In jenen Wochen und Monaten, bevor „Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, vor Währungsunion und Wiedervereinigung im Jahr 1990, da war die Zukunft offen und ungewiss. Eine Zukunft, die in der Folgezeit – frei nach dem Liedermacher Gerhard Gundermann – die Einen wie ein Torpedo traf und die Anderen wie ein Kuss und als Chance ihres Lebens. Damit ist zunächst eine grundlegende, innerostdeutsche Erfahrungsdifferenz umrissen, mit der Ilko-Sascha Kolwaczuk seinen Essay „Die Übernahme“ über die Folgen der deutschen Einheit beginnt. Der Historiker beschreibt sehr persönlich, wie ihn 1990 die Freiheit küsste und wie der jakobinische Eifer des jungen Geschichtsaufarbeiters, als den er sich retrospektiv darstellt, in jener Zeit wenig Raum ließ, die Wucht der sozialen Folgen dieses Gesellschaftszusammenbruchs zu ermessen (S. 15). Diese Wucht beschreibt er einführend und auf einfühlsame Weise am Schicksal seines Vaters und seines Schwiegervaters. Und darum geht es in Kowalczuks Buch: um ein historiographisches Panorama der „Torpedojahre“ in der ostdeutschen „Zusammenbruchsgesellschaft“ der 1990er-Jahre, die häufig etwas technisch als Transformationsprozess beschrieben werden.
Pünktlich zum Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution trifft das Buch auf eine sich wandelnde Forschungs- und Debattenlandschaft zu DDR und ostdeutscher Transformationsgesellschaft. Dazu und zur besseren Einordnung des Buches einige idealtypisch zugespitzte Beobachtungen: Die Erforschung von DDR und der „langen Geschichte der Wende“ war und ist wesentlich verknüpft mit dominanten Geschichtsbildern und Narrativen. Lange dominierte ein „Diktaturparadigma“ die zeitgeschichtliche Forschung, mit dem bestimmte disziplinäre Verortungen verknüpft waren: DDR-Forschung wurde zunächst betrieben als Oppositions-, Herrschafts- und (vergleichende) Diktaturgeschichte bzw. als Totalitarismusforschung. Kultur- und alltagsgeschichtliche Zugänge blieben lange Zeit eher randständig, mehr noch erfahrungsgeschichtliche Zugänge. Demgegenüber waren die Forschungen zur Transformation nach 1989 durch ein „Integrationsparadigma“ geprägt. Letztlich war hier eine Perspektive bestimmend, die den Grad der Angleichung bzw. des fortbestehenden Abstands der ostdeutschen zur westdeutschen Gesellschaft vermaß. Mithin ging es also um die Frage nach dem „Ankommen“ der neuen Bundesländer in der Gesellschaft und nach dem (einseitigen) „Zusammenwachsen“, nach Demokratieakzeptanz und der Entwicklung bzw. Angleichung von Lebensverhältnissen. Beide Perspektiven erzeugten Leerstellen: In der ersten Variante war Forschung zum Teil verknüpft mit einer Nivellierung subjektiver, eigensinniger Erinnerungen an die DDR. In der zweiten mit einer Nivellierung der Wucht des Transformationsprozesses, der rasanten Deindustrialisierung und der damit einhergehenden biographischen Umbrüche.
Gegen das Diktatur- und Integrationsparadigma hat sich immer schon und zuletzt vehementer ein „Repräsentanzparadigma“ formiert. Kritisiert werden hegemoniale Deutungen („westdeutscher Blick“) und die Unsichtbarkeit der Transformationsfolgen. Beschleunigt wurde dies zuletzt durch die Berichterstattung über die Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland. Etwas zugespitzt geht es in diesem recht jungen Diskurs um Repräsentation (gegen die Dominanz westdeutscher Eliten und Perspektiven), um Sichtbarkeit (ostdeutscher Abwertungserfahrungen) und um Identität. So wird im 30. Gedenkjahr eine besonders rege Debatte um Ostdeutschland geführt, von der man sagen kann, dass in den letzten Jahren die Vergangenheit kaum gegenwärtiger war. Implizit lassen sich Kowalczuks zusammengetragene Befunde auf diese dominanten oder phasenweise dominierenden Paradigmen beziehen. Dergestalt zeichnet er engagiert und meinungsstark ein kritisches Bild der vergangenen 30 Jahre, aus dem die Sorge des Autors um die Zukunft Ostdeutschlands spricht.
In Kapitel 2 („1989: die unvorstellbare Revolution“) und 3 („1990: das letzte unglaubliche Jahr der DDR“) entfaltet er zunächst die Fallhöhe für den nachfolgenden Transformationsprozess: die Aufbrüche und der völlig unverhoffte Regimesturz, die sich aufbauenden Hoffnungen und Erwartungen, die so heterogen waren wie die DDR-Gesellschaft selbst. Bemerkenswert ist etwa das ausgesprochene Nord-Süd-Gefälle bei den ersten freien Wahlen, in denen die „Allianz für Deutschland“ vor allem in der Arbeiterschaft der Industriezentren des (bis heute) konservativ wählenden Südens der DDR gewann (S. 47f.). Das war nicht ohne Tragik, weil damit eben jene eine schnelle Wiedervereinigung wählten, die dann am härtesten von der vereinigungsbedingten Deindustrialisierung betroffen waren.
Bei seiner Charakterisierung der Zukunftshorizonte, die sich bis zum Vorabend der Währungsunion wandelten, arbeitet Kowalczuk, ohne es zu explizieren (oder zu beabsichtigen), mit Reinhart Kosellecks Begriffspaar Erwartung und Erfahrung.1 Es könnte sich für zukünftige Forschung lohnen, mit diesem analytischen Gerüst den Transformationsprozess stärker (erfahrungsgeschichtlich) zu historisieren: als Neuaushandlung des Verhältnisses von Erfahrung und Erwartung; als gegenwärtige Vergangenheit kumulierter Enttäuschungserfahrungen, die gegenwärtige fatalistische Zukunftserwartungen geprägt hat. Dies zu leisten ist nicht Anspruch von Kowalczuks Essay, aber in den folgenden Kapiteln bebildert er faktenreich die Kumulation von Enttäuschungserfahrungen. Er erinnert an die Demütigung der frei gewählten DDR-Regierung (samt ihrer Mitglieder aus der DDR-Opposition) bei den Beitrittsverhandlungen durch die Regierung Kohl (S. 65f.) und an die abgewürgte Debatte über eine gemeinsame Verfassung. Er versammelt in den Kapiteln 5 bis 8 Befunde der Transformationsforschung und fügt sie – jenseits bloßer Abstandsvermessung – zum Bild einer „Übernahme“ Ostdeutschlands zusammen. Im Rahmen dieser „Übernahme“ änderte sich für die Einen nichts und für die Anderen alles: die Transformation von Wirtschaft (S. 110–136), der in eine kulturelle Hegemonie mündende Umbau von Medien- und Universitätslandschaft (S. 170–192) und schließlich der Zusammenbruch der DDR-Arbeitsgesellschaft, der in seiner Geschwindigkeit beispiellos war (S. 137–169).
Kowalczuks Ausführungen sind dabei zugespitzt, zuweilen etwas unsystematisch – wenn etwa ein Unterkapitel Ausführungen zum „Unverständnis für Ostdeutschland“ (S. 146) ankündigt, dann aber Überlegungen zur Vereinsamung in der westdeutschen Erlebnisgesellschaft enthält. Letztlich ist sein Text aber differenziert und differenzierend. Spannend ist zum Beispiel Kowalczuks Fingerzeig, die ostdeutsche Gesellschaft systematischer als in der bisherigen Forschung als eine seit 1949 von massiven Abwanderungsbewegungen betroffene „Weggehgesellschaft“ zu analysieren (S. 152). Zugleich nimmt er keine eindeutigen Zuschreibungen der Rollen von „Tätern“ und „Opfern“ des Transformationsprozesses vor. So erinnert er etwa daran, dass ostdeutsche Binnenmärkte wegen der mangelnden Nachfrage zusammengebrochen sind (S. 115f.) und dass man angesichts einer gewollten und gewählten schnellen Wiedervereinigung nur schwerlich von einer „Kolonialisierung“ Ostdeutschlands sprechen kann (S. 15f.). Kowalczuk lehnt außerdem den damit einhergehenden Vergleich mit dem historischen Kolonialismus ab. Damit wendet er sich implizit auch gegen die identitätspolitischen Zungenschläge aktueller Repräsentanzdiskurse.
Kowalczuks kritische Bestandsaufnahme der Wiedervereinigung ist schonungslos und taugt doch nicht dazu, auf seiner Grundlage ein ostdeutsches Opferkollektiv zu konstruieren und den Rechtsruck der letzten Jahre allein als Folge des Transformationsprozesses zu erklären (oder zu entschuldigen). Ostdeutsche verbinde zwar ein gemeinsamer Erfahrungsraum vor und nach 1989. Die Erfahrungen seien aber vielfältig, heterogen und teilweise gegensätzlich (S. 88). Die Rede von der ostdeutschen Identität sei somit letztlich eine (teilweise übernommene und teilweise ausgrenzende) Zuschreibung (S. 90). Um die Resonanzen der extremen Rechten in Ostdeutschland zu verstehen, genüge es nicht, nur die Enttäuschungen, Demütigungen und sozialen Verwerfungen der 1990er-Jahre in den Blick zu nehmen. Spezifisch seien gleichermaßen sehr viel ältere Traditionen von Rassismus, Illiberalismus und Nationalismus sowie Opfernarrative, die auch in der DDR fortwirkten (Kapitel 10). Diese Prägungen befeuern zudem aktuell Sehnsüchte nach Homogenität und eine autoritär-etatistische Grundhaltung (S. 245) bei vielen Ostdeutschen. Entsprechend fragil sei die politische Kultur: „Die Demokratie steht hier mehr auf der Kippe als anderswo.“ (S. 263)
Diese Fragilität gründet auch – so argumentiert Kowalczuk in Kapitel 9 – in einer einseitigen Aufarbeitung der SED-Diktatur. Implizit kritisiert er dabei das auch oben erwähnte und in der Aufarbeitung dominante geschichtspolitische Diktaturparadigma. Das Lernen aus der Geschichte sei lange Zeit verengt worden auf das Wirken der Stasi und auf den Widerstand der wenigen kritischen Geister, verbunden mit der wohl naiven Hoffnung, dass derjenige, der die Diktatur versteht, die Demokratie zu schätzen weiß. Die Reduzierung der Geschichte auf „Täter“ und „Opfer“ habe in der ostdeutschen Gesellschaft eher Abwehrreaktionen ausgelöst, auch weil deren ambivalenten Prägungen und Erfahrungsräume in offiziellen Geschichtsbildern schlicht nicht vorkämen (S. 214). Kowalczuks Plädoyer: „Die Aufarbeitung könnte nun, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, beginnen, die ganze Palette der DDR-Gesellschaft und die Transformationsgeschichte miteinander verknüpft zu erzählen. Die Aufarbeitung der 1990er Jahre muss überhaupt beginnen.“ (S. 213) Zu dieser Aufarbeitung liefert Kowalczuks mit einer fakten- und kenntnisreichen Gesamtdarstellung einen wichtigen Beitrag. Sie mag dabei helfen, einerseits (Selbst-)Gewissenheiten westdeutschen (Nicht-)Wissens über den Umbruch zu irritieren und andererseits den Versuchungen einer Renaissance homogenisierender Identitätspolitiken in Ostdeutschland zu trotzen.
Anmerkung:
1 Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 349–375.