N. Nolden: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen

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Titel
Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme


Autor(en)
Nolden, Nico
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 653 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulli Engst, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen stellt immer noch ein Randphänomen dar. Nico Nolden liefert mit der vorliegenden Dissertation sowohl einen umfangreichen Überblick über bisherige Forschungsansätze als auch ein Theoriemodell mit daraus abgeleiteter Methode zur Untersuchung der historischen Wissenssysteme in digitalen Spielen. Im empirischen Teil seiner Arbeit analysiert er anschließend systematisch das Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) „The Secret World“ von 2012 hinsichtlich der darin enthaltenen historischen Inszenierungen und beschreibt dessen Charakteristika als erinnerungskulturelles Wissenssystem. Nolden ordnet seine Dissertation in den Bereich der Public History ein.

Anhand einer Skizzierung der bisherigen Entwicklung beschreibt Nolden detailliert und nachvollziehbar die aktuelle gesellschaftliche Relevanz von digitalen Spielen und legitimiert damit die (geschichts)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Medium. Sie ergibt sich für ihn zum einen aus der Historizität digitaler Spiele, zum anderen aus dem stark ansteigenden Anteil von Spielen, die sich auf verschiedene Art und Weise mit historischen Themen auseinandersetzen. Damit schließt er sich dem Urteil und der Einschätzung nahezu aller Historiker/innen an, die bereits zu diesem Thema publiziert haben. Ebenso schließt er sich bereits bekannter Kritik an der Geschichtswissenschaft im Umgang mit digitalen Spielen an und sieht das wissenschaftliche Problem in der Auseinandersetzung mit den Spielen vor allem in zu hohen akademischen Ansprüchen an das Medium und dessen Inhalte.

Bisherige Definitionsversuche, sowohl in der deutsch- als auch der englischsprachigen Literatur, hinsichtlich der Frage, wann es sich um ein digitales Spiel mit historischen Bezügen handelt, bewertet Nolden überwiegend kritisch. Für ihn muss sich eine Definition sowohl auf narrative als auch auf spielmechanische Elemente beziehen, da nur durch deren Zusammenspiel „eine historische […] Gesamtinszenierung“ (S. 69) entstehe. Der Komplexität und Vielschichtigkeit des Mediums des digitalen Spiels geschuldet, kommt er zu folgender Definition: „Digitale Spiele weisen dann eine historische Inszenierung auf, wenn einer oder mehrere der genannten Bestandteile historische Inhalte aufgreift: Narrative Elemente, die Objekte der Kulisse, spielmechanische Modelle oder automatisierte Weltentwürfe. Je mehr dieser Komponenten geschichtliche Anleihen suchen, umso höher ist der Grad an historischer Inszenierung.“ (S. 73) Damit liefert er sowohl eine Definition als auch ein anwendbares Analyseinstrument für den Umgang mit dem Historischen in digitalen Spielen.

Nolden kritisiert, dass die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen bisher nicht die komplette Bandbreite an Möglichkeiten ins Auge fasse, die das Medium etwa in Bezug auf Spielformen und epochenspezifische Inhalte liefert. Dies liege auch am mangelnden internationalen Austausch. Dementsprechend gebe es viele Forschungsansätze, die bisher kaum oder noch gar nicht von der Geschichtswissenschaft untersucht wurden. Trotzdem nennt er zahlreiche auf verschiedene Spielformen oder historische Epochen konzentrierte Forschungsansätze, zu denen bereits Veröffentlichungen zur Verfügung stehen. Am Ende lautet das Fazit jedoch, dass die geschichtswissenschaftliche Forschung im Bereich digitaler Spiele noch große Lücken aufweise.

Nach Nolden lässt sich die geschichtswissenschaftliche Arbeit mit digitalen Spielen in vier Erkenntnisinteressensgebiete strukturieren. Diese beziehen sich zum einen auf die verschiedenen Geschichtsbilder sowie Vergangenheitsrepräsentationen in den Spielen und zum anderen auf zeithistorische Einflüsse. Dazu zählen auch nicht explizit historische Inszenierungen, wenn also beispielsweise nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vermehrt Terroristen(gruppen) als Gegner in digitalen Spielen auftauchen. Des Weiteren zielen die Erkenntnisinteressen auf die technologische und kulturelle Entwicklung der Spiele selbst und zuletzt auf die erinnerungskulturellen Wissenssysteme, die sich durch Austauschprozesse innerhalb der Gemeinschaften der Spielenden bilden. Gerade bei Letzterem böten sich vor allem MMORPGs aufgrund der hohen Zahl an gleichzeitig involvierten Spielenden als Untersuchungsgegenstand an. Diese Erkenntnisinteressen erläutert Nolden anschaulich an diversen Spielebeispielen, wobei er deutlich macht, dass damit kein Vollständigkeitsanspruch einhergeht und die einzelnen genannten digitalen Spiele nicht als Verallgemeinerung für alle digitalen Spiele verstanden werden dürfen.

Anknüpfungspunkte für die Arbeit von Historiker/innen sieht Nico Nolden derzeit bei geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen wie beispielsweise der Public History und der Globalgeschichte, aber auch bei Nachbardisziplinen wie etwa den Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften. Dabei sollten deren Theorie und Methodik allerdings nicht blind übernommen, sondern als Ausgangspunkt für eigene geschichtswissenschaftliche Ansätze verstanden werden. Er skizziert dafür überblicksartig, aber beeindruckend breitgefächert bisherige Untersuchungen in den genannten Disziplinen. Dabei zieht er immer wieder Verbindungslinien zur Geschichtswissenschaft und macht interdisziplinäre Anknüpfungspunkte deutlich. Ebenso erwähnt er die Bedeutung des Videospieljournalismus und betont den Nutzen, den die Geschichtswissenschaft aus dem Erfahrungsschatz dieser nichtakademischen Branche ziehen kann.

Nolden baut seine empirische Studie zum Spiel „The Secret World“ auf anhand der medienspezifischen Form der Geschichtsaufbereitung (Medialität), dem Faktor des spielerischen Handelns in der Spielwelt (Performativität) und der Art und Weise, wie die Inhalte im Spiel an die Lebenswelt anknüpfen und das Historische darin mit Plausibilität ausstatten (Authentizität). Die technikkulturelle Einordnung berücksichtigt er, indem er die historische Entwicklung des MMORPG-Spieltyps aus anderen (digitalen) Spielformen heraus beschreibt und das Spiel selbst in diesen Prozess einordnet. Dazu beschreibt er detailliert dessen Geschichte und die des Entwicklerstudios FunCom.

Nolden untersucht die historischen Inhalte von „The Secret World“ anhand der darin auftauchenden Sach- und Objektkultur, der narrativen Netzwerke, der makrohistorischen Rechenmodelle und anhand der Weltentwürfe, wobei er die vier zuvor formulierten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen miteinbezieht. Er beschreibt hierbei detailliert die Inhalte des Spiels und macht seine Gedankengänge so auch für Leser/innen, die das Spiel vor der Lektüre selbst nicht konsumiert haben, nachvollziehbar. Einen Schwerpunkt legt Nolden dabei auf die Beschreibung der Mythen, Legenden und Sagen verschiedener Kulturkreise, die in „The Secret World“ miteinander verbunden und in Bezug zu einer Zeitebene der Gegenwart gesetzt werden. Narrative Netzwerke identifiziert er beispielsweise anhand von im Spiel auftretenden Persönlichkeiten und Gruppierungen, anhand der Aufgaben, die den Spielenden gestellt werden und anhand von spielinhärenten Enzyklopädien. Makrohistorische Rechenmodelle, die den Hintergrund der digitalen Spielwelt erzeugen, sieht Nolden etwa in der Darstellung von Gesellschaft, Wissenschaft oder Kultur. Mikrohistorische Weltentwürfe finden sich in erster Linie in der audiovisuellen Gestaltung der Spielwelt, die auch maßgeblich beeinflusst, wie das Historische darin wahrgenommen wird. Durch diese Elemente zeigt sich das historische Wissenssystem in „The Secret World“ sehr vielschichtig und divers, wobei verschiedene kulturgeschichtliche Epochen, zeitgeschichtliche Einflüsse und Gegenwartsbezüge globalhistorisch miteinander vermengt werden.

Dadurch, dass sich Spielende über das historische Wissenssystem von „The Secret World“ und seine Inhalte austauschen, entsteht eine spezifische Erinnerungskultur dieser Gemeinschaft, die sich beispielsweise in den Beiträgen und Diskussionen des offiziellen Forums des Spiels manifestiert. Darin diskutieren die Spielenden sowohl über das spielinhärente Historische als auch über Verbindungen zur Geschichte außerhalb der Spielwelt. Es gelingt Nolden, nachvollziehbar nachzuweisen, dass es sich dabei um längerfristige erinnerungskulturelle Kommunikation handelt, die in verschiedener Intensität das historische Wissenssystem thematisiert. Die Spielenden „kommunizieren über die meisten Elemente des historischen Wissenssystems, setzen sie in Beziehungen zu Geschichtsbildern und eigenen lebensweltlichen Erfahrungen, ziehen Belege aus der Geschichtskultur von außerhalb heran und verständigen sich darüber mit den anderen Diskutierenden“ (S. 531).

Nico Nolden macht sowohl im theoretischen Teil seiner Dissertation als auch in der daran anknüpfenden empirischen Studie nachvollziehbar deutlich, dass und in welcher Hinsicht es sich bei digitalen Spielen um ein überaus komplexes Medium handelt, das nach eigenen Regeln funktioniert, die im Falle einer geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen berücksichtigt werden müssen. Die Lektüre wird dabei leider gelegentlich durch vermehrt auftretende Rechtschreibfehler und seltene Absätze erschwert. Dem eigenen Anspruch, einen Überblick über die bisherige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen zu liefern und diese um einen maßgeblichen Beitrag zu erweitern, wird Nico Noldens Arbeit dennoch zweifellos gerecht. Sie kann deshalb als Ausgangspunkt vieler künftiger Studien herangezogen werden.

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