mediale Image Bonns, so Plessen, die Planungen direkt beeinflusst, und zwar begrenzt. Das gilt vor allem für den sogenannten Baustopp Mitte der 1950er-Jahre, als der Bundestag den Beschluss fasste, am Rhein nur das Nötigste zu bauen, um den Hauptstadtanspruch Berlins nicht in Frage zu stellen. In der Folge prägten Improvisationen den städtebaulichen Charakter des Provisoriums.
Im zweiten Teil bietet Plessen detaillierte Diskursanalysen von zehn wichtigen Beispielen – etwa dem Neubau des Bundeskanzleramts in den 1970er-Jahren5 –, die alle die These der Autorin stützen: Architekturkritik ist, zumal bei öffentlichen Gebäuden, auch eine Debatte über Politik und Gesellschaft und im westdeutschen Fall ging es dabei zuerst um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, außerdem um die deutsche Teilung. Bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel, dem ersten von Plessen dargelegten Exempel, gab sich die Bundesrepublik demonstrativ modern, gläsern-transparent und bescheiden (wobei sie zugleich selbstbewusst als „Deutschland“ die gesamte Nation zu repräsentieren beanspruchte). Konsequent durchbuchstabiert wurde bei diesem sorgfältig vorbereiteten Auftritt die „Haltung der Zurückhaltung“, wie das Werkbund-Periodikum „Werk und Zeit“ zeitgenössisch lobte (zitiert auf S. 139). Wenn man die Repräsentationsarchitektur der alten Bundesrepublik auf einen gemeinsamen Nenner bringen wollte, wäre es wohl dieser: funktional, im Stil einer gemäßigten Moderne entworfen und frei von Beeindruckungseffekten, um das Bild eines „neuen Deutschlands“ zu zeichnen. Zu Recht bezeichnet Plessen den Brüsseler Pavillon daher als „Kristallisationspunkt bundesdeutscher Befindlichkeit“ (S. 170) – als Beispiel, das Schule machte.
Das dokumentarische Herzstück der Studie ist schließlich drittens ein Katalog, in dem mehr als 150 öffentliche Gebäude aufgeführt werden, die zwischen 1949 und 1989 entworfen wurden, beginnend mit dem „Bundeshaus“ genannten, mehrfach erweiterten Parlamentsgebäude über die Bundesmonopolverwaltung in Offenbach oder das Bundesarchiv in Koblenz bis zu Botschaftsbauten und Auslandsschulen. Sogar 14 nicht realisierte Projekte werden dokumentiert, darunter das in den 1980er-Jahren stark umstrittene, zunächst im Berliner Spreebogen geplante Deutsche Historische Museum. An dieser Stelle einige Worte zur äußeren Form der Publikation, die für eine Dissertation außergewöhnlich ist: Das großformatige Buch ist mit einem Gewicht von 3,6 kg und mehr als 500 Abbildungen prächtig gestaltet. In der Summe entsteht aus Plessens Arbeit ein „Catalogue raisonné“ der Bundesbauten der Bonner Republik – durchaus zu deren Ehrenrettung. Das ist Grundlagenforschung im besten Sinne, zumal es eine vergleichbar umfassende Zusammenstellung von offizieller Seite nicht gibt.6
Mit ihrem Blick auf die Bundesbaudirektion hat Plessen einen anderen Fokus als frühere Studien, die thematisch die Parlamentsarchitektur7, die üppige Verwendung von Glas8 oder einzelne Architekten9 in den Blick genommen haben. Plessen geht es stattdessen um eine Gesamtschau über mehr als vier Jahrzehnte.10 Der Nachteil dieser weiten Perspektive mit dem „Bund als Bauherrn“ (S. 104) ist, dass der Bund hier als Kollektivsingular erscheint und wichtige Differenzierungen, auch Konflikte außen vor bleiben. Die wohl wichtigste – von der Autorin selbst als offene Frage „am Rande“ angesprochen (S. 265f.) – betrifft die Rolle des Werkbunds, des wohl einflussreichsten Planer-Netzwerks der frühen Bundesrepublik.11 Der führende Werkbund-Architekt Hans Schwippert leitete den Umbau der Bonner Pädagogischen Akademie zum Bundeshaus und zwar noch vor Gründung der Bundesrepublik im Auftrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die mit dem Werkbund eng verknüpft war. Doch obwohl Schwippert auch den Expo-Auftritt 1958 konzipierte, lag er mit der 1949 konstituierten Bundesbauverwaltung im Streit. Hier wären also die Aushandlungsprozesse, das Mit- und Gegeneinander von Bauverwaltung, Politik und freien Architekten genauer zu bestimmen, auch in ästhetischer Hinsicht und im Umgang mit der architektonischen Tradition oder der NS-Vergangenheit – zumal von weiteren Werkbund-Vertretern, etwa Sep Ruf und Egon Eiermann, zentrale Beispiele in Plessens Sammlung stammen. Von diesem Einwand abgesehen, handelt es sich bei Elisabeth Plessens „Bauten des Bundes“ um ein beeindruckend material- und detailreiches Referenzwerk.
Anmerkungen:
1 Philipp Felsch / Frank Witzel, BRD Noir, Berlin 2016. Ebenfalls im Verlag Matthes & Seitz erschienen: Joachim Bessing, Bonn. Atlantis der BRD. Mit 24 Fotografien von Christian Werner, Berlin 2019. Für zahlreiche Foto-Beispiele, auch von Innenräumen, siehe http://www.christianwerner.org/projects/bonn-atlantis-der-brd und http://www.christianwerner.org/projects/stillleben-brd (13.10.2019).
2 Ingeborg Flagge, Provisorium als Schicksal. Warum mit der Bonner Staatsarchitektur kein Staat zu machen ist, in: dies. / Wolfgang Jean Stock (Hrsg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 224–245. Der Band erschien im Auftrag des Deutschen Bundestags, mit einem Vorwort von Rita Süssmuth.
3 Heinrich Klotz, Architektur als Staatsrepräsentation der Bundesrepublik Deutschland, in: Merkur 40 (1986), S. 761–767, hier S. 761 (im Doppelheft „Ästhetik und Politik“).
4 Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. Vgl. Tobias Freimüller, Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und „Vergangenheitsbewältigung“, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 66–70.
5 Hierzu inzwischen (nach dem Einreichen von Plessens Dissertation erschienen): Merle Ziegler, Kybernetisch regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969–1976, Düsseldorf 2017; rezensiert von Sylvia Necker, in: H-Soz-Kult, 31.08.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25354 (13.10.2019).
6 Matthias Hannemann / Dietmar Preißler, Bonn – Orte der Demokratie. Der historische Reiseführer, 2. Aufl., Berlin 2014, http://www.wegderdemokratie.de (13.10.2019).
7 Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, Berlin 1995; Guido Brendgens, Demokratisches Bauen. Eine architekturtheoretische Diskursanalyse zu Parlamentsbauten in der Bundesrepublik Deutschland, Aachen 2008.
8 Deborah Ascher Barnstone, The Transparent State. Architecture and Politics in Postwar Germany, London 2005; Sabine Körner, Transparenz in Architektur und Demokratie, Dortmund 2003.
9 Gerda Breuer / Pia Mingels / Christopher Oestereich (Hrsg.), Hans Schwippert (1899–1973). Moderation des Wiederaufbaus, Berlin 2010.
10 Eine Interpretation, die von der Weimarer Republik über das „Dritte Reich“ bis in die Nachkriegszeit führt: Christian Welzbacher, Monumente der Macht. Eine politische Architekturgeschichte Deutschlands 1920–1960, Berlin 2016.
11 Christopher Oestereich, Der Werkbund im Rheinland, in: Dieter Breuer / Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.), Öffentlichkeit der Moderne – die Moderne in der Öffentlichkeit. Das Rheinland 1945–1955, Essen 2000, S. 431–443.