Cover
Titel
The Crimean War. 1853–1856


Autor(en)
Baumgart, Winfried
Reihe
Modern Wars
Erschienen
London 2020: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XIV, 297 S.
Preis
£ 29.99; € 35,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rose, Abteilung Neuzeit, Universität Bonn

Der einzige Großmächtekonflikt, der die lange Friedensperiode zwischen 1815 und 1914 durchbrach, ist ein nahezu vergessener Krieg. Das galt vor 20 Jahren, als die erste Auflage des vorliegenden Werkes erschien1, ebenso wie heute. Auch die russische Annexion der Krim 2014 vermochte dem langjährigen Forschungsgegenstand Winfried Baumgarts leider zu keiner neuen Konjunktur zu verhelfen, obgleich dieser doch zahlreiche Revolutionen und Paradoxien sowie historische als auch geopolitische und geostrategische Kontinuitäten bereithält.

Schon die Namensgebung des Krieges, so Baumgart, sei ungenau (S. XII). Schließlich wurde nicht nur auf der Krim, sondern daneben an fünf unterschiedlichen Fronten gekämpft: im Kaukasus, an der unteren Donau, im Baltikum, im Weißen Meer im russischen Norden und im Nord-West-Pazifik. Darüber hinaus gelang es Wien und Berlin trotz allen Werbens und Drängens, sich aus der Auseinandersetzung herauszuhalten, und es sympathisierten ausgerechnet die demokratischen, aber expansiven USA mit der russischen Autokratie gegen den gemeinsamen Feind Großbritannien und einstigen Verbündeten Frankreich (S. 53–56).

Wenngleich der Auslöser des Konfliktes in der ebenfalls in den letzten Jahren nur noch wenig erforschten orientalischen Frage zu suchen ist (S. 3–8)2, so handelte es sich um einen typischen europäischen Großmächtekonflikt, der allerdings weltweit ausgetragen wurde und in dem es darum ging, die russischen Machtambitionen insbesondere an den Meerengen einzudämmen. Während das Vereinigte Königreich seine Dominanz im Mittelmeer und das in Wien installierte Gleichgewicht der Großmächte zu wahren suchte, forderte das Zarenreich diesen Status quo heraus. Napoleon III. wiederum suchte Frankreichs kontinentale Vorrangstellung nicht nur zu rehabilitieren, sondern fortan durch außenpolitische und militärische Erfolge zu institutionalisieren.

Baumgart geht seinen Stoff höchst konventionell an. So versucht er gar nicht erst wie heute zumeist angezeigt, die politisch-diplomatischen und militärischen Sphären miteinander integriert darzustellen, sondern gliedert sein Buch entlang dieser verschiedenen Ebenen. Für ein einführendes Textbuch in die komplexe Materie erscheint dieser Stil aber durchaus angemessen, schließlich verdeutlichen die einzelnen Kapitel zu den politisch-diplomatischen Hintergründen (S. 3–28), den diplomatischen Aushandlungsprozessen bis zum Frieden von Paris und die Wirkungen auf das internationale System (S. 215–222), den Interessen der aktiven Teilnehmer und abseits stehenden Beobachter bzw. neutralen Mächten (S. 29–66), den einzelnen Streitkräften (S. 67–102) sowie dem Kriegsverlauf (S. 103–214) den außergewöhnlichen Einschnitt des Krieges.

Diplomatie- und politikgeschichtlich durchbrach der Konflikt die Periode des Friedens, brachte die internationale Ordnung aber nicht zu Fall. Die diplomatischen Kanäle blieben nicht zuletzt dank Österreich und Preußen durchgehend geöffnet (S. 11). Sowohl die Vielfalt der Schauplätze als auch die Passivität zentraler Akteure der Pentarchie sowie das Risiko eines möglichen anglo-amerikanischen Konfliktes wirkten abschreckend und deeskalierend zugleich und verhinderten letztlich, dass sich der Krieg zum Weltkrieg entwickelte, wozu er nach Baumgart durchaus das Potential besaß (S. 12).

Dieses Potential gründete nicht nur auf der fatalen Fehleinschätzung eines britischen Plazets zur russischen Vorherrschaft in der Levante (S. 15), sondern insbesondere auch auf der medialen Russophobie im politischen Raum Londons nach dem angeblichen „Massaker von Sinope“ im November 1853 (S. 17–19; S. 106–107). Der Sturm der Entrüstung, den die Londoner Gazetten nach der Versenkung einiger türkischer Schiffe entfachten, trieb die britische Regierung vorwärts und schwemmte alle Kritiker einer militärischen Intervention in Westminster davon (S. 16f.). Fortan entwickelte sich der Krimkrieg auch zum ersten Medienkrieg, was nun erstmals auch in der zweiten Auflage durch zahlreiche Illustrationen veranschaulicht wird.

Militärgeschichtlich beschäftigt sich Baumgart insbesondere mit der Vielschichtigkeit der verschiedenen Kriegsschauplätze. In einer konzisen Darstellung und mit ausreichend Kartenmaterial widmet er sich dabei sowohl dem Krieg zu Lande von der Front an der Donau (S. 102–104), dem Belagerungskampf bei Silistria (S. 109–111), der Invasion der Krim (S. 125–132), den verschiedenen Belagerungen Sebastopols oder den Schlachten bei Balaklava und Inkerman (S. 133–173) oder im Kaukasus (S. 189–195), als auch zu Wasser bei Sinope, im Schwarzen Meer oder im Baltikum (S. 180–187), dem Weißen Meer und dem Pazifik (S. 197–203) sowie den regional sehr unterschiedlichen territorialen Bedingungen der Kriegführung, den hohen Verlusten auf allen Seiten, nicht zuletzt durch wiederholt auftretende Epidemien (S. 229–234).

Etwas zu kurz kommen dabei bedauerlicherweise die enormen technologischen Revolutionen. Zum ersten Mal überhaupt erzeugte die Industrieproduktion eine unmittelbare Wirkung auf dem Schlachtfeld. Während die Eisenbahn den großangelegten Truppen- und Versorgungstransport zu Lande ermöglichte, erhöhten auch dampfgetriebene Schiffe die Geschwindigkeiten des Transports signifikant. Bei der Versorgung kamen erstmals industriell abgefüllte Flaschen zum Einsatz. Die elektrische Telegraphie und das Unterseekabel durch das Schwarze Meer ermöglichten ab April 1855, dass die Regierungen in London und Paris direkt mit ihren Stäben vor Ort, etwa bei der Belagerung von Sebastopol, kommunizieren konnten. Darüber hinaus bestätigte der Krieg die bereits in den napoleonischen Kriegen sichtbare enorme Wirkung der Artillerie, nun aber erweitert durch die allseitige Verwendung von Explosivgeschossen. Minié-Geschosse wiederum erweiterten das Gefechtsfeld geradezu dramatisch. Plötzlich waren die Truppen mit präzisen Langwaffen ausgerüstet, deren Reichweite um den Faktor drei angestiegen war. Trotzdem wurde anfangs noch auf eine Mischung aus Linear- und Kolonnentaktik vertraut. Der Aufmarsch in geschlossenen Formationen hatte verheerende Auswirkungen auf die Verlustzahlen (S. 248–251). Die Rückständigkeit der Militärtaktik gegenüber der fortgeschrittenen Waffentechnik beschleunigte nicht zuletzt die Gründung des Roten Kreuzes. Erst spät reagierten die Militärführer mit größeren Kampfentfernungen und der Entwicklung des Stellungs- und Grabenkampfes.3 Alle diese Entwicklungen sind natürlich auch Baumgart bekannt. Allein sie lesen sich zumeist nur zwischen den Zeilen.

Ob der Krimkrieg das Potential zu einem Weltkrieg hatte, wie der Autor mehrfach hervorhebt, unterstreicht zwar dessen Relevanz, muss jedoch letztlich ungeklärt bleiben. Baumgart ist indes beizupflichten, wenn er das Gleichgewichtsprinzip im Juli 1914 als „dead letter“ bezeichnet (S. 253). Tatsächlich bestanden große Unterschiede zwischen dem Krimkrieg und dem Ersten Weltkrieg. Anders als 1853 wurden vor 1914 die russischen Ambitionen Richtung Balkan nicht rechtzeitig eingedämmt, sondern durch die anglo-russische Konvention von 1907 sogar noch gefördert.4 Anders als Mitte des 19. Jahrhunderts betraf der Konflikt 1914 von Beginn an das europäische Zentrum, nicht zuletzt die Existenz Österreich-Ungarns. So paradox es auf den ersten Blick klingen mag, schützte das globale Kriegstheater des Krimkrieges vor seiner Ausuferung, weil die Kampfzonen an der Peripherie nicht die unmittelbare Existenz der Großmächte als solche bedrohten. Schließlich war es, wie Baumgart betont, während des Krimkrieges gelungen, den Primat der Politik über dem Militär insgesamt zu wahren.

Neben einer Zeitleiste (S. 255), zusätzlicher Karten (S. 126, S. 225), einer aktualisierten Bibliographie (S. 271–284) und einem kurzen Schlusswort (S. 253f.) bietet die zweite Auflage einige Neuerungen. Während Aufstellungen zu den militärtechnischen Entwicklungen leider fehlen, helfen dagegen insbesondere zahlreiche zeitgenössische Illustrationen, vornehmlich aus der britischen Satirezeitschrift Punch, die mediale Wirkung des Krieges zu veranschaulichen. Das abschließende, vollkommen neue Kapitel zur medizinischen Versorgung der Kombattanten (S. 229–252) schließt ebenfalls eine Lücke. Weshalb dieser letzte Teil jedoch nicht in dem vierten Abschnitt zum Kriegstheater integriert worden ist, zumal dies auch elegant mit den technischen Entwicklungen hätte verbunden werden können, sondern dem diplomatischen Kapitel zum Kriegsende einfach angehängt wurde, erschließt sich dem Leser freilich nicht. Nichtsdestotrotz gelingt es Baumgart, den Zäsurcharakter des Krieges auch auf medizinischem Gebiet zu unterstreichen.

Summa summarum liefert der zweifellos beste Kenner der Materie eine solide Einführung, in der zwar einige Aspekte zu kurz kommen, der aber eine breite, vor allem studentische Leserschaft zu wünschen ist, in der Hoffnung, dass der „vergessene Krimkrieg“ zukünftig mehr Interesse findet und neue Untersuchungen folgen. Die großartigen Vorleistungen Baumgarts durch sein Aktenwerk zur Geschichte des Krimkrieges, aber auch die politische wie historische Relevanz des Themas hätten es allemal verdient.5

Anmerkungen:
1 Winfried Baumgart, The Crimean War 1853–1856, London 1999.
2 Maßgeblich noch immer Matthew S. Anderson, The Eastern Question 1774–1923, London 1966.
3 Vgl. Andreas Rose, „Readiness or Ruin“ – Der „Große Krieg“ in den britischen Militärzeitschriften (1880–1914), in: Stig Förster (Hrsg.), Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880–1914, S. 245–390, bes. S. 263–335; Williamson A. Murray, The Industrialization of Warfare, 1815–1871, in: Geoffrey Parker (Hrsg.), The Cambridge History of Warfare, 2. Aufl., Cambridge 2020, S. 222–227.
4 Andreas Rose, Between Empire and Continent. British Foreign Policy before the First World War, 2. Aufl., London 2019, S. 344–401.
5 Sowohl die österreichische als auch die preußische Politik waren letztmals 1930 Gegenstand eigenständiger Studien.

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