F. Bretschneider u.a. (Hrsg.): Le Saint-Empire, histoire sociale

Cover
Titel
Le Saint-Empire, histoire sociale (XVIe-XVIIIe siècle).


Herausgeber
Bretschneider, Falk; Duhamelle, Christophe
Reihe
Bibliothèque allemande
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Braun, Faculté des sciences économiques, sociales et juridiques, Université de Haute-Alsace Mulhouse

Es gab schon immer einen festen Kern an Historikern in Frankreich, denen das frühneuzeitliche Reich wohlvertraut war. Erinnert sei etwa an Victor-Lucien Tapié, seinen Schülerkreis und die durch ihn begründete Forschungstradition. Diese vertraten eine eher der österreichischen Historiografie entsprechende Perspektive, indem sie das Reich von der Donaumonarchie aus in den Blick nahmen, und brachten dabei für die allgemeine Geschichte des Reiches sowie zentrale Aspekte seiner Institutionen- und Kulturgeschichte hohes Verständnis auf. Auch einzelne Territorien sowie ihre Beziehungen zu Frankreich stießen traditionell auf ein gewisses Interesse, und französische Forschungen in diesen Bereichen brachten die internationale Geschichtswissenschaft voran.

Obwohl sich die französische Forschung also durchaus Aspekten der Geschichte des Reiches und seiner Territorien sowie ihrer Beziehungen zu Frankreich zuwandte, geriet das Reich als Ganzes nur selten in den Blick. Die 1912 von Bertrand Auerbach vorgelegte (und 1976 nachgedruckte) Studie La France et le Saint Empire romain germanique3 betrachtete die deutsch-französischen Beziehungen des Untersuchungszeitraumes 1648–1789 von der zentralen Institution des Regensburger Reichstages aus und nahm mithin eine (aus Sicht der heutigen Forschung) verengte Perspektive ein. Mehrere Jahrzehnte lang bildete daher der wenig mehr als hundert Seiten zählende, zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren dreimal aufgelegte Band Le Saint-Empire aus der Feder von Jean-François Noël die einzige Synthese zur Geschichte des Alten Reiches in französischer Sprache.2

Insofern konnte der französische Historiker, Deutschland-Kenner und Mitherausgeber des hier zur besprechenden Sammelbandes Christophe Duhamelle ganz zu Recht im Jahr 2002 konstatieren, dass das Alte Reich „im toten Winkel der französischen Historiographie“ liege.1 Allerdings lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Verdichtung und Intensivierung der einschlägigen französischen Publikationstätigkeiten verzeichnen, in deren Kontext das rezensierte Buch einzuordnen ist.

Ganz besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die 2018 von zwei französischen Historikerinnen – der in Fribourg/Schweiz lehrenden Claire Gantet und der in Paris tätigen Christine Lebeau – veröffentlichte Darstellung zur Geschichte des frühneuzeitlichen Reiches, die sich als ein Quantensprung auf diesem Gebiet charakterisieren lässt.4 Mit dieser Synthese legten die beiden Historikerinnen ein auf der Höhe des Forschungsstandes argumentierendes und aktuelle Debatten weiterführendes Handbuch vor, in dem sie auf 270 Seiten ein weitgespanntes Panorama des Alten Reiches entwickeln. Es verbindet einen kulturgeschichtlich inspirierten Blick auf seine Institutionengeschichte mit sozial-, kommunikations- und wissensgeschichtlichen Zugängen und bietet wertvolle Einsichten in seine Geschichte als politische, soziale, kulturelle und wissensgeschichtliche Konfiguration. Ferner verdient der jüngst von Claire Gantet und Markus Meumann herausgegebene Sammelband über Austauschprozesse zwischen Gelehrtenkulturen in französisch- und deutschsprachigen Räumen des 18. Jahrhunderts Erwähnung; dieser zeigt vielversprechende Potentiale der Forschung zu Transfers und Zirkulationsprozessen auf und vermisst dabei Räume der Wissenszirkulation im und um das Reich nicht zuletzt sozial und kulturell.5

Der hier zu besprechende, von Falk Bretschneider gemeinsam mit Christophe Duhamelle herausgegebene Sammelband und die ihn vorbereitenden Veranstaltungen sind aus dem von 2012 bis 2014 durch das Centre interdisciplinaire d’études et de recherche sur l’Allemagne (CIERA) geförderten Projekt Histoire du Saint-Empire – regards croisés franco-allemands hervorgegangen. Zu den Projektergebnissen zählt ferner eine Website6, die auch nach dem Projektabschluss weiter aktualisiert wird und Informationen zu einschlägigen jüngeren Forschungen französischer sowie deutscher Historikerinnen und Historiker bietet.

Der Sammelband bricht klassische institutionengeschichtliche Zugänge zugunsten sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze auf. Insofern erfährt mit ihm dieser wesentliche Aspekt der Geschichte des Alten Reiches erstmals eine gebührende Behandlung. Dabei spielen, wie in den jüngeren Beiträgen Gantets, Lebeaus und Meumanns, jedoch durchaus auch Aspekte der Kommunikation, Zirkulation und Raumkonstruktion eine hervorgehobene Rolle.

Der Band umfasst 16 Beiträge französischer und deutscher Historikerinnen und Historiker sowie in Österreich und den USA tätiger Forscher in französischer Sprache. Eröffnet wird das Buch durch eine knappe, aber perspektivenreiche Einleitung der Herausgeber. Es folgt eine fundierte Einführung in die (deutschsprachige) Historiografie zur Geschichte des Alten Reiches seit der Mitte des 20. Jahrhunderts von Matthias Schnettger, die zugleich aktuelle Tendenzen sowie Fragen und Herausforderungen für künftige Forschungen bündelt. Für die französische Leserschaft bietet der differenziert argumentierende und Kenntnisse der zeitgenössischen deutschen Geschichte voraussetzende Text eine herausfordernde, aber zweifellos höchst bereichernde Lektüre. Die folgenden 14 Aufsätze sind in vier thematische Sektionen unterteilt.

Die vier Beiträge des ersten Hauptteils (von André Krischer, Sébastien Schick, Katrin Keller und Thomas Dorfner) eröffnen kommunikationsgeschichtliche Zugänge zum System des Alten Reiches unter besonderer Berücksichtigung patronage- und klientelgeschichtlicher Fragestellungen, wobei die thematische Bandbreite von städtischen Fürstenpatenschaften über die (terminologisch Lucien Bélys „société des princes“ nachgebildete) „société des ministres“ und regierende Fürstinnen bis hin zum Reichshofrat mit ihren jeweiligen kommunikativen und sozialen Praktiken reicht.

Die drei Beiträge des zweiten Hauptteils (von Guillaume Garner, Vincent Demont und Rachel Renault) fokussieren auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragen, mit einem instruktiven Forschungsüberblick, einer Studie über Akteure des produzierenden Gewerbes in Nürnberg zwischen Sozial- und Reichsgeschichte und einer sozialgeschichtlichen Untersuchung zu den Reichssteuern im Siebenjährigen Krieg.

Die vier Beiträge des dritten Hauptteils (von Falk Bretschneider, Anna Saada, Luca Scholz und Axelle Chassagnette) widmen sich Problemen der Raumkonstruktion, von Universitäten als Akteuren der Konstruktion des Alten Reiches über Pass- und Geleitbriefe bis hin zu kolorierten kartografischen Repräsentationen des Reiches und seiner Territorien. Um der für das Alte Reich charakteristischen Pluralität der Räume und ihren transversalen Verbindungen und Verflechtungen besser Rechnung zu tragen, schlägt Bretschneider das – in der Tat hilfreiche – Konzept Fraktalität („fractalité“) vor und prüft dessen Tragfähigkeit am Beispiel der Strafjustiz als sozialer Praxis.

Im Mittelpunkt der drei Aufsätze des vierten Hauptteils (von Christophe Duhamelle, Marc Mudrak und Naïma Ghermani) stehen Aspekte konfessioneller Raumkonstruktionen, gelungener und misslungener konfessioneller Koexistenz unter Einbindung historiografiegeschichtlicher Fragen und konfessioneller Migration zwischen religiösen und politischen Problemstellungen.

Die Aufsätze werden durch eine gemeinsame Bibliografie (S. 267–309) sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren abgerundet (S. 311–315). Die Bibliografie bietet mit ihren mehr als 40 Seiten eine gute erste Orientierung, basiert aber auf den in den Beiträgen herangezogenen Forschungen und Quellen. Sie erhebt daher nicht den Anspruch, für den behandelten Untersuchungsgegenstand eine repräsentative Auswahl zu bieten; dafür wären die zu konstatierenden Lücken in und zwischen den einzelnen Themenbereichen auch schlicht zu groß und die jeweilige Auswahl zu unausgewogen. Hochachtung verdienen die von Christophe Duhamelle angefertigten Übersetzungen aus dem Deutschen und Englischen.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass man dem Ziel des CIERA-Projekts, in Frankreich eine „nouvelle histoire du Saint-Empire“ zu etablieren, durch das entstandene Netzwerk und seine ambitionierten Publikationen ein gutes Stück näher gekommen ist. Der Sammelband bietet erstmals in französischer Sprache einen breiten und zugleich innovativen Überblick über sozialgeschichtlich orientierte Fragestellungen zur Geschichte des frühneuzeitlichen Reiches und zeigt überzeugend, dass die Konzentration auf soziales Handeln weniger einen Teilbereich abbildet, als vielmehr einen integrativen und vertieften Zugang zur Geschichte des Alten Reiches eröffnet.

Anmerkungen:
1 Christophe Duhamelle, Das Alte Reich im toten Winkel der französischen Historiographie, in: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 207–219.
2 Jean-François Noël, Le Saint-Empire, 3. Aufl., Paris 1993 (1. Aufl. 1976), erschienen in der Reihe „Que sais-je?“, Bd. 1646.
3 Bertrand Auerbach, La France et le Saint Empire romain germanique depuis la paix de Westphalie jusqu’à la Révolution française, Paris 1912, Nachdruck Genf 1976.
4 Claire Gantet / Christine Lebeau, Le Saint-Empire. 1500–1800, Malakoff 2018.
5 Claire Gantet / Markus Meumann (Hrsg.), Les échanges savants franco-allemands au XVIIIe siècle. Transferts, circulations et réseaux, Rennes 2019.
6https://saintempire.hypotheses.org/ (16.10.2020) mit einem Blog, Glossar, Karten und Dokumenten.

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