B. Aschmann (Hrsg.): Durchbruch der Moderne?

Cover
Titel
Durchbruch der Moderne?. Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert


Herausgeber
Aschmann, Birgit
Erschienen
Frankfurt am Main 2019:
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Amerigo Caruso, Universität des Saarlandes

Dass die Geschichtsschreibung zum „Säkulum der Widersprüche“ (S. 7) entgegen immer wieder kursierender Krisen- und Untergangsstimmung ausgesprochen lebendig ist, zeigt der hier zu besprechende Sammelband eindeutig. Die Beiträge sind im Rahmen einer Ringvorlesung entstanden, die Birgit Aschmann gemeinsam mit Heinz-Gerhard Haupt im Sommersemester 2018 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin organisiert hat.

Einen Teil des Bandes bilden diejenigen Aufsätze, die den state of the art von etablierten Forschungsfeldern resümieren und historiographisch neu vermessen. Dazu zählen etwa die Beiträge von Ute Planert über das Zeitalter Napoleons, von Monika Wienfort über Monarchie, von Andreas Fahrmeir über Revolutionsgeschichte und von Friedrich Lenger über die Stadt im 19. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um Synthesen, die über komplexe und vielfältig diskutierte Aspekte des Durchbruchs der Moderne im „langen“ 19. Jahrhundert referieren und neue Perspektiven aufzeigen. Andererseits beinhaltet der Sammelband Studien, die ebenfalls überblicksartig und synthetisierend arbeiten, jedoch Themenfelder fokussieren, die sich erst im Laufe der letzten Jahrzehnte im Bereich der Forschung zum 19. Jahrhundert bzw. der historischen Forschung insgesamt etabliert haben. Dazu zählen die Geschlechter- und Emotionsgeschichte (durch die Aufsätze Angelika Schasers und Birgit Aschmanns abgedeckt), aber vor allem die Globalgeschichte, die einen Großteil des Sammelbands ausmacht (globalhistorische Ansätze sind vor allem in den Beiträgen von Andreas Eckert, Ulrike von Hirschhausen und Dieter Langewiesche vertreten). Die Aufsätze sind mit methodisch-konzeptionellen Reflexionen abgerundet und eignen sich hervorragend als anspruchsvolle Einstiegslektüre oder als Resümee der aktuellen Debatten zum 19. Jahrhundert. Das Niveau ist sehr hoch, sodass neben Studierenden und der historisch interessierten Öffentlichkeit auch professionelle Historikerinnen und Historiker produktiv darauf zugreifen können.

Nach der Lektüre dieses Bandes erscheinen Gegenwart und Zukunft des 19. Jahrhunderts durchaus rosig, wenngleich die quantitative Abnahme an empirischen Studien und Qualifikationsarbeiten, die sich mit dem Säkulum beschäftigen, nicht zu leugnen ist. Rezensionsportale, die eine gesonderte Rubrik zum 19. Jahrhundert führen, haben stets Schwierigkeiten, diesen Epochenbereich zu besetzen. Birgit Aschmann resümiert in ihrer Einleitung die Gründe für diese Teilkrise. Zum einen erscheint das 19. Jahrhundert angesichts des Publikationsbooms im Bereich der Bürgertums- und Nationalismusforschung während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als weitgehend „abgegrast“ (S. 9). Zum anderen haben sich das 19. Jahrhundert und die Zeitgeschichte immer weiter voneinander entfernt und zwar nicht nur in rein zeitlicher, sondern auch in heuristischer Hinsicht. Das liegt, so die Herausgeberin, auch an der Erosion von traditionellen Großdeutungen wie den Modernisierungstheorien und der These vom deutschen Sonderweg. Der partielle Untergang von Meisternarrativen habe dazu geführt, dass das 19. Jahrhundert zu wenig stringent erschien, um beispielsweise das Aufkommen des Faschismus zu erklären. Zusammenfassend lasse sich dennoch höchstens von einer Teilkrise oder treffender einem Strukturwandel der historischen Forschung zum 19. Jahrhundert sprechen, denn es gebe auch aktuelle Entwicklungen, die für eine erneuerte Relevanz der Epoche sprechen.

Das 19. Jahrhundert hat sich als „globalgeschichtliches Jahrhundert par excellence“ (S. 271) herauskristallisiert und wird zum Beispiel auch im Bereich der historischen Sicherheitsforschung stark frequentiert. Auch für die Frauen- und Geschlechtergeschichte erwies sich das Jahrhundert als „ein weichenstellendes Säkulum“ (S. 171), denn in dieser Zeit entstanden sowohl die bipolare und hierarchische Geschlechterordnung, die im 20. Jahrhundert perpetuiert wurde, als auch die Emanzipationsbewegungen, die dieses Modell mühsam bekämpften. Zurecht hebt Birgit Aschmann hervor, dass die Ängste vor vermeintlich imperialen Absichten der Nachbarepochen (Frühe Neuzeit und Zeitgeschichte), die sich zunehmend für die zwei Sattelzeiten um 1800 und 1900 interessieren, wenig begründet erscheine, weil dieses Interesse gerade die Zentralität des 19. Jahrhunderts unterstreiche und neue Perspektiven für interepochale Forschungen eröffne. Nicht zuletzt wiesen auch globalgeschichtliche Ansätze die Tendenz auf, herkömmliche Epochengrenzen als Produkt nationalgeschichtlicher und eurozentrischer Traditionen kritisch zu hinterfragen.

Aus meiner Sicht scheint die Warnung vor einer Abnahme des Interesses am 19. Jahrhundert höchstens für das zweite Drittel des Säkulums nachvollziehbar, denn die historische Forschung und nicht zuletzt dieser Sammelband tendieren zunehmend dazu, die zwei Gravitationskerne um 1800 und um 1900 in den Blick zu nehmen. Diese zwei Sattelzeiten stehen oft im Mittelpunkt der neueren Forschung, weil im Rahmen dieser Epochenschwellen eine Verdichtung von signifikanten Veränderungen vermutet wird. Diese umfassenden Transformationen, die nahezu alle Autorinnen und Autoren des Sammelbandes beobachten, basieren auf politisch-institutionellen Umbrüchen, Gesellschaftswandel und technologischer Erneuerung, aber sie sind auch auf einer Metaebene zu verorten, zu der beispielsweise die Verschränkung von Geschichte und Zukunft und die Zeit-Raum-Verdichtung der entstehenden Globalität gehören. Die daraus resultierenden Modernisierungsschübe und sozialen Bewegungen setzten sich im 19. Jahrhundert „nur zu einem gewissen Grad“ durch (S. 274), was nicht zuletzt einen Erklärungsansatz für das Widersprüchliche und Heterogene des Säkulums bietet.

Vollständigkeitsansprüche sind meistens utopisch und natürlich gibt es auch in diesem Sammelband bestimmte Themenbereiche, die stiefmütterlich behandelt werden (mussten), wie zum Beispiel die Technik- und Mediengeschichte, die sozialen Konflikte und das weite Feld der Geschichte des Politischen, in das sich nur der Aufsatz von Jörn Leonhard einordnen lässt. Die Bereiche der Militär- und der internationalen Geschichte sind ebenfalls unterrepräsentiert. Schließlich ist auch die Empire-Forschung nur durch Ulrike von Hirschhausens Aufsatz über den indischen Fürstenstaat Baroda um 1900 vertreten. In ihm untersucht von Hirschhausen auf innovative Weise die lokalen „Möglichkeitsarenen der Moderne“ (S. 308) und ihre globalen Verflechtungen in imperialen und (semi-)kolonialen Räumen.

Das Label „Säkulum der Widersprüche“, das in der Einleitung programmatisch lanciert wird, bezieht sich auf Heterogenitäten und Paradoxien, die als Proprium des 19. Jahrhunderts beschrieben werden. Einerseits eignet sich dieses Etikett als Beschreibungskategorie sehr gut, um zu zeigen, dass Spannungen und Widersprüche zentrale Aspekte eines nicht linearen Durchbruchs der Moderne waren. Diese Widersprüche und Leerläufe der multiplen Modernisierung prägen Gesellschaften und politische Systeme bis heute und dürfen insofern aus historischer Sicht natürlich nicht vergessen werden. Darüber hinaus sind diese Entwicklungen im Laufe der letzten Jahrzehnte durch global-, imperial-, transnational-, gender- oder emotionsgeschichtliche Zugänge neu perspektiviert worden und die daraus resultierenden Fragestellungen und Thesen bieten viel Raum für neue Ansätze. Das zeigt dieser Sammelband auf beeindruckende Weise.

Das Etikett „Säkulum der Widersprüche“ als analytische Kategorie erscheint hingegen wenig überzeugend, denn die Feststellung, dass historische Prozesse hybrid sind, ist sicherlich eine gute Herangehensweise, um Studien ergebnisoffen durchzuführen, jedoch besitzt Hybridität als letztendliche These kaum analytische Schärfe. In diesem Sinne stellt Rebekka Habermas in ihrem Aufsatz über Säkularisierung und Revitalisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert fest, dass das Proprium des Säkulums nicht die bloße Präsenz von Widersprüchen war, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Widersprüche erstmals intensiv öffentlich ausgehandelt und emotionalisiert wurden. Diese Aushandlungsprozesse erfolgten zum einen im Rahmen der zunehmenden Verflechtungen zwischen lokalen Bedingungen und globalen Zusammenhängen (Ulrike von Hirschhausen) und zum anderen im Kontext eines „voluntaristischen“ Jahrhunderts, in dem anhaltende Krisenerfahrungen (Jörn Leonhard) und der Wille, Zukunft zu gestalten (Dieter Langewiesche), notorisch wurden. Diese und weitere wesentliche Denkimpulse sind in den sehr lesenswerten Beiträgen dieses Sammelbandes zu finden.

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