Dem interdisziplinären und transkulturellen Ansatz der Reihe folgend widmet sich der vorliegende Band erstmals Funktion und Bedeutung einer spezifischen Quellengattung, nämlich der Urkunde. Urkunden wird in der europäischen Mediävistik traditionell größtes Gewicht beigemessenen, Diplomatik und Urkundenforschung gehören zum Kernbereich der mediävistischen Quellenforschung. Vergleichende Darstellungen diplomatischer Quellen in verschiedenen Kulturen fehlen jedoch bisher weitgehend. Umso begrüßenswerter ist die im Band vorgenommene Fokussierung auf Urkunden über disziplinäre, kulturelle und zeitliche Grenzen hinweg.
Der Band ist das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung, die im September 2017 in Bonn stattfand und die Quellengattung Urkunde aus verschiedenen Richtungen in den Blick nahm, wobei sich die auf Michael Clanchy zurückgehende Betrachtung unter den Aspekten ihrer Herstellung, ihres Gebrauchs und ihrer Aufbewahrung durch alle Beiträge zieht.1
Die 13 Aufsätze des Bandes verteilen sich auf die drei bereits im Titel thematisierten Bereiche. Jeweils fünf Beiträge befassen sich mit der Urkunde als Rechtsmittel bzw. mit ihrem äußeren Erscheinungsbild zwischen Recht und Repräsentation, drei Beiträge mit der Überlieferung von Urkunden in anderen Medien wie Kopiaren und Inschriften. Die vertretenen Disziplinen umfassen ein breites Spektrum von Diplomatik und Rechtsgeschichte über Judaistik, Germanistik, Islamwissenschaft und Tibetologie bis hin zur Kunstgeschichte und Epigraphik. Trotz des transkulturellen Anspruchs entfallen nur zwei Arbeiten auf außereuropäische Bereiche, nämlich den persisch-islamischen und den tibetischen Rechtsraum. Innerhalb des abendländisch-lateinischen Kulturbereichs sind Regionen des Heiligen Römischen Reichs, Italien, England und Katalonien sowie die Papsturkunde vertreten. Dazu kommt ein Aufsatz zu Herrscherurkunden des byzantinischen Reichs. Schade ist, dass Tagungsbeiträge zum Osmanischen Reich und China in die Publikation nicht aufgenommen werden konnten.
Inwiefern Urkunden Aufschlüsse über Prozesse der „kulturellen Begegnung und des kulturellen Austausches“ (so Stieldorf S. 4) geben können, demonstriert Eveline Brugger anhand des jüdischen Urkundenwesens im spätmittelalterlichen Österreich (S. 19–40). Obwohl in der lokalen christlichen Tradition stehend, fanden in die Urkunden, die meist Darlehensgeschäfte zwischen Christen und Juden betreffen, auch hebräische Formeln und Zusätze wie Gewährleistungsformeln und hebräische Unterschriften Aufnahme, die deren Gültigkeit auch nach jüdischem Recht garantierten. Sehr gut sichtbar wird in diesem Beitrag der Pragmatismus, der das christlich-jüdische Zusammenleben im Mittelalter im Schatten von Vorurteilen, Verfolgungen und Vertreibungen auch prägte und der in den Urkunden als Quelle eines lebendigen, stets im Wandel begriffenen und den Gegebenheiten angepassten Rechtslebens seinen Niederschlag fand. Die Betrachtung von Quellen unter ihrem funktionalen und pragmatischen Aspekt leitet auch Klaus Herbers (S. 125–139), wenn er für die terminologische Unterscheidung zwischen Papsturkunden und Papstbriefen nicht formale und inhaltliche Kriterien heranzieht, sondern stattdessen den Kommunikationszusammenhang und die Überlieferung als die wesentlichen unterscheidenden Merkmale zwischen den beiden Gattungen hervorhebt. Systematisch und prägnant geht auch Martin Roland (S. 259–327) der funktionalen Seite von Urkunden nach, wie sie sich in den Miniaturen illuminierter Urkunden und deren Abschriften darstellt, die den performativen Charakter etwa der Übergabe und Öffentlichmachung von Urkunden illustrieren.
Wie Herbers führt auch Christoph U. Werner ein terminologisches Problem zu seinen Überlegungen über die Anwendbarkeit des Begriffs der „Privaturkunde“ im persisch-islamischen Kulturkreis (S. 141–160). Dessen Übernahme aus der für das Heilige Römische Reich entwickelten Diplomatik trifft auf das „Unbehagen außereuropäischer historischer Forschung“ (S. 142), was kaum verwundert, da er selbst im deutschsprachigen Bereich immer wieder hinterfragt wurde und sich schon für andere Regionen Europas nicht sinnvoll anwenden lässt. Hier wie dort findet er aber in Ermangelung einer befriedigenderen Bezeichnung für Dokumente, die nicht von einem Herrscher oder einem Papst ausgestellt wurden, weiterhin Verwendung, auch wenn sich zumindest für den persisch-islamischen Bereich Unterscheidungen nach der Rechtswirksamkeit und Formgebundenheit von Dokumenten sowie dem Zuständigkeitsbereich des Ausstellers als zielführender zu erweisen scheinen.
Dass auch Studien, die kaum oder nur wenige Resultate zutage bringen, gerade deswegen einen wertvollen Forschungsbeitrag liefern können, zeigt die Arbeit von Andrea Schindler, die Urkundenbegriffen in mittelhochdeutschen Romanen nachgeht (S. 99–124). Obwohl adelige Eliten, in deren Umkreis die untersuchte Literatur entstand, wesentliche Akteure des Beurkundungs- und Urkundenwesens waren, finden sich Ausdrücke, die Urkunden oder deren Beglaubigungsmittel benennen, in den Texte nur selten und wenn, dann vorwiegend in übertragenem, metaphorischem Sinn. Ebenso aussagekräftig sind die Ergebnisse von Irmgard Fees, deren Untersuchungen hochmittelalterlicher Bischofsurkunden des 10. bis 12. Jahrhunderts (S. 199–232) ergeben, dass von 3000 untersuchten Urkunden nur 2% graphische Symbole (abgesehen von Chrismon und Kreuz) aufweisen. Ausnahmen bilden hier lediglich die (Erz-)Bistümer Salzburg und Augsburg zwischen 1120 und 1200, wo neben den der Papsturkunde entlehnten Zeichen auch von der Herrscherurkunde beeinflusste Namensmonogramme und Rekognitionszeichen begegnen, was, wie gezeigt wird, nahezu immer als Ausdruck der individuellen Selbstwahrnehmung der ausstellenden Persönlichkeit zu werten ist. Wenige Treffer verzeichnet auch Franz Bornschlegel bei seinen Nachforschungen über den Einfluss der Urkundenschrift auf Urkundeninschriften bzw. Urkunden imitierende Inschriften (S. 331–361). Während sich das Vorbild epigraphischer Schriften und Schriftzeichen durchaus in Urkunden niederschlägt, beschränken sich vorlagengetreue Imitationen von Urkundenschriften und -symbolen in den noch im Original erhaltenen Urkundeninschriften vor allem auf Siegel, Subskriptionszeichen und vergrößerte Buchstaben des Protokolls sowie vereinzelt auf Andeutungen des Beschreibstoffes. Grenzen, sowohl in den Resultaten als auch in deren Darstellung und Interpretation, zeigt auch der Beitrag von Alheydis Plassmann auf, die sich mit den Möglichkeiten der statistischen Auswertung von Urkunden („Datamining“) befasst (S. 41–97) und dafür die von Heinrich II. von England zwischen 1154 und 1189 ausgestellten Urkunden für Empfänger aus England und den französischen Herrschaftsbereichen heranzieht. Ziel ist es, anhand von Personen- und geographischen Daten der 3000 ausgewerteten Urkunden Herrschaftsstrukturen und Vernetzungen sowie regionale Verflechtungen zu zeigen. 27 Karten und 9 Tabellen veranschaulichen die Ergebnisse. Zu Recht weist Plassmann dabei auf die Verzerrung aller aus Urkunden gewonnenen statistischen Ergebnisse aufgrund von Überlieferungslücken hin und betont die Unabdingbarkeit klarer Fragestellungen, die mit statistischen Mitteln beantwortbar sind. In der Auswertung ihrer Resultate demonstriert sie, dass statistisch erhobene Ergebnisse nur dann von wissenschaftlichem Wert sind, wenn sie in Kenntnis und unter Einbeziehung der historischen Zusammenhänge interpretiert und Überlieferungs- bzw. Datenlücken mitberücksichtigt werden. Wie sie (S. 53) einräumt, sind „grundstürzend neue Ergebnisse“ durch die statistische Auswertung in der Regel nicht zu erwarten, allerdings vermag diese aber „das ein oder andere Goldstück“ zutage zu fördern, das im Datendschungel vielleicht sonst nicht sichtbar geworden wäre. Kosten und Nutzen bleiben daher im Einzelfall abzuwägen. Unbestreitbar ist aber, dass die mit der statistischen Methode verbundene, meist einfach zu bewerkstelligende (anschauliche und eindeutige) Visualisierung der Ergebnisse von Vorteil sein kann.
Mehrere Beiträge der Publikation beschäftigen sich in der Tradition Peter Rücks mit Vorkommen, Herkunft und Bedeutung graphischer Symbole in Herrscherurkunden verschiedener Regionen. Im Beitrag von Peter Schwieger über das Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden (S. 163–181) werden überraschende funktionale und formale Übereinstimmungen mit lateinischen Herrscherurkunden in Aussehen und Formular aufgezeigt, die die Anwendbarkeit der für die „europäische Diplomatik“ entwickelten Terminologie auf tibetische Herrscherurkunden ermöglichen (S. 163). Ebenso Neuland betritt Andreas E. Müller, wenn er sich der byzantinischen großen kaiserlichen Privilegienurkunde widmet (S. 183–198). Die nur etwa 150 erhaltenen Originale lagern zum größten Teil in den kaum zugänglichen Archiven der Athosklöster. Auch sie zeigen auffallende Parallelen zu den römisch-deutschen Herrscherurkunden wie eine der Elongata vergleichbare Auszeichnungsschrift und die besondere Minuskelschrift des Kontexts, aber auch auffallende Unterschiede, wie mit roter Tinte nachträglich vom „Hüter des kaiserlichen Tintenfasses“ (S. 191) eingetragene Rotworte, spezielle Beglaubigungsformeln sowie die kaiserliche Unterschrift. Einzelne dieser Merkmale, wie die Verwendung roter Tinten und die Unterschrift(sformel) des Herrschers, finden sich übrigens – vermutlich von Byzanz beeinflusst – auch in den Urkunden der normannisch-sizilischen Könige, besonders Rogers II.
Welche Rolle imitierende Kopien von Herrscherurkunden mit ihren detailgetreuen Nachzeichnungen graphischer Elemente oder der diplomatischen Minuskel spielen, untersucht Wolfgang Huschner für geistliche Empfänger Italiens (S. 363–381) und kommt zu dem – wenig überraschenden – Ergebnis, dass diese, wie auch die Anlage von Kopialbüchern, in der Hauptsache Sicherungszwecken dienten. Dazu stellt er Überlegungen zur späteren Verwendung von früh- und hochmittelalterlichen Diplomen an, die bzw. deren Abschriften im Streitfall noch bis weit in die Neuzeit hinein bei Gerichtsprozessen vorgelegt wurden, ein Umstand, der oft für die Überlieferungsdichte eines Textes mitentscheidend ist. Nicht mit einbezogen wird von Huschner die Frage nach dem Zweck imitierender Abschriften in Kopialbüchern, denen sich Susanne Wittekind in ihrem Beitrag über katalanische Chartulare widmet (S. 383–417). Sie zeigt, dass diese neben der Sammlung, Sicherung und Ordnung von Urkunden und den mit ihnen verbundenen Rechtstiteln durch entsprechenden Bildschmuck und kalligraphische Gestaltung auch der Legitimation und Selbstdarstellung des Auftraggebers dienten und zu bestimmten Anlässen öffentlich gezeigt wurden.
Die Urkundenforschung versteht ihren Untersuchungsgegenstand traditionell als Quelle, die im Schnittpunkt verschiedener historischer Disziplinen steht.2 Für die Kunstgeschichte können illuminierte Urkunden Relevanz besitzen, wie Gabriele Bartz anhand der Avignoneser Bischofsammelindulgenzen (S. 233–258) zeigt, die datierbares Vergleichsmaterial für die Untersuchung zeitgenössischer Buchmalerei bieten. Das Nebeneinander von innovativen und traditionellen Stilelementen führt sie dabei plausibel auf Wünsche und finanzielle Möglichkeiten der Empfänger zurück.
Kritikpunkte zum vorliegenden Band lassen sich insgesamt nur wenige anführen. Der außereuropäische Bereich bleibt zumindest in der Publikation letztendlich etwas unterrepräsentiert, auch vermisst man Beiträge zu wichtigen Schnittpunkten verschiedener Kulturen und Urkundentraditionen wie etwa dem normannisch/staufischen Königreich Sizilien, wo Unterschiede und gegenseitige Beeinflussungen besonders gut sichtbar sind und das reiches und wertvolles Vergleichsmaterial bieten würde. Einige kleine drucktechnische Schönheitsfehler stören die ansonsten ansprechende Gestaltung des Bandes, etwa beim Layout, wenn Seiten unvermittelt und ohne Not zum Teil unbedruckt bleiben (etwa S. 133 und S. 189) oder die letzte Zeile der Tabelle S. 42 auf die nächste Seite verschoben wird. Die Karten im Beitrag Plassmann irritieren durch Punkte, die einander mitunter mehrfach überschneiden und so ihrer Aussagekraft beraubt werden. Im Beitrag Bartz ging S. 234 Anm. 2 die letzte Zeile der Anmerkung verloren.
Insgesamt gelingt der Herausgeberin Andrea Stieldorf mit dem vorliegenden Sammelband aber ein bedeutender Schritt in der Weiterentwicklung der Diplomatik und Urkundenforschung, indem Felder zukünftiger komparativer Forschung erschlossen und wichtige Anregungen für terminologische Nachschärfungen sowie die Einbeziehung bisher unbeachteter Aspekte, die sich aus anderen Disziplinen gewinnen lassen, aufgenommen werden.
Anmerkungen:
1 Bezugspunkt ist die erste Formulierung dieses Ansatzes bei Michael Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307, Oxford 1979, S. 25.
2 Zur Abgrenzung zwischen Diplomatik und Urkundenforschung vgl. etwa bereits das Geleitwort zum ersten Band der Zeitschrift "Archiv für Urkundenforschung": Harry Bresslau / Michael Tangl / Karl Brandi, Einführung, in: Archiv für Urkundenforschung 1 (1908), S. 1–4.