K. Čapková u.a. (Hrsg.): Zwischen Prag und Nikolsburg

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Titel
Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern


Herausgeber
Čapková, Kateřina; Kieval, Hillel J.
Reihe
Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 140
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
XI, 425 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Richarz, Berlin

Diese erste Gesamtgeschichte der Juden in den böhmischen Ländern von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart erscheint zunächst auf Deutsch. Die englische Originalfassung sowie eine tschechische und eine hebräische Übersetzung sollen folgen. Die deutsche Ausgabe wurde von Martina Niedhammer vom Collegium Carolinum in München betreut, die auch zu den neun Verfassern und Verfasserinnen des Sammelbandes gehört. Unter den Beitragenden forschen vier in den Vereinigten Staaten und drei in Prag. Das internationale Erscheinen des Werkes verweist nicht zuletzt auf die Weite der tschechisch-jüdischen Diaspora.

Unter dem Begriff „Böhmische Länder“ im Titel des Werkes werden die historischen Länder der Böhmischen Krone verstanden, also Böhmen, Mähren und Österreichisch Schlesien, die bis 1918 Teil der Habsburger Monarchie waren. Die kritische Erforschung der jüdischen Geschichte Böhmens begann erst in der Zwischenkriegszeit, getragen vor allem durch die „Gesellschaft für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakischen Republik“ und ihr bis 1938 in Deutsch und Tschechisch erscheinendes Jahrbuch. Ihre Fortsetzung fand diese Vereinigung im Exil in der 1961 in New York gegründeten „Society for the History of Czechoslovak Jews“.

In den letzten 30 Jahren sind über die böhmischen Juden innovative Einzelstudien erschienen. Diese stellen nicht mehr die staatliche Judenpolitik in den Vordergrund und konzentrieren sich auch nicht mehr primär auf die Juden Prags, sondern berücksichtigen vor allem jüdische Quellen und behandeln Themen wie ländliches Judentum, gender oder Juden im Konflikt der Nationalitäten. Die Idee zu einer Synthese dieser modernen Untersuchungen war der Ausgangspunkt für den vorliegenden Band, der auf der Basis der jüngeren Forschung eine umfassende Darstellung bieten will. Nicht zufällig sind offensichtlich die meisten der vier Autorinnen und fünf Autoren relativ jung. Neben der Sekundärliteratur und Archivquellen werden auch Ego-Dokumente und im letzten Kapitel Interviews verwendet.

Das Werk gliedert sich chronologisch in insgesamt sieben Kapitel und einen Anhang über die demographische Entwicklung von 23 städtischen jüdischen Gemeinden bis zum Jahr 1946. Unter diesen Gemeinden stellt Prag mit etwa 35.000 Juden (im Jahr 1930) die größte Ansiedlung dar, gefolgt von Brünn und Teplitz. Die Ortsnamen sind im gesamten Text immer auf Deutsch und Tschechisch angegeben. Die jedem Kapitel vorangestellten Kartenskizzen und die zahlreichen Illustrationen erleichtern die Orientierung in diesem insgesamt sehr ansprechenden Band. Leider gibt es keine Bibliographie der verwendeten Sekundärliteratur.

Die ersten fünf Kapitel zeigen einen einheitlichen Aufbau, wobei vor allem Demographie und Mobilität, die Folgen der staatlichen Judengesetzgebung, die Lage der Frauen, die christlich-jüdischen Beziehungen, Antisemitismus und die kulturelle und religiöse Entwicklung berücksichtigt werden. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlangt dann das Thema Juden im Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen und Tschechen eine wachsende Bedeutung. Die beiden letzten Kapitel zum Holocaust und zur Epoche von 1945 bis heute weisen eigene thematische Schwerpunkte auf.

Bei der Lektüre fällt das fast völlige Fehlen der Wirtschaftsgeschichte auf. Das führt dazu, dass sozialer Aufstieg, Verbürgerlichung und soziale Schichtung ebenfalls kaum thematisiert werden. So erfahren wir zwar, welch große Bedeutung die Urbanisierung der Juden in Böhmen hatte, aber nicht, welche Aufstiegsmobilität und welche Veränderungen in der Berufsstruktur sie begleiteten.

Im ersten Kapitel zur Frühen Neuzeit werden bereits Themen sichtbar, die das ganze Werk durchziehen. Da geht es etwa um die Unterschiede zwischen den Ansiedlungsmustern der Juden in Böhmen und Mähren. Aus den meisten Königstädten in Böhmen im 16. Jahrhundert vertrieben, nicht aber aus der Kaiserstadt Prag, lebten die böhmischen Juden bis ins 19. Jahrhundert überwiegend in Dörfern im Besitz des Adels und in Kleinstädten. In Mähren dagegen konnten sie sich in den Adelsstädten mittlerer Größe ansiedeln. Den höchsten Grad der Selbstverwaltung erreichte die Prager Judenstadt, die Sitz des Oberrabbinats war und das Zentrum kultureller Aktivitäten.

Eine durchgehende, gut belegte These des Werks ist, dass die böhmischen Juden ein regional geprägtes spezifisches jüdisches Selbstverständnis entwickelten, das sich deutlich absetzte von dem der polnischen und der deutschen Juden. Die verbreitete Säkularisierung der Juden Böhmens seit dem 19. Jahrhundert verstärkte das Fremdheitsgefühl gegenüber den polnischen Juden. Zwar war die Bildungswelt der böhmischen Juden überwiegend deutsch, doch als Kaufleute oft mehrsprachig agierend, erschloss sich vielen gleichzeitig auch die tschechische Kultur. Gerade diese Zweisprachigkeit und die Verbindung zweier Kulturen sind ein Thema, zu dem noch weitere Forschung nötig ist, weil dies im Entweder-oder des Konflikts der Nationalitäten lange ausgeblendet wurde.

Bei der Darstellung der absolutistischen Judenpolitik und bei den Themen Emanzipation, Urbanisierung und kultureller Wandel im zweiten und dritten Kapitel fällt auf, dass diese Phänomene ganz ohne einen Seitenblick auf fast identische Entwicklungen in benachbarten Ländern abgehandelt werden. So entsteht der Eindruck einer böhmischen Einzigartigkeit, wo es sich oft um gesamteuropäische Phänomene handelt. Ihre volle rechtliche Gleichstellung erhielten die Juden Österreich-Ungarns erst 1867, aber schon seit Erlangung der Freizügigkeit 1848 setzte – ganz wie in den deutschen Staaten – eine starke Urbanisierung und Verbürgerlichung der böhmischen Juden ein, die zur Auflösung vieler dörflicher Gemeinden führte. Auch der Beginn der religiösen Reformbewegung in Böhmen ging – wie etwa in Hamburg – von der Wirtschaftselite aus.

Das vierte Kapitel (1861–1917) und das fünfte (1917–1938) ragen qualitativ hervor und verweisen mehrfach auf vergleichbare Entwicklungen in anderen Staaten. Doch auch hier fehlt es an wirtschaftlichen Einblicken. Man würde gern mehr erfahren über die neuen jüdischen Zentren etwa in Mährisch-Ostrau als Industriestandort mit bis zu zwölf Prozent jüdischen Bewohnern. Eine Stärke dieser Kapitel ist die Darstellung der kulturellen Entwicklung und der gleichzeitigen Säkularisierung der böhmischen Juden, deren Kenntnis jüdischer Traditionen rapide abnahm.

Nach der Emanzipation entstand für die böhmischen Juden ein neues und ganz eigenes Thema ihrer Geschichte. Sie gerieten in den wachsenden Nationalitätenkonflikt zwischen tschechischen und deutschen Aktivisten in Böhmen, wurden von beiden umworben und dienten auch beiden als Zielscheibe. Antideutsche Demonstrationen führten schon 1897 auch zu Angriffen auf Synagogen und Plünderungen jüdischer Geschäfte. Die Darstellung bemüht sich, das Thema Deutsche – Juden – Tschechen nicht dominieren zu lassen, zumal es schon mehrfach behandelt wurde.

Obgleich es auch in der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik zu antijüdischen Ausschreitungen kam, verstehen viele böhmische Juden noch heute die Zwischenkriegszeit als eine der glücklichsten Epochen ihrer Geschichte. Das äußerte sich in einer geradezu kultischen Verehrung des Präsidenten Tomáš Masaryk (1850–1937), die die Autoren ausführlich analysieren. Durch die Gründung eines jüdischen Nationalrats 1918 gelang es den Juden, in der Republik ihre Gleichstellung als Staatsbürger zu sichern. Die Tschechoslowakei hatte 357.000 jüdische Einwohner (im Jahr 1930), von denen aber nur etwa ein Drittel in den böhmischen Ländern lebte.

Das chronologisch gegliederte Kapitel zum Holocaust lässt auch jüdische Stimmen zu Wort kommen und konzentriert sich nicht nur auf die Verfolgungsmaßnahmen. Die meisten der im „Protektorat Böhmen und Mähren“ verbliebenen mehr als 80.000 Juden wurden in die ehemalige Garnison Theresienstadt in Nordböhmen deportiert und von da weiter in die Vernichtungslager nach Polen. Der Autor betont, dass auch innerhalb von Theresienstadt und selbst im „Familienlager“ in Auschwitz die Juden Böhmens und Mährens weiter „eine kohärente Gemeinde mit eigenen Sprache(n), Bräuchen und innerem Zusammenhalt“ (S. 268) bildeten.

Das abschließende Kapitel des Werkes über die letzten 75 Jahre war zweifellos das am schwierigsten zu schreibende und erforderte am meisten neue Recherchen und Interviews. In den Jahrzehnten nach 1945 wandelte sich die Situation der überlebenden Juden je nach politischem Kontext mehrfach radikal. Antisemitische Verfolgung, Emigration und Ehen mit Nichtjuden brachten die böhmischen Juden dabei immer mehr zum Verschwinden.

In der Nachkriegszeit siedelten sich in Böhmen überlebende orthodoxe Juden aus der Slowakei und aus der Karpato-Ukraine an. Deutsch zu sprechen wurde gefährlich, da bei der Deportation der Sudetendeutschen oft nicht zwischen deutschsprachigen Juden und Deutschen unterschieden wurde. Manche Juden schlossen sich auch freiwillig den Ausgewiesenen an.

Im Jahr 1951 setzte mit dem antisemitischen Schauprozess gegen Rudolf Slánský (1901–1952) und der Hinrichtung dieses jüdischen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei ein scharf antijüdischer Kurs ein. Viele kommunistische Juden und Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden wurden inhaftiert und verurteilt. Manche begannen, ihre jüdische Herkunft zu verheimlichen. In den 1960er-Jahren folgte eine Phase der Liberalisierung und erstmals wurde es möglich, den Holocaust und die Werke Kafkas öffentlich zu diskutieren. In der Prager Pinkas Synagoge entstand ein Gedenkort mit den Namen von 78.000 Opfern des Holocaust. Nach dem Ende des Prager Frühlings 1968 setzte erneut eine Phase antijüdischer Politik ein. Etwa die Hälfte der verbliebenen Juden wanderte aus.

Als die kommunistische Herrschaft 1989 endete, entwickelten die jüdischen Gemeinden mit ausländischer Unterstützung eine umfangreiche Kultur- und Bildungsarbeit. Es entstanden jüdische Schulen und in Theresienstadt wurde eine Gedenkstätte mit Forschungs- und Bildungsabteilung geschaffen. Heute gibt es nur noch etwa 3.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Tschechien, davon die Hälfte in Prag. Aber geschätzt wird, dass bis zu 20.000 Menschen noch eine Verbindung zum Judentum haben.

Überblicksdarstellungen sind keine einfache historische Gattung. Dieses Werk bildet eine lesbare und klar strukturierte Synthese, die zugleich erzählt, fragt und interpretiert. Sie zeigt uns die vielfältige und spezifische Welt der böhmischen Juden, die bisher im Kontext der europäisch-jüdischen Geschichte zu wenig Beachtung fand. Trotz einiger kritischer Anmerkungen ist dieses Handbuch, auch für Nichthistoriker, sehr zu empfehlen.