Bekanntlich verfolgte die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst maßgeblich von Berlin ausgehende Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung, vor allem zwei Ziele: Die rechtlich-gesellschaftliche Gleichstellung der bislang als Randgruppe vielfach benachteiligten und eingeschränkten jüdischen Minderheit sowie, damit im Zusammenhang, eine Modernisierung des traditionellen deutsch-jüdischen Bildungswesens.1 An den Diskussionen zur Erreichung dieser Ziele, wie sie anfangs etwa im Hause Moses Mendelssohns (1729–1786) geführt, außerdem publizistisch und in Korrespondenzen ausgetragen wurden, beteiligten sich auch christliche Aufklärer. So orientierten sich die Protagonisten der Haskala, die Maskilim, bei ihren theoretischen und praktischen Neuerungen der bislang überwiegend auf eine talmudische Gelehrsamkeit abzielenden jüdischen Schule teils am – derzeit ebenfalls im Umbruch begriffenen – allgemeinen Schulwesen, darüber hinaus am vergleichsweise weltoffenen jüdischen Bildungsverständnis sephardischer Gemeinden oder von Gelehrten früherer Epochen, etwa Moses Maimonides (ca. 1135–1204).
Dass jedoch der jüdisch-christliche Austausch zu Bildungszielen und -verfahren vor und nach 1800 in Berlin und andernorts nicht einseitig zu einer Übernahme nichtjüdischer Konzepte durch die Maskilim führte, sondern dass diese ihrerseits auch zur Entwicklung des allgemeinen Bildungswesens beitrugen, will die Studie der Hamburger Bildungshistorikerin Uta Lohmann am Beispiel zweier prominenter Diskussionsteilnehmer belegen: Von jüdischer Seite der Kaufmann David Friedländer (1750–1834), unter anderem 1778 Mitbegründer der innovativen „Jüdischen Freischule“ in Berlin und zeitlebens engagierter Verfechter der jüdischen Gleichberechtigung in Preußen, von nichtjüdischer der Bildungsreformer, Staatsmann und Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Den Schlüssel zum langjährig vertrauten und geistig fruchtbaren Verhältnis der beiden sieht Lohmann in den ca. 1784 begonnenen und über einen längeren Zeitraum fortgeführten persönlichen Begegnungen des noch jugendlichen Wilhelm von Humboldt – und seines Bruders Alexander (1769–1859) – mit dem älteren, auch nach nichtjüdischen Maßstäben gebildeten David Friedländer, der die früh vaterlos Gewordenen durch warmherzigen Umgang, Geist und Weltkenntnis so beeindruckte, dass sie auch später den – dann zumeist brieflichen – Kontakt nicht abreißen ließen. Lohmann stellt hier nun, aus ihrer intimen Kenntnis der Bildungsbestrebungen der Haskala und insbesondere ihres Exponenten Friedländer2, die Forschungsfrage nach „[…] der bildungshistorischen Einordnung der Wirkung des modernisierungsprogrammatischen Bildungskonzepts der Haskala auf Wilhelm von Humboldt, das vornehmlich durch David Friedländer vermittelt wurde. Welche Folgen hatte ihr interkulturelles Gespräch für die Entwicklung von Humboldts bildungstheoretischen Vorstellungen?“ (S. 18)
Einleitend wird der historische Kontext der Fragestellung dargelegt, auf die Quellen, nämlich vor allem Briefe und Schriften zu Bildung und Erziehung, verwiesen und die Methodik der Untersuchung vorgestellt, nämlich Netzwerkanalyse und Kulturtransferforschung zum Verständnis von Humboldts Kontakten zum Berliner deutsch-jüdischen gebildeten Milieu und die inhaltliche Aussagenanalyse zur Erschließung von Friedländers Bildungskonzepten aus seinen Erziehungsschriften. Der Kommunikation zwischen Friedländer und Humboldt insgesamt, auch der Korrespondenz, weist Lohmann, wie schon im Titel signalisiert, auch für die Zeit nach den persönlichen Begegnungen den Charakter eines gleichsam „mündliche[n] Gespräch[es]“ zu (S. 20).
„David Friedländers Bildungsdenken im Kontext der Berliner Haskala“ (S. 27) ist der erste der drei folgenden Hauptabschnitte betitelt, der diesen Protagonisten in seiner besonderen Position zeigt, zugehörig gleichermaßen zur ersten wie zur zweiten Generation der Maskilim, in seinen Überlegungen und Projekten zur deutsch-jüdischen Bildung zunächst maßgeblich beeinflusst vom persönlichen Austausch im Kreis um Moses Mendelssohn, nach dessen Tod dann als Vermittler und Deuter der hier entwickelten Vorstellungen und Pläne für die „Schüler Mendelssohns“. Zusammen mit dem Blick auf Friedländer liefert Lohmann gleichzeitig einen konzisen, mit umfassender Kenntnis der deutsch- und hebräischsprachigen Quellen gearbeiteten Abriss von Theorie, Praxis und Publikationstätigkeit der Berliner Haskala – bislang ein Desiderat.
Zentral zur Bearbeitung der Forschungsfrage ist der zweite Hauptabschnitt „David Friedländer und Wilhelm von Humboldt im Gespräch“ (S. 107). Thematisiert wird eingangs der bereits Zeitgenossen in seiner Intensität auffällige Verkehr Humboldts mit jüdischen Gebildeten, zunächst in Form eines kritischen Ganges durch die Forschung des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zum Thema „Wilhelm von Humboldt und die Juden“ (hier auch, mit gebotener Relativierung, zu dem fragwürdigen einschlägigen Beitrag des berüchtigten NS-Historikers Wilhelm Grau von 1935). En detail werden sodann die verbürgten – und möglichen – Begegnungen der jugendlichen Brüder Humboldt mit Friedländer und dessen Familie in den zeitgenössischen, auch von deutsch-jüdischen Gebildeten geführten und besuchten Salons und Gruppierungen Berlins nachgezeichnet, bevor vom speziellen Einfluss Friedländers auf die Gesinnung und die Bildung dieser beiden die Rede ist: Für sie sei er damals zwar kein Lehrer im eigentlichen, also unterrichtenden Sinne gewesen, habe aber, als „älterer Freund“, eine „ideelle Vaterfigur“ dargestellt (S. 141). Sodann arbeitet Lohmann als Kern ihrer Untersuchung Parallelen zwischen der maßgeblich von Mendelssohn übernommenen und von Friedländer artikulierten Bildungs- und Sprachphilosophie der Haskala und den – brieflich wie publizistisch geäußerten – Überlegungen Humboldts zu diesen Themenkomplexen heraus und weist auf Entsprechungen beispielsweise in den Auffassungen zur Tugend- und Sittenlehre oder zum richtigen Verfahren beim Übersetzen anderssprachiger, insbesondere antiker Texte hin: Letzteres solle, so die beiderseits geteilte Auffassung, nicht wortwörtlich geschehen, sondern mit „transkulturellem“ (S. 166), sowohl den originalen als auch gegenwärtigen Kontext einfühlsam erfassendem Verständnis. Ähnlich überzeugt zeigen sich Friedländer wie Humboldt vom günstigen Einfluss der Begegnung mit anderen Kulturen auf die Bildung des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt. Ausführlich werden sodann wichtige Bestandteile von Humboldts neuhumanistischer Bildungstheorie und deren Umsetzung auf ihren Gleichklang mit entsprechenden Überlegungen der Haskala hin untersucht. Hier resümiert Lohmann, dass sich „Humboldts Bildungstheorie und -politik nach ‚jüdischen Prinzipien‘“ (Zwischentitel Teil 6.6, S. 226) gestaltet habe.
Der dritte Teil des Bandes bringt zwei reichhaltig eingeführte und kommentierte Editionen derjenigen Schriften, die für die beiden vorhergehenden Teile unter anderem herangezogen wurden, zum einen die gesamte überlieferte Humboldt-Friedländer-Korrespondenz (zwangsläufig lückenhaft, denn Humboldt verwahrte die von ihm erhaltenen Briefe in der Regel nicht), zum anderen die bildungsprogrammatischen Texte Friedländers mit Bezug zur Haskala und nachfolgenden Reformbewegung. Letztere werden, nach thematischen Schwerpunkten geordnet, von der ausgewiesenen Friedländer-Expertin Lohmann sorgfältig erschlossen, unter anderem hinsichtlich ihres historischen und situativen Kontextes wie auch ihrer – jüdischen wie nichtjüdischen – Adressaten und Leser. Im Anhang schließlich finden sich sämtliche wünschenswerten Nachweise und Indices.
Insgesamt bereichert der auch sprachlich und in seiner Gedankenführung gewinnend auftretende, unbedingt lesenswerte Band substantiell die Forschung zur deutschen und, als integrativer Teil davon, der deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte. Die materialreich fundierten Darstellungen und Positionen regen zur weiterführenden Diskussion an, etwa darüber, ob eine um 1800 geführte, auch den damaligen Konventionen für diese Textsorte folgende Korrespondenz der direkten mündlichen Konversation mit Fug gleichzusetzen ist. Und ist nicht die Einschätzung des Philanthropismus als einer lediglich utilitaristischen Reform (S. 202) seit längerem revidiert, beispielsweise durch Hanno Schmitt?3 Zentraler erscheint die Frage, ob die wiederholt und gelegentlich ein wenig suggestiv vorgebrachte Hypothese eines deutlich sichtbaren, wenn nicht dominanten Einflusses der – in diesem Falle durch Friedländer vermittelten – Haskala auf die Bildungstheorie Humboldts sich aus den herangezogenen Quellen tatsächlich bestätigt. In jedem Falle zeigen diese, dass beide, Friedländer wie Humboldt, ihre – in bestimmtem Maße zweifellos miteinander verbundenen – avantgardistischen Bildungskonzepte auf der Grundlage von Diskussionen zu Erziehung, Bestimmung, Lebensweise, geselligem Umgang und gesellschaftlichen Tugenden des Menschen entwickelten, mit denen sich das zusehends gebildete Bürgertum bereits im Verlauf des gesamten 18. Jahrhunderts seiner selbst vergewissert hatte, populär etwa mittels der Moralischen Wochenschriften, an denen sich bekanntlich auch Mendelssohn publizistisch beteiligte.
Anmerkungen:
1 Uta Lohmann / Ingrid Lohmann (Hrsg.), „Lerne Vernunft!“ Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung. Quellentexte aus der Zeit der Haskala, 1760–1811, Münster 2005; Michael Nagel, Deutsch-jüdische Bildung vom Ausgang des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Notker Hammerstein / Ulrich Hermann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II, 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 169–187.
2 Uta Lohmann, David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation; Kontexte des preußischen Judenedikts vom 11. März 1812, Hannover 2013 (zugl. Diss., Univ. Duisburg-Essen 2012).
3 Hanno Schmitt, Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heibrunn 2007.