Der im Open Access-Format1 erschienene Band geht auf eine Konferenz von Stipendiat:innen der Hans-Böckler-Stiftung zurück, die im Juni 2017 an der Technischen Universität Berlin stattfand. Die interdisziplinäre Zusammenstellung der zehn Beiträge legt einen Schwerpunkt auf politikwissenschaftliche und zeithistorische Ansätze. Eine umfangreiche Einleitung kontextualisiert und verbindet die diversen wissenschaftlichen wie (politisch-)aktivistischen Beiträge.
Im ersten Beitrag führt der Politologe Jan Rettig aus, wie sich die dichotome politische Topologie von Rechts und Links seit der französischen Nationalversammlung inhaltlich stets gewandelt habe. Bis heute sei lediglich ein einziger inhaltlicher Bedeutungsgehalt konstant: der prinzipielle Gegensatz von (sozialer) Gleichheit–Ungleichheit (links–rechts). Anstatt das Schema komplett zu verwerfen, plädiert er für eine historisch-kritische Verwendung dieser Begriffe. Trotz offensichtlicher Komplexitätsreduktion dienten sie einer „irgendwie notwendige[n] Orientierung“ (S. 45) des Individuums, lieferten durch ihre relationale Binarität jedoch weder objektive noch absolute Erkenntnisgewinne.
Jan Ackermann und Philipp Knopp zeigen, dass sich gerade aus den funktionalen Unzulänglichkeiten des unterbestimmten Extremismusbegriffs sowohl seine Popularität als auch seine wissenschaftliche Unbrauchbarkeit ergeben. Seine Schwäche bestehe darin, dass er als „objektive und überzeitliche politische Grenzmarkierung präsentiert wird“ (S. 95), er jedoch je nach politischem Bedarf angepasst worden sei. Drei Phasen bzw. Zäsuren machen die Autoren mittels historischer Diskursanalyse in der Entwicklung des Begriffes aus. Zunächst eine des Übergangs vom graduellen Radikalismus- zum dichotomen Extremismusbegriff zwischen 1967 und etwa 1975. Als zweiten Wendepunkt schildern die Autoren anhand des Oktoberfestanschlags von 1980, wie sich Rechtsextremismus als politischer Grenzbegriff für neonazistische Gewalt in der öffentlichen Diskussion durchgesetzt, sich gleichzeitig inhaltlich auf gewaltförmiges Handeln verflacht sowie mit dem Terrorismus-Begriff vermischt habe. Die dritte Wende, hin zu einem „Patchwork-Extremismus“, ereignete sich, als im Kontext der rassistischen Pogrome der 1990er-Jahre „die Trennlinie zwischen ‚normalen Bürger*innen‘ und Neonazis kaum mehr zu ziehen“ (S. 93) gewesen sei. Da einerseits die Straßengewalt nicht auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGo) zielte, andererseits aber die De-facto-Abschaffung des Grundrechts auf Asyl durch die damalige parlamentarische Mitte der Gesellschaft vollzogen worden sei, sei damit die Vorstellung vom Extremismus als ausschließliches Randphänomen in Frage gestellt worden, so Ackermann/Knopp. In Reaktion hierauf avancierte „die Gewaltfrage statt der fdGo [...] zum Kern des Extremismusbegriffs“ (S. 93).
Fruchtbar sei – so der Tenor vieler Beiträge – die Unterscheidung diverser Extremismusbegriffe und ihrer jeweils grundlegenden Konzepte. Im Gegensatz zum Alltagsgebrauch fokussiere sein behördlicher Gebrauch in staatsschützender Absicht primär auf den Selbsterhalt von Institutionen. Erst mit der hauptsächlich vom Autor Maximilian Fuhrmann stark gemachten Ausdifferenzierung in ein sozialwissenschaftliches und ein politikwissenschaftlich-behördliches Extremismus-Verständnis wird eine bedeutsame Schieflage sichtbar. Denn gerade herrschafts- und institutionenkritische Perspektiven seien so verstärkt in den Fokus der politikwissenschaftlich-behördlichen Extremismus-Perspektive geraten, wohingegen die sozialwissenschaftliche Extremismus-Perspektive auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bei den Exekutivbehörden systematisch aus dem Sichtfeld gerate. Was dabei folglich nicht oder kaum gefasst bzw. „strukturell verzerrt“ (S. 209) werde, seien Phänomene wie institutioneller/struktureller Rassismus.
Mehrere Beiträge folgen der Annahme, dem Extremismus-Konzept sei der perspektivische Standort einer gesellschaftlichen Mitte inhärent, welcher normativ gesehen als neutral angenommen bzw. definiert werde. Von dort aus konstruiere man extremistische Ränder, die in ihrer „Abwertung mindestens implizit, manchmal sogar explizit gleichgesetzt“ (S. 13) würden. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Eitel spricht von „einem Zirkelschluss: Wer zur normalen Mitte gehört, ist nicht extremistisch; wer extremistisch ist, gehört nicht zur Mitte“ (S. 144). Rassismus beispielsweise werde in dieser dichotomen Extremismus-Vorstellung nie in der Demokratie verortet. Er gehöre entweder zur überwundenen deutschen Diktatur oder zu den Extremist:innen jenseits der Exklusionslinie. Ein mittiger Rassismus erscheine so prinzipiell als ausgeschlossen (S. 149).
Patrick Mayer argumentiert, dass parallel zum Dualismus zwischen Mitte und Extremismus politisch motivierte Straftaten prinzipiell als gegen die Mitte gerichtet definiert würden und nicht von dieser ausgehen könnten. Dieser Logik folgend galten bis 2001 lediglich solche Straftaten als politisch motiviert, die als extremistisch motiviert beurteilt wurden, weil ihnen eine Systemüberwindungsabsicht bezüglich der fdGo nachgewiesen werden konnte (S. 209). Die Extremismus-Theorie politikwissenschaftlich-behördlicher Spielart und ihre Verfechter:innen hätten darum „in nicht unerheblichem Maße zum Aufschwung des Rechtsradikalismus beigetragen“ (S. 35).
In seinem Beitrag unterscheidet der Historiker Massimo Perinelli die Produktionsbedingungen von Wissen über die extreme Rechte. Während die Sozialwissenschaften mit ihrer Methodenvielfalt transparentes und nachprüfbares, sogenanntes situiertes Wissen über ihren Gegenstand produzierten, verbreiteten die „unheimlichen Allianzen“ (S. 112) der „sogenannten Rechtsextremismusforschung“ (S. 108) sogenanntes korrumpiertes Wissen. In Letzterer fungiere der Verfassungsschutz mit einer Art Scharnierfunktion zwischen der extremen Rechten und den Forschungseinrichtungen. Der Autor zeigt dies am Beispiel des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Wissen sei hier über die Szene in „vertrauter Atmosphäre“ (S. 105) von militanten Nazi-Kadern gewonnen worden, welches sowohl direkt in Bildungsarbeit des Verfassungsschutzes gemündet sei als auch mittels fragwürdiger Selektion über die Extremismusforschung kritiklosen Eingang in die zivilgesellschaftliche, politische Bildungsarbeit gefunden habe.2
Als maßgebliche inhaltliche Referenz für das Extremismus-Paradigma gilt die fdGo im Zusammenspiel zweier sie auslegender Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 1952 und 1956. Hiernach würden „gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung […] als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt […]“, so das BVerfG (S. 18). Die politikwissenschaftliche Kritik fokussiert hier die rechtliche Setzung anstelle eines demokratischeren Aushandlungsprozesses (S. 16, S. 155). In historischer Perspektive wird die zeitliche Festschreibung auf Urteile aus den 1950er-Jahren kritisiert, welche den seither erfolgten gesellschaftlichen Entwicklungen keine Rechnung trügen, selbst aber durch die Spezifika ihrer Zeit geprägt seien.
Mit diesen „juristische[n] Eckpfeiler[n] und geschichtspolitische[n] Deutungen“ (S. 62) beschäftigt sich der Beitrag von Sarah Schulz3, der personelle wie ideologische Kontinuitäten benennt. Entgegen dem hegemonialen Narrativ sei nicht der rechtspositivistische Wertrelativismus verantwortlich für den Übergang zum Nationalsozialismus und dessen Opfer. Stattdessen hätten gerade jene Gegner des Rechtspositivismus liberaler Rechtsstaatstheorie und ihre antidemokratischen Staatsrechtspositionen die Machtübertragung an das NS-Regime befördert. Folglich sei nicht der Rechtspositivismus mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik gewesen, sondern vielmehr seine Eliminierung und Ersetzung durch normative Konzepte. Darum lasse sich der normative Extremismus-Ansatz keineswegs mit den Lehren aus dem Systemwechsel von 1933 legitimieren – die genau gegenteilige Lehre müsse aus der Geschichte gezogen werden. Zudem habe es einen antikommunistischen Minimalkonsens gegeben, der durch Staatsbedienstete über den Bruch von 1945 hinweg den bis heute anhaltenden Mythos eines „antitotalitären Konsenses“ als konstituierendes Moment der fdGo und ihrer „wehrhaften Demokratie“ zementierte. Doch statt auf einem emphatischen Bekenntnis zur Demokratie basierten auch die politischen Verhältnisse der gesellschaftlichen Mitte der Weimarer Republik auf einem fragilen Kompromiss mit antidemokratischen Kräften.
Auf den sozialpsychologischen Zusammenhang verweist Patrick Mayer, der die NS-Schuldabwehr als konstitutives Element der Extremismustheorie bestimmt: Denn indem sie die Machtübergabe an das NS-Regime durch die antidemokratischen Aktivitäten der Extremist:innen erkläre, erfolge ein Schuldfreispruch für die Mitte der (damaligen) Gesellschaft (S. 212). Durch diese Erzählung werde die psychologische Identifikation mit der (heutigen) Mitte befördert und somit eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit verhindert. „Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Schuld und Täterschaft wird damit für die im ‚Antiextremistischen Konsens‘ zusammengefasste Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bestritten, da diese nicht aus ‚Extremisten‘, sondern aus Anhängern der ‚Mitte‘ bestehe“ (S. 206). Eine „Identifikation des nationalen Selbstbilds mit der ,Mitte‘ der ,Extremismustheorie‘“ sei deshalb psychologisch attraktiv (S. 204).
Sofern Extremismus-Paradigma und fdGo als partielle Aufhebung des Neutralitätsprinzips zum Selbstverteidigungszweck des Staates verstanden werden, stellt sich die Frage nach den Folgen der so legitimierten Repressionsmaßnahmen. Zahlreiche Beispiele, wie Parteien- und Berufsverbote (Radikalenerlass), werden in den Aufsätzen beschrieben. Zur generellen Wirkung des Extremismus-Verdikts wird weiterer Forschungsbedarf offenbar, wobei die Kontinuität staatlicher Repression seit 1945 als Forschungsdesiderat der Zeitgeschichte hervorgehoben wird (S. 20).
Der Band zeigt, dass der Extremismusbegriff durch seine fehlende Präzision wissenschaftlich nahezu unbrauchbar, politisch aber gerade deswegen leicht zu Missbrauch bzw. Instrumentalisierungen führen kann. Zudem weist der politikwissenschaftlich-behördliche Extremismusansatz bezüglich des Kampfes um kulturelle Hegemonie der Neuen Rechten (Stichwort „Metapolitik“) ein strukturell defizitäres Problembewusstsein auf, weil es dieser neurechten Strategie gerade nicht um die Eroberung dessen geht, was die fdGo zu schützen versucht: die staatliche Verfasstheit. Mit den Worten des Historikers Yves Müller bleibt zu hoffen, dass die Zeitgeschichte aufhört, durch ihre „Nichtbeachtung oder ‚stille Teilhabe‘ […] zur weiteren ‚Verwissenschaftlichung‘“ des Extremismus-Paradigmas beizutragen.4
Anmerkungen:
1 Barbara Dunkel u.a. (Hrsg.), Nicht zu fassen, Berlin 2019, http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-7070 (16.10.2021).
2 Siehe Gregor Wiedemann, Verfassungsschutz durch Aufklärung? Zum Widerspruch von politischer Bildungsarbeit und geheimdienstlicher „Extremismusprävention“, in: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen (Hrsg.), Wer schützt die Verfassung?, Dresden 2013, S. 131–144, https://www.weiterdenken.de/de/2014/05/01/wer-schuetzt-die-verfassung (16.10.2021).
3 Siehe Alexander Tischbirek, Rezension zu: Sarah Schulz, Die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses, Weilerswist 2019, in: H-Soz-Kult, 30.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27537 (16.10.2021).
4 Yves Müller, Zwischen Ideologie und Anpassung. Die Totalitarismustheorie als Instrument einer interessegeleiteten Geschichtswissenschaft, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.), Jahrbuch Standpunkte 09/2016, S. 37–40, hier S. 39, https://www.rosalux.de/publikation/id/14558/jahrbuch-standpunkte-2016?cHash=2cc5af0b7ffa4aa28ab39ffab0cc20a2 (16.10.2021).