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Titel
Die Vermessung des Kosmos. Zur geometrischen Konstruktion von urbanem Raum im europäischen Mittelalter


Autor(en)
Geßner, Kerstin
Erschienen
Wien; Köln; Weimar 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Stercken, Historisches Seminar/ZHM, Universität Zürich

Die bereits lang andauernde Debatte um die Gestaltprinzipien der mittelalterlichen Stadt ist in jüngerer Vergangenheit immer wieder aufgeflammt. Dabei wird die alte Frage nach „gewachsenen“ – das heißt älteren, sich kontinuierlich entwickelnden – und „gegründeten“ – also seit dem 12. Jahrhundert neu angelegten – Städten neu akzentuiert. Während man sich einerseits bemüht, der jeweils individuell begründeten Prozesshaftigkeit von Planen und Bauen vor Ort auf die Spur zu kommen, wird andererseits mit vermessungstechnischen Methoden versucht, den Generalschlüssel zur mittelalterlichen Stadtplanung zu finden.1

Die Dissertation von Kerstin Geßner steht im letztgenannten Kontext. Sie befasst sich mit der Frage, ob „nicht nur streng-geometrische, sondern auch organisch anmutende Stadtgrundrisse auf einer geometrischen Grundordnung beruhen, die prima vista nicht ersichtlich ist.“ (S. 13). Am Beispiel von zwölf europäischen Städten beabsichtigt sie, über die bisherige „Augenschein-Diagnostik“ (S. 27) bei der Analyse von Stadtplänen hinauszugehen und mit einem CAD-gestützten Verfahren, objektivere, nämlich mathematisch-geometrische Analysemethoden anzuwenden. Ausgehend von einem Verständnis des Stadtgrundrisses als Kunstäußerung soll zugleich die gestalterische Organisation der mittelalterlichen Stadt analysiert und gezeigt werden, dass diese als Mikrokosmos im Makrokosmos der Schöpfung tief in der mittelalterlichen Geistesgeschichte verwurzelt ist.

Um dies nachzuweisen, holt Geßner weit aus und verankert ihre flüssig formulierten und reich bebilderten Thesen in unterschiedlichen Wissensfeldern. Beobachtungen zum Stellenwert der Geometrie zielen darauf hin, Herkunft, Präsenz und Kanonisierung christlich-heilsgeschichtlicher Vorstellungen von kosmischer Ordnung zu skizzieren und Anwendungsbereiche geometrischen Wissens aufzuzeigen, das Harmonie und Schönheit insbesondere mit dem Prinzip der stetigen Teilung, dem Goldenen Schnitt, verbindet. In der Auseinandersetzung mit mittelalterlichem Stadtverständnis werden Momente fokussiert, in denen über die Stadt als rechtliche, architektonische und soziale Entität, aber auch über Zusammenhänge zwischen Ordnung, Schönheit und Proportion nachgedacht wurde. Der Gründungsprozess wird als Festlegung einer „verbindliche(n) räumliche(n) Ordnung“ (S. 103) und wechselseitiges Zusammenspiel von Naturraum, Maß und Geometrie begriffen. Nicht weiter hinterfragt wird indes die Überlieferung, die den Beobachtungen zu einem kosmisch verankerten mittelalterlichen Ordnungsdenken zugrunde liegt. Dies führt unter anderem dazu, dass seltene (und mehrheitlich auf antike Zeremonien rekurrierende) Hinweise auf ein magisches Ritual bei der Stadtgründung als Belege für ein überall übliches Verfahren herangezogen werden (S. 112–116).

Der analytische Teil der Dissertation, der eine geometrische Grundordnung von Stadtanlagen aufspüren soll, stellt die Grundrisse von zwölf ausgewählten Städten in den Mittelpunkt, die teils als gegründet, teils als gewachsenen gelten. Während der Tafel-Teil von einem gesetzten Nullpunkt her über Kreis- und Dreickeckskonstruktionen bestimmte Proportionen der Wehr- und Sakralarchitektur präsentiert und ein Städteverzeichnis Daten und innerstädtische Streckenmasse festhält, ordnet der Text die Stadtgrundrisse geometrischen Figuren zu. Damit werden zwei okzitanische Bastides, nämlich Tournay und Bretenoux, sowie das von Florenz aus gegründeten San Giovanni Valdarno als jeweils streng orthogonal angelegte Städte beschrieben, die sich an gängigen Konzeptionen des Himmlischen Jerusalem orientieren. Im Kontext der Lehre von Mikro- und Makrokosmus sowie mit Blick auf Analogien zwischen Schöpfergott und Stadtgründer werden die Grundrisse des markgräflich-brandenburgischen Friedeberg/Strzelce Krajeńskie, der seit dem beginnenden 13. Jahrhundert durch den Deutschen Orden regierten Stadt Wolframs-Eschenbach und der Bischofsstadt Würzburg analysiert und auf bildliche, mit Ordnung und Schutz verknüpfte Darstellungsmuster – Mikro- und Makrokosmus-Darstellungen, Ritterschild, Bischofsmütze – zurückgeführt. Hingegen erklärt Geßner die städtebaulichen Anlagen der Neustadt von Brandenburg an der Havel, von Villingen und Rottweil mit Beispielen aus der heilsgeschichtlich aufgeladenen Mappa Mundi-Tradition des Mittelalters und Rothenburg ob der Tauber, Worcester und Wien als gewachsene Städte, für die ursprüngliche und auf lange Zeit hin nachhaltige Anlageprinzipien im urbanen Raum festgestellt werden.

Zwar argumentiert Geßner engagiert, stellt immer wieder Bezüge zur zeitgenössischen Kultur- und Geistesgeschichte sowie zur Geschichte der untersuchten Städte her und strebt, CAD-gestützt, Präzision an. Doch ist die in erster Linie von formalen Beobachtungen an Stadtgrundrissen des 19. Jahrhunderts ausgehende Erkundung bedeutungsgeladener, allen mittelalterlichen Städten zugrunde liegender Planungskonzepte – wie bereits vorangehende vergleichbare Diskussionen – methodisch problematisch und weitgehend spekulativ.

Dies zeigt sich zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem Stadtgrundriss von Wien, das als „gewachsene“ Stadt untersucht wird. So werden Befunde zur Permanenz römischer Siedlungsstrukturen auf dem Areal der Stadt ausgedehnt und auf der Grundlage von Dreiecks- und Kreissystemen vermutet, dass im Hochmittelalter vor allem mit Blick auf die Stadtbefestigung und die Sakraltopographie an der Vermessung in der Römerzeit angeknüpft wurde – ohne allerdings die Fluchtpunkte der geometrischen Konstruktion genauer zu erläutern oder auch in Betracht zu ziehen, wer, aus welchem Impetus für diese historisch verankerte und gleichzeitig langfristig angelegte Planung verantwortlich gewesen sein könnte. Ähnlich ungesichert sind die Überlegungen zu figuralen Mustern der Stadtanlage. Bei der Untersuchung von Wolframs-Eschenbach etwa wird die hier festgestellte und auf den Deutschen Orden vor Ort zurückgeführte, schildförmige Anlage mit der auf einem Goldenen Dreieck und einem Kreissystem basierenden Wehrtopographie erklärt, weder jedoch plausibel gemacht, warum der Angelpunkt der Konstruktion in ein offenbar unbesiedeltes Areal im Stadtumland gelegt wird, noch im Sinne einer Gegenprobe gefragt, inwieweit nicht andere Faktoren, so etwa Wasserläufe, die Form der Stadt mitbestimmt haben. Noch weiter geführt wird das Verfahren, das von formalen Ähnlichkeiten ausgeht, in der Auseinandersetzung mit der Stadt Rottweil, deren topographische Situation über dem Neckar lediglich Beachtung geschenkt wird, um Asymmetrien der Stadtanlage zu begründen. Hier basiert die eigentlich angestrebte inhaltliche und formale Analyse (S. 224) vor allem auf dem durch die Stadtbefestigung markierten, mehr oder minder pentagonal angelegten Stadtgrundriss, der unter anderem im Vergleich mit der um 1300 entstandenen, ebenfalls fünfeckigen Hereford-Karte in einen kosmischen Zusammenhang gestellt und über das Analogie-Verhältnis zwischen Haus und Welt gedeutet wird. Dass die Ausbuchtung in Rottweil eine Vorstadtsituation umfasst, auf der Mappa Mundi hingegen eine Weltgerichtsdarstellung, wird in die inhaltliche Analyse ebenso wenig einbezogen wie die Materialität der Weltkarte, deren für ihre Zeit außergewöhnliche pentagonale Form unter anderem darauf zurückgeführt werden kann, dass bei ihrer Herstellung auf einem einzigen Stück Kalbshaut die Halspartie des Tieres in die Pergament-Produktion einbezogen wurde.

Kerstin Geßner ist grundsätzlich zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass die Gestalt einer mittelalterlichen Stadt nicht allein auf pragmatische Aspekte zurückgeführt werden kann, und wenn sie anmahnt, dass Interferenzen zwischen den Sphären im Blick zu halten sind, in denen sich mittelalterliche Kultur manifestiert. Die These ihrer Dissertation, dass europäische Städte – gleich welchen Ursprungs – immer latent durch streng-geometrische oder figürliche, auf eschatologische oder kosmologische Bezüge verweisende Grundrissordnungen bestimmt sind, vermag indes aus den angeführten Gründen nicht zu überzeugen.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu z. B.: Klaus Humpert / Martin Schenk, Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der 'gewachsenen Stadt', Stuttgart 2001; Matthias Untermann / Alfred Falk (Hrsg.), Die vermessene Stadt. Mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund, Paderborn 2004; Bruno Fritzsche / Hans-Jörg Gilomen / Martina Stercken (Hrsg.), Stadtplanung – Planstädte, Zürich 2006; Keith Lilley, City and Cosmos. The Medieval World in Urban Form, London 2009; Wim N. A. Boerefijn, The Foundation, Planning and Building of New Towns in the 13th and 14th Centuries in Europe. An Architectural-Historical Research into Urban Form and its Creation, Amsterdam 2010; Ferdinand Opll (Hrsg.), Stadtgründung und Stadtwerdung. Beiträge von Archäologie und Stadtgeschichtsforschung, Linz 2011; Anngret Simms / Howard Clarke (Hrsg.), Lords and Towns in Medieval Europe, London 2015; Gabriel Zeilinger, Verhandelte Stadt. Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert, Wien 2018.

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