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Titel
Stalin and the Fate of Europe. The Postwar Struggle for Sovereignty


Autor(en)
Naimark, Norman M.
Erschienen
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
27,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Stalin war am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht daran interessiert, kommunistische Revolutionen in Europa zu schüren. „There would be no dictatorship of the proletariat, no collectivization, and no socialization of property. The Soviets were not interested in red flags flying over city halls or insurrectionary workers’ demonstrations in the streets.” (S. 268f.) Die geostrategischen Interessen der Sowjetunion sollten durch die Etablierung „neuer Demokratien“ unter Beteiligung der Kommunisten gefördert werden, die im Einzelnen, je nach den Kräfteverhältnissen und der Art des sowjetischen Interesses an dem jeweiligen Land, sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Die Bildung eines einheitlich nach sowjetischem Vorbild umgestalteten Ostblocks war mit solchen Zukunftsvorstellungen nicht vereinbar, und die Teilung Deutschlands in Ost und West schon gar nicht. Folglich war die weltpolitische Situation in den ersten Nachkriegsjahren viel offener, als mit Blick auf die amerikanisch-sowjetischen Spannungen oft angenommen wird.

Dieser Befund, zu dem der bekannte amerikanische Osteuropa-Historiker Norman M. Naimark, Lehrstuhlinhaber an der Stanford University, bei der Auswertung von Fallstudien zu sieben unterschiedlichen Ländern bzw. Konflikten gelangt, ist nicht grundsätzlich neu.1 Die Fallstudien, die er unter Auswertung der einschlägigen Spezialliteratur und gelegentlichem eigenen Rückgriff auf Archivmaterial präsentiert, bekräftigen ihn aber einmal mehr. Sie heben insbesondere die Rolle der Europäer und ihrer politischen Führer (darin eingeschlossen: der europäischen Kommunisten) bei der Etablierung der Nachkriegsordnung Europas hervor, so wie wir sie kennen.

Naimark beginnt seine Fallstudien mit einem Blick auf die sowjetische Besetzung der dänischen Ostseeinsel Bornholm, die in den Arbeiten zu den Anfängen des Kalten Krieges nur selten erwähnt wird. Dass die Besetzung über das Ende der Kampfhandlungen im Ostseeraum hinaus andauerte, erklärt er mit Hoffnungen, auf die dänische Politik im Sinne einer Beschränkung der britischen Dominanz Einfluss nehmen zu können, und einer Faustpfand-Politik im Hinblick auf die Regelungen des Zugangs zur Nordsee. Nachdem die dänischen Parlamentswahlen am 30. Oktober 1945 die Vormachtstellung der Sozialdemokraten eindrucksvoll bestätigt hatten, und Moskau auch keinen Vorwand liefern wollte, dass sich die US-Marine dauerhaft auf Grönland und den Färöer-Inseln festsetzte, führte die demonstrative Gutwilligkeit der dänischen Regierung im Frühjahr 1946 zur Entscheidung für den Abzug.

Die zweite Fallstudie gilt Albanien. Sie handelt im Wesentlichen davon, wie der kommunistische Parteichef Enver Hodscha das wachsende Misstrauen Stalins gegenüber den Machtansprüchen Titos im südosteuropäischen Raum dazu nutzte, die Tendenzen zur Integration des kleinen Balkanlandes in die jugoslawische Föderation abzuwehren und sich als Parteiführer und Alleinherrscher zu behaupten. En passant wird deutlich, dass Stalin die jugoslawische Unterstützung für die Partisanen in Griechenland vor allem deswegen bekämpfte, weil er eine militärische Intervention Großbritanniens und der USA befürchtete. Hodscha riet er noch im März 1949, sich um die Eingliederung der nationalistischen Bourgeoisie zu bemühen.

In Finnland, drittes Fallbeispiel, scheiterten sowjetische Bemühungen zur Etablierung einer „neuen Demokratie“ an der Kombination von Selbstbewusstsein und Berücksichtigung sowjetischer Sicherheitsinteressen, die Karl Mannerheim und Juho Kusti Paasikivi an den Tag legten. Im Frühjahr 1948 waren die Sowjets zur Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrags bereit, um eine Hinwendung Finnlands zur NATO zu verhindern. Als Paasikivi den kommunistischen Innenminister Yrjö Leino nach der Vertragsunterzeichnung entließ, hielten sie die finnischen Genossen davon ab, eine Streikbewegung gegen ihre Entmachtung zu inszenieren. Ähnlich verhielt es sich in Italien, dem Naimark das nächste Kapitel widmet: Als kommunistische Kräfte im Frühjahr 1948 Vorbereitungen für eine mögliche gewaltsame Machtübernahme trafen, wurden sie sowohl von Parteichef Palmiro Togliatti als auch von Stalin davon abgehalten. Wie in Griechenland war auch hier das Risiko eines militärischen Eingreifens der USA in Stalins Wahrnehmung zu groß.

Im Kapitel über die Berliner Blockade 1948/49 wird einmal mehr deutlich, dass das Ziel, die Westmächte aus den Westsektoren der Stadt zu vertreiben, auf das Drängen der SED-Führung zurückging. „Let’s try, and maybe we’ll be successful“, antwortete Stalin auf einen entsprechenden „Wunsch“ von Wilhelm Pieck (S. 172). Das eigentliche Ziel Stalins blieb aber, die Gründung eines westdeutschen Staates zu verhindern und die Westmächte an den Verhandlungstisch zurückzuzwingen. Dass das nicht gelang, ist nicht nur dem Erfolg der Luftbrücke zu verdanken. Naimark hebt insbesondere die Führungskunst Ernst Reuters hervor, der es vermochte, die Berliner für die Wahrung der Freiheit zu mobilisieren und damit auch ein gemeinsames Narrativ für den entstehenden Westen zu schaffen. Weiterhin weist er darauf hin, dass die westliche Gegenblockade erheblichen wirtschaftlichen Schaden auf der östlichen Seite anrichtete.

Im sechsten Kapitel „Gomułka versus Stalin“ wird gezeigt, dass die Mahnungen des obersten Bolschewisten, auch in Polen keine „Diktatur des Proletariats“ zu errichten, beim polnischen Parteichef Władisław Gomułka auf fruchtbaren Boden fielen. Von der Notwendigkeit überzeugt, in der Gesellschaft breite Unterstützung finden zu müssen, hielt Gomułka im Unterschied zu vielen anderen Genossen aber auch dann noch am „eigenen Weg“ zum Sozialismus fest, als Stalin in Reaktion auf den Marshall-Plan auf strenge Kontrolle der Kominform-Parteien umschaltete. Das führte zu einer erstaunlichen Machtprobe mit Stalin, die der polnische Parteiführer letztlich nur vorübergehend verlor. Naimark schildert sie mit offenkundigem Respekt für das Selbstbewusstsein und das politische Geschick des Vaters der polnischen „Volksrepublik“.

Eine ähnliche Kombination von staatsmännischen Qualitäten findet er bei Karl Renner, Karl Gruber und Leopold Figl, den wichtigsten Akteuren des letzten Kapitels, das der Entwicklung in Österreich gewidmet ist. Hier werden die örtlichen Kommunisten oft ermahnt, sich um eine stärkere Massenmobilisierung zu kümmern, weil die sowjetischen Besatzer ja bald abziehen werden. Dass der Abzug tatsächlich so lange auf sich warten ließ, erklärt Naimark mit Misstrauen auf beiden Seiten: Die amerikanischen Joint Chiefs of Staff wollten kein militärisches Vakuum hinterlassen, das es den Sowjets ermöglichte, sich des ganzen Landes zu bemächtigen; und Stalin fürchtete wohl, dass die Westmächte nach einem Abzug aus Österreich auch den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn und Rumänien verlangen könnten.

Manchmal weisen Naimarks Analysen nicht die nötige Tiefenschärfe auf. So bemerkt er zu der „Stalin-Note“ vom 10. März 1952 nur, dass „most historians now agree that this Soviet initiative was little more than a propagandistic effort“ (S. 263); mit meinen anderslautenden Forschungsergebnissen2 setzt er sich nicht auseinander. Problematisch ist auch, dass er die Bestrebungen der kommunistischen Parteiführer und der anderen politischen Führer der befreiten europäischen Länder auf den gemeinsamen Nenner eines Kampfes um die nationale Selbstbestimmung bringt (S. 267). In der Schilderung der unterschiedlichen Fallbeispiele ist Naimark aber durchweg überzeugend. Mit bewundernswerter Kenntnis der jeweiligen Landessprachen vermag er die Spezifika der unterschiedlichen Konstellationen herauszuarbeiten und in den Gesamtzusammenhang des beginnenden Kalten Krieges einzuordnen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa die interpretierende Auswertung der bis dahin zugänglichen Quellen aus dem früheren sowjetischen Machtbereich im Nachwort zu Neuausgabe meiner Darstellung der Geschichte der Blockbildung: Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, Neuausgabe München 2000 (1. Aufl. 1980), S. 352–389.
2 Wilfried Loth, Die Entstehung der „Stalin-Note“. Dokumente aus Moskauer Archiven, in: Jürgen Zarusky (Hrsg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952, München 2002, S. 19–115.

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