Cover
Titel
Lichtspiele im Schaumburger Land.


Autor(en)
Wente, Ralf
Reihe
Schaumburger Beiträge 5
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Seit den Pionierstudien in Deutschland von Anne Paech über „Kino zwischen Stadt und Land“ und von Sabine Steidle über Kinoarchitekturen1 sowie der Begründung einer internationalisierten „New Cinema History“2 hat das Forschungsfeld der Kinogeschichte in Kleinstädten, Dörfern und ländlichen Räumen bedeutend Aufschwung genommen. Hier spielen Lokal- und Regionalstudien eine große Rolle; die einschlägigen Publikationen sind vielfach vergleichend und transnational angelegt, explorieren auch generelle Präferenzen und die soziale Praxis der Zuschauerinnen und Zuschauer. Zum Fragespektrum gehören die sozialen, kommunikativen und institutionellen Eigenarten des Kinobetriebs, die Besonderheiten ruraler Filmprogramme und die geschmacklichen Präferenzen ländlicher oder kleinstädtischer Publika. Es werden restriktive Einflüsse der Distributionssysteme (z.B. dadurch, dass ländlichen Kinounternehmern veraltete Filme angeboten wurden) und die Einflüsse lokaler Schlüsselpersonen – beispielsweise von Pfarrern – auf das Programm untersucht, etwa durch direkte Intervention bei den Kinobetreibern oder durch das Betreiben von Pfarrkinos wie in Italien. Ferner haben die Strategien kleinstädtischer Kinounternehmer, sich in ihrem kulturell und ökonomisch nicht immer günstigen Umfeld zu behaupten, die neuere Forschung interessiert, ebenso wie kommunal selbstorganisierte Angebote des Programmkinos in ländlichen Räumen.3

Die hier vorzustellende Regionalstudie über das Schaumburger Land mit seinen größeren Städten wie Bad Nenndorf, Stadthagen und Bückeburg hatte zwar mit diesem neuen Tableau der Kinoforschung keine direkte Berührung, greift aber doch etliche Probleme auf, die dafür sehr relevant sind. Ralf Wente gibt zunächst einen (allerdings mit etwas veralteter Literatur operierenden) Überblick über die allgemeine deutsche Film- und Kinogeschichte (S. 9–40). Anschließend geht er auf bemerkenswerte Wandlungen der Schaumburger Kinolandschaft ein, die in Vielem auf andere deutsche Regionen übertragen werden können, auch wenn die Studie nicht vergleichend angelegt ist (S. 41–92). Bemerkenswert etwa ist das Nebeneinander explizit propagandistischer Filme und strikt durchgehaltener Unterhaltungsprogramme während der NS-Zeit, wobei die expliziten Propagandafilme steuerlich begünstigt waren, sodass ihr Einsatz "lukrativ" (S. 80) war.

Auch die konkrete Recherche von „Wirtschaftswunder und Kinokrise“ (S. 83) 1945–1973 ist aufschlussreich, weil sich zeigt, in welchen Mikrokonstellationen die Betreiberinnen und Betreiber von Kinos (Frauen waren in dieser Branche durchaus vertreten) den Spielbetrieb länger als üblich aufrechterhielten. Letztendlich wurden aber fast alle der kleineren Spielstätten geschlossen (hierzu besonders S. 87). Man fühlt sich hier an Wim Wenders‘ Film „Im Lauf der Zeit“ erinnert.4 Das Angebot in den regionalen Städten wurde aufrechterhalten. So trägt Kinogeschichte zu einer allgemeinen Kenntnis ländlicher Infrastrukturen und kultureller Versorgung bei. Das Angebot an gehobenen, diversifizierten Programmen war und ist jedenfalls im Untersuchungsgebiet, wie der Autor betont, durchaus attraktiv.

Die Hauptleistung von Ralf Wente besteht im ausgedehnten und minutiös erarbeiteten dokumentarischen Teil (S. 99–339). Zum ersten Mal wird hier die Kinolandschaft einer größeren Region, werden die „Schaumburger Filmtheater“ (S. 99) vom Beginn bis heute vollständig erfasst. Für jedes Kino, das einmal existierte oder heute noch besteht, wurden die Betreiber, ihre familiären Zusammenhänge, die charakteristische Verzahnung mit Hotel- und Gastronomiebetrieben und die Bau-, Nutzung- und Nachnutzungsgeschichte aufgearbeitet. Es wird den örtlichen Konkurrenzsituationen nachgegangen und beobachtet, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer in einen Nachbarort abwanderten, weil sich am eigenen das Angebot verschlechtert hatte. Die Kinoschließungswelle wird hinsichtlich der jeweiligen betriebswirtschaftlichen Gründe verfolgt. Auch auf kulturelle Vorbehalte stößt man, z.B. gegenüber Jugendlichen, die sich auf unziemlich erscheinende Weise für aushängende Filmplakate interessierten. Für die allgemeine Kulturpolitikgeschichte sind besonders die Passagen interessant, die sich mit empfindlichen Beschlagnahmungen durch die britische Besatzungsmacht beschäftigen.

Die Vollständigkeit der Daten und des Samples ist besonders beeindruckend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie verstreut die zugrunde gelegten Quellenbestände sind. Auch Oral History wurde ergänzend herangezogen. Bemerkenswert ist die Menge der 142 wiedergegebenen Abbildungen, womit man ein bislang so nicht gesehenes Spektrum des Aussehens kleinstädtischer Spielstätten und ihrer räumlichen Situierung erhält. Eine Besonderheit waren die in der Region bemerkbaren Einflüsse der Nachfrage von Kurgästen auf die Quantität und Qualität des regionalen Kinobetriebs. Die Zahl der Spielstätten blieb in den letzten dreißig Jahren unverändert (S. 92).

Der Verfasser hat zwar das Profil der Kinoveranstalter sehr gut erfasst, ebenso die Bau- und Betriebsgeschichte, ist aber weniger der Zusammensetzung der Publika nachgegangen. Den kommerziellen Erfolg all der kleineren und größeren Betriebe konnte Wente aufgrund des Mangels einschlägiger Quellen ebenfalls nur ansatzweise feststellen. Gut erfasst sind die jeweiligen Modernisierungen von Technik und Sälen zu Anfang der 1950er-Jahre und bei den Programmkinos noch in jüngster Zeit.

Insgesamt handelt es sich um eine bemerkenswerte Fallstudie, die von der neueren sozial- und kulturgeschichtlichen Film- und Kinoforschung zur Kenntnis genommen werden sollte. Es wäre wünschenswert, wenn gerade in der Bundesrepublik weitere, gleichgelagerte Studien entstünden und man zu transregionalen Vergleichen käme.

Anmerkungen:
1 Anne Paech, Kino zwischen Stadt und Land, Marburg 1985; Sabine Steidle, Kinoarchitektur im Nationalsozialismus, Trier 2012.
2 Vgl. Richard Maltby / Melvyn Stokes / Robert C. Allen (Hrsg.), Going to the Movies. Hollywood and the Social Experience of Cinema, Exeter 2007; Richard Maltby, New Cinema Histories, in: Richard Maltby / Daniel Biltereyst / Philippe Meers (Hrsg.), Explorations in New Cinema History. Approaches and Case Studies, Chichester 2011, S. 3–40; Daniel Biltereyst / Richard Maltby / Philippe Meers (Hrsg.), The Routledge Companion to New Cinema History, London 2019.
3 Karina Aveyard / Albert Moran (Hrsg.), Watching Films. New Perspectives on Movie-Going, Exhibition and Reception, Bristol 2013; Karina Aveyard, Lure of the Big Screen. Cinema in Rural Australia and the United Kingdom, Bristol 2014; Claude Forest / Hélène Valmary (Hrsg.), La vie des salles de cinema, Paris 2014; Judith Thissen, Introduction: A New Approach to European Cinema History, in: Dies. / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Cinema Beyond the City. Small-Town and Rural Film Culture in Europe, London 2016, S. 1–20; Daniela Treveri Gennari / Danielle Hipkins / Catherine O’Rawe (Hrsg.), Rural Cinema Exhibition and Audiences in a Global Context, Cham 2018.
4 Im Lauf der Zeit, BRD 1976, Regie: Wim Wenders.