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Titel
Kurt Hiller – Rezeptions-Geschichte(n). Beiträge einer Tagung der Kurt Hiller Gesellschaft und des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte


Herausgeber
Lütgemeier-Davin, Reinhold
Erschienen
Neumünster 2019: von Bockel Verlag
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Alexander Gallus, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz

Kurt Hiller (1885–1972) war Mitbegründer des Expressionismus, führender Vertreter des literarischen Aktivismus und Protagonist des Politischen Rates geistiger Arbeiter während der Novemberrevolution in Berlin. Er gehörte ab Mitte der 1920er-Jahre zu den tonangebenden Stammautor/innen der „Weltbühne“, bevor er im Exil – zunächst in Prag, dann in London – an publizistischem Einfluss verlor. Sein Drang nach politisch-intellektueller Wirkung ließ sich davon aber nicht aufhalten. So gründete er 1939 den „Freiheitsbund Deutscher Sozialisten“, an den ab 1956 in der Bundesrepublik der „Neusozialistische Bund“ anschloss. Beide Gruppierungen waren dazu angetan, den in eigenwilliger Weise sozialistische und „geistesaristokratische“ Bestandteile verbindenden Leitideen des „Ego-Dogmatikers“1 ein Forum zu bieten, mochte es noch so klein und selbstreferentiell sein.

Es fragt sich vor dem Hintergrund dieser – bei aller denkerischer Konstanz – so wendungsreichen und aufregenden Biographie, weshalb man hier von einem „Wagnis Rezeptionsgeschichte(n)“ (S. 7) zu sprechen habe, wie es Reinhold Lütgemeier-Davin, der Herausgeber dieses Bandes, tut. Ein Grund liegt für Hillers Gesamtvita auf der Hand: Anders als zu Weimars Zeiten verlor er seit seiner Emigration als öffentliche Figur an Ausstrahlung, geriet zunehmend ins Abseits und blieb auch nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik 1955 bestenfalls eine „zentrale Randfigur“.2 Ein weiterer Grund für Zweifel an der Tragfähigkeit von Rezeptionsgeschichte in Hillers Falle dürfte an seiner gleich mehrfachen Außenseiterposition liegen. Der streitbare (und streitsüchtige) Charakter beförderte sie auch selbst, wenn er seinen „tintentriefenden Tomahawk“ (manchmal sogar gegenüber Geistesverwandten) schwang, wie es Carl von Ossietzky 1924 einmal ausdrückte (S. 15); sie wurde ihm aber mindestens ebenso durch äußere Umstände und politisch-gesellschaftliche Bedingungen auferlegt. So ist seine Lebensgeschichte erst vor wenigen Jahren als eine der dreifachen Diskriminierung – als Jude, Homosexueller und Linksintellektueller – überzeugend dargestellt worden.3

Der Sammelband, der auf eine Jahrestagung der „Kurt Hiller Gesellschaft“ zurückgeht, gliedert sich neben der Einleitung in sechs Abschnitte: An erster Stelle findet sich ein Kapitel zum Autor der „Weltbühne“ anhand des nicht immer spannungsfreien Verhältnisses zu Kurt Tucholsky; an zweiter eines über den energischen Sexualreformer, der den § 175 des Strafgesetzbuches als „Schmach des Jahrhunderts“ (1922) bezeichnete und sich wiederholt für eine Strafrechtsreform starkmachte, so auch 1927 in dem „Gegen-Entwurf“ des „Kartells für Reform des Sexualstrafrechts“ unter seiner Federführung. Wie häufig klagte Hiller über eine unzureichende öffentliche Würdigung. Der große Unbequeme fühlte sich gelegentlich auch dann zurückgesetzt und verkannt, wenn dem gar nicht so war. Raimund Wolfert kann schließlich mit vielen Pressezeugnissen eine große mediale Resonanz dokumentieren, auch wenn dem Reformvorschlag eine unmittelbare rechtsändernde Wirkung versagt blieb.

Gleich zwei Kapitel kolorieren im dritten Abschnitt das Leben und Wirken des Schriftstellers im Exil, indem Kurt Kraushaar die Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Bandes „Profile“ (1938) zu ergründen und Reinhold Lütgemeier-Davin unter der zu Hiller passenden Überschrift „Zwischen Stuhlpaaren sitzen“ dessen publizistisches Schaffen von London aus während des kaltkriegerischen ersten Nachkriegsjahrzehnts zu taxieren sucht. Kraushaar zeichnet die langwierige Publikationsgeschichte der „Profile“ nach und stellt – ohne größere Kontextualisierung – die verschiedenen Rezensionen vor. Am Schluss steht eine ausführliche Besprechung Klaus Manns aus der „Pariser Tageszeitung“ vom 7. Mai 1938, in der er Hiller unter anderem dafür lobte, gegen die „Denkfaulheit der Gutgesinnten“ (S. 88) zu wettern, und dafür eintrat, ihn in den sozialistischen Exilorganisationen stärker wahrzunehmen: „Ich rate meinen Kameraden von der streng marxistischen Observanz“, appellierte Mann: „Lest Hiller, anstatt über ihn die Achseln zu zucken! Ärgert euch, empört euch! Diskutiert! Aber zuckt nicht die Achseln!“ (S. 90). Das musste Hiller gefallen, dem Kraushaar das letzte Wort überlässt: ein Lob für Klaus Mann, den der Gewürdigte wissen ließ, dass es sich bei dieser Rezension seines Buches um „die mit grossem Abstand bedeutendste“ handele (S. 91, Hervorhebung im Original).

Lütgemeier-Davin blickt in seinem dicht belegten Beitrag auf Hillers Schriften zwischen 1945 und 1955. „After Nazism – Democracy?“, ein direkt bei Kriegsende unter Hillers Ägide publizierter Band, für den John Heartfield den Umschlag gestaltete und der auf der Titelseite des „Times Literary Supplement“ vom 7. Juli 1945 besprochen wurde, erfreute sich insgesamt allerdings keiner großen Resonanz. Es deutete sich auch nach 1945 eine weitere Geschichte der Enttäuschung an, die umso heftiger ausfiel, als ihr gegenüber die gewaltige Erwartung Kurt Hillers stand, nach dem Ende des „Dritten Reiches“ als großer Intellektueller wie Gestalter gleichermaßen gefragt zu sein. Spätestens, als sich „Rote Ritter“ (1951) und die erweiterte Neuauflage von „Aufbruch zum Paradies“ (1952) aus ganz unterschiedlichen Gründen als verlegerische Flops erwiesen, stand fest, dass mit Hiller ungeachtet seines geistigen Heroen-Nimbus aus Weimars Tagen auf dem bundesdeutschen Medien- und Verlagsmarkt nur noch wenig anzufangen sein sollte.

Schon in materieller Hinsicht waren es mithin keine wirklich rosigen Aussichten, als Hiller 1955 als „ein Berliner in Hamburg“ neue Wurzeln zu schlagen begann. Im vierten Abschnitt untersucht Rolf von Bockel, Autor der maßgeblichen Studie zu der von Hiller zwischen 1926 und 1933 angeführten „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“4, wie er vor 1945 in der Hansestadt rezipiert worden ist. Lassen sich Indizien finden, die eine tiefe und langfristige Bindung Hillers an die Stadt im Norden begründen können? „Betrachtet man die Hamburger Presseberichterstattung von 1908 (erste Nennung) bis 1945“, lautet von Bockels ernüchternde Antwort, „so sucht man Präferenzen Hillers für die Hansestadt oder Sympathiehuldigungen der Hamburger Tageszeitungen für Kurt Hiller vergeblich“ (S. 181). Letztlich motivierten private freundschaftliche Bande wie Hoffnungen in ein sich neu formierendes Hamburger Medien-Setting (bald insbesondere mit „Die Andere Zeitung“ und „konkret“) Mitte der 1950er-Jahre zu einer Entscheidung für die Stadt in Deutschlands Norden.

Harald Lützenkirchen, Kenner des „Logokratie“-Denken Hillers5, leistet abschließend gleich zwei „Bilanzierungen“: Er lässt die späten Geburtstagswürdigungen und Nachrufe auf Hiller ebenso Revue passieren wie er die Arbeit der 1998 gegründeten „Kurt Hiller Gesellschaft“, als deren 1. Vorsitzender er fungiert, gleichsam inventarisiert. Er sortiert und arrangiert das Material klug, lässt aus vielfältigen Presseerzeugnissen kontroverse Stimmen erklingen, mit eigenen Urteilen hält er sich dagegen zurück. Das mag man als ein richtiges Signal werten: Schließlich laufen gerade dem Erbe einer Einzelperson verpflichtete Vereinigungen nicht selten Gefahr, sich allein in Bewunderung für ihre Protagonisten und Protagonistinnen zu ergehen. Die Hiller-Gesellschaft bemüht sich bei aller Befangenheit, die in der Natur der Sache liegt, dagegen schon seit Jahren, Hiller nicht als funkelnden Solitär zu preisen, sondern ihn mit einem erheblichen kritischen Reibungspotential in die deutsche Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts zu reintegrieren.6 Jenen, die an ihr forschen, öffnet die Hiller-Gesellschaft bereitwillig die Pforten zu ihrem Archivbestand, der nicht zuletzt einen großen Teil der reichhaltigen Korrespondenz Kurt Hillers umfasst. Auch zielt sie mit ihren regelmäßigen Jahrestagungen, inhaltlich gehaltvollen Nachrichtenbriefen und einer eigenen Schriftenreihe darauf, selbst die wissenschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben. Davon zeugt auch der aktuelle Band, der im Lichte der Rezeptionsgeschichte ein Stück weit besser verstehen lässt, weshalb Hiller sein Leben im Rückblick als eines „gegen die Zeit“ empfand.7

Anmerkungen:
1 So meine Charakterisierung in dem Kapitel „Ein sich stets selbst treuer Ego-Dogmatiker – Kurt Hiller“, in: Alexander Gallus, Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 80–156.
2 So Georg Fülberth, Aktivismus, Sozialismus, Pazifismus, Herrschaft der „Geistigen“. Kurt Hillers Interventionen in der Weltbühne, in: Stefanie Oswalt (Hrsg.), Die Weltbühne. Zur Tradition und Kontinuität demokratischer Publizistik. Dokumentation der Tagung „Wieder gilt: Der Feind steht rechts!“, St. Ingbert 2003, S. 75–84, hier: S. 75.
3 Daniel Münzner, Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.
4 Rolf von Bockel, Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926–1933). Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik, 2. erw. Auflage, Neumünster 2019 (zuerst Hamburg 1990).
5 Harald Lützenkirchen, Logokratie. Herrschaft der Vernunft in der Gesellschaft aus der Sicht Kurt Hillers, Essen 1989.
6 So findet Hiller gleichsam Gehör bei Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hrsg. von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020 (i.E.).
7 Kurt Hiller, Leben gegen die Zeit. Band I: Logos, Reinbek bei Hamburg 1969; Band II: Eros, Reinbek bei Hamburg 1973.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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