R. Ray: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?

Titel
Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers?. Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930-1942


Autor(en)
Ray, Roland
Erschienen
München 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Scharnefsky, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die deutsche Besatzung in Frankreich von 1940 bis 1944 und die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Deutschen sind seit mehr als 50 Jahren ein zentrales Thema der zeitgeschichtlichen Forschung. Dennoch fehlte bisher eine systematische Studie über eine Zentralfigur der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich: den deutschen Botschafter in Paris, Otto Abetz. Diese Forschungslücke versucht Roland Ray mit seiner 1995/96 an der Universität Tübingen eingereichten Dissertation zu schließen, deren überarbeitete Fassung jetzt unter dem Titel »Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930 – 1942« als Buch erschienen ist. Roland Ray zeichnet darin den an Widersprüchen reichen Lebensweg eines Mannes nach, der sich seit seiner Jugend um eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich bemühte und an seine Rolle als friedlicher »Mittler« immer noch glaubte, als er schon längst zu einem der Hauptakteure der Ausbeutung Frankreichs durch die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg geworden war. Allerdings ist Rays Buch keine klassische Biografie, sondern vor allem auch ein Bild der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, hinter dem die Person Abetz häufig wieder zurücktritt.

Otto Abetz wurde am 26. März 1903 als Sohn eines Beamten und einer Gutsbesitzertochter in Schwetzingen geboren. Er besuchte das Gymnasium in Karlsruhe, studierte nach dem Abitur an der Badischen Landeskunstschule und arbeitete ab 1927 als Kunstlehrer an einem Karlsruher Gymnasium. Abetz gehörte der sogenannten »Kriegsjugendgeneration« (oder »Generation der Mitte«) an, die zwar noch zu jung für die Front, aber alt genug gewesen war, den Krieg in der Heimat und die Folgen der deutschen Niederlage 1918 bewusst zu erleben. Prägend für Abetz waren die Erfahrungen mit der französischen Besatzung in Baden, die in ihm ein »janusköpfiges Frankreichbild« entstehen ließen: »Dem ›Frankreich der Gewalt‹ sollte sein ›ganzer Haß‹, dem ›Frankreich des Geistes‹ seine ›ganze Liebe‹ gelten« (S. 32). Er suchte die Verständigung und den Austausch mit französischen Altersgenossen, behielt bei politischen Diskussionen aber die deutschen Interessen im Auge. Diese Haltung wurde maßgeblich durch die Ideale der bündischen Jugend beeinflusst, denen Otto Abetz seit seinem Eintritt in die Wandervogelbewegung 1913 verbunden war. Im September 1927 wurde er zum Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde gewählt und hatte in dieser Position die Möglichkeit, den deutsch-französischen Jugendaustausch entscheidend voranzutreiben. Ende der 20er Jahre waren Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Franzosen noch die Ausnahme: »Frankreichfahrten, für gewöhnlich gegen massive elterliche und behördliche Bedenken geplant, erschwert durch bürokratische Hindernisse bei der Beschaffung von Visa und Zahlungsmitteln, ähnelten unter solchen Voraussetzungen mutigen Expeditionen in ein verbotenes Land« (S. 36). Otto Abetz gelang es jedoch, vom 28. Juli bis 3. August 1930 die »›erste überbündische deutsch-französische Jugendaussprache‹« (S. 23) auf dem Sohlberg im Schwarzwald zu organisieren, an der über 100 Jugendliche teilnahmen, um eine Woche lang Wege einer deutsch-französischen Verständigung »im Schatten von Versailles« (S. 34) zu diskutieren. Dem Sohlbergtreffen folgte vom 2. bis 9. August 1931 ein zweiter großer deutsch-französischer Kongress in Rethel und vom 21. bis 26. März 1932 eine dritte Tagung in Mainz. Zudem konstituierte sich am 26. Oktober 1930 auf Initiative von Otto Abetz der »Sohlbergkreis«, der eine eigene Zeitschrift herausgab und sehr schnell ein Forum zur Förderung der deutsch-französischen Beziehungen wurde, dem auch die Diplomaten in Berlin und Paris Beachtung schenkten.

Im Zuge der Gleichschaltung der Jugendverbände wurde Otto Abetz 1933 als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde abberufen, durfte aber seine Arbeit für den Sohlbergkreis fortsetzen, zumal er in diesem Rahmen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung auch Kontakte zur Hitlerjugend aufgebaut hatte. Abetz organisierte jetzt deutsch-französische Begegnungen, um den Franzosen das Dritte Reich zu erklären und weiter für Verständigung zu werben. Das lag durchaus auf der Linie der neuen Reichsregierung, die zunächst an einer Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses interessiert war, um Zeit für die Wiederaufrüstung zu gewinnen. Abetz besaß, was die Nationalsozialisten dringend brauchten: Kontakte zu verständigungsbereiten Franzosen. Der junge Kunsterzieher aus Karlsruhe erregte deshalb bald die Aufmerksamkeit der Reichsjugendführung, die ihm nach seinem Eintritt in die Hitlerjugend 1934 die Leitung des Frankreichreferats übertrug. Er ließ sich vom badischen Schuldienst beurlauben und zog mit seiner französischen Frau Suzanne, die er 1932 geheiratet hatte, und zwei Kindern nach Berlin. Die Arbeit als Frankreichreferent der Reichsjugendführung bot Otto Abetz große finanzielle und personelle Möglichkeiten, seine selbstgewählte Mission fortzusetzen. Er baute nicht nur die deutsch-französischen Jugendbegegnungen aus, sondern knüpfte auch Kontakte zu französischen Frontkämpferverbänden, die als »Millionenheer des guten Willens« (S. 139) den Friedensbeteuerungen Hitlers besonders aufgeschlossen gegenüberstanden. Die Kontaktaufnahme mit den Anciens combattants war für Otto Abetz schließlich der »Anstoß für eine diplomatische Karriere« (S. 109), denn seine Verbindungen machten ihn auch für Joachim von Ribbentrop interessant, der als »Sonderbotschafter« Hitlers mit seiner »Dienststelle Ribbentrop« zwischenstaatliche Kontaktpflege parallel zum Auswärtigen Amt betrieb. Joachim von Ribbentrop ernannte Abetz im Herbst 1934 zum Frankreichreferenten seiner Dienststelle, und Abetz durfte sich von nun an als »›Diplomat neuen Stils‹« (S. 122) einer Avantgarde zugehörig fühlen, die die »›Offensive du charme‹« (S. 156) des nationalsozialistischen Deutschlands gegenüber Frankreich ins Werk setzte. Spätestens hier kam bei Abetz neben dem ursprünglichen Idealismus auch Karrieredenken ins Spiel: 1935 trat er in die SS ein, 1937 wurde er Mitglied der NSDAP. Roland Ray hält Abetz jedoch zugute, daß »seine Zufriedenheit über vermeintliche Möglichkeiten, die Aussöhnung voranzutreiben«, ihm zu diesem Zeitpunkt noch die Einsicht erschwert haben mochten, »daß skrupellose Machthaber ihn als Werkzeug mißbrauchten« (S. 126).

Die »Offensive du charme« umfasste vor allem die gezielte Einflussnahme auf französische Journalisten und Schriftsteller sowie die Gründung der »Deutsch-Französischen Monatshefte«. Diese Zeitschrift wurde 1935 offizielles Organ der auf Initiative von Abetz und von Ribbentrop neugegründeten »Deutsch-Französischen Gesellschaft«, deren französische Schwesterorganisation das »Comité France-Allemagne« war. Die Bemühungen, ein deutschlandfreundliches Meinungsklima in Frankreich zu schaffen, hatten begrenzten Erfolg. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag im März 1939 war die Zeit der deutsch-französischen Annäherung jedoch vorbei, denn nun war klar, dass sich Hitler in seinen territorialen Ansprüchen durch politisches Entgegenkommen nicht bremsen ließ. Die Stimmung in Frankreich schlug um, und Otto Abetz – dessen Tätigkeit die französische Spionageabwehr schon lange mit Misstrauen beobachtet hatte – wurde für die französische Presse zur Symbolfigur der »Fünften Kolonne«. Am 30. Juni 1939 erklärte die französische Regierung Abetz zur »persona non grata« und erteilte ihm ein Aufenthaltsverbot in Frankreich, das bis Juni 1940 nicht wieder aufgehoben wurde. Otto Abetz ließ sich davon jedoch nicht beirren und blieb weiterhin Frankreichreferent in der Dienststelle Ribbentrop, bis er im April 1940 als Gesandter in das Auswärtige Amt wechselte, das seit 1938 Joachim von Ribbentrop selbst leitete.

Am 15. Juni 1940 kehrte Otto Abetz im Triumph nach Paris zurück. Dort firmierte er zunächst als »Bevollmächtigter des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Frankreich« und ab August 1940 dann als »Deutscher Botschafter«. Mit 37 Jahren hatte er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht und glaubte, gerade seine Berufung nach Paris sei ein Zeichen dafür, dass Hitler auch nach dem militärischen Sieg über Frankreich die Verständigung mit dem Nachbarland suchte und ihm einen herausgehobenen Platz in der »neuen europäischen Ordnung« zuzuweisen gedachte. Tatsächlich hielt sich Hitler im Sommer 1940 alle Optionen offen und hoffte darauf, durch seine »Großzügigkeit« gegenüber Frankreich auch Großbritannien zum Einlenken bewegen zu können. So blieb Frankreich nach Inkrafttreten des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages am 25. Juni 1940 formal ein souveränes Land mit einer eigener Regierung unter Marschall Philippe Pétain, die ihren Sitz in Vichy, im unbesetzten Teil des Landes, nahm. Während Pétain zunächst die Neutralität seines Landes wahren wollte, suchte sein Stellvertreter Pierre Laval von Anfang an die aktive Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland, da er überzeugt war, dass Hitler den Krieg gewinnen würde. In Otto Abetz fand Laval dabei den »idealen Verhandlungspartner« (S. 308). Bald jedoch stellte sich heraus, dass weder Abetz noch Laval den Rückhalt ihrer Regierungen besaßen. Hitler war an einer wirklichen Partnerschaft mit Frankreich nicht interessiert. So führte das Treffen von Hitler und Pétain am 24. Oktober 1940 in Montoire, das sich vor allem Otto Abetz als Erfolg anrechnete, nicht zu wirklichen Ergebnissen, und mit der Entlassung Lavals aus der Regierung in Vichy am 13. Dezember 1940 erlitt Otto Abetz »in seinem Bemühen, die Beziehungen beider Länder auf neue Grundlagen zu stellen, einen schweren, vielleicht schon entscheidenden Rückschlag« (S. 338).

Otto Abetz war jedoch nicht allein der auf einen politischen »Ausgleich« bedachte Botschafter, sondern spielte vor allem auch eine Vorreiterrolle beim nationalsozialistischen Kunstraub und der Judenverfolgung in Frankreich. So ließ Abetz schon am 6. Juli 1940 »›schlagartig in getarnter Form‹« (S. 340) von der Geheimen Feldpolizei eine Razzia in jüdischen Kunst- und Antiquitätengeschäften in Paris durchführen. Weitere Beutezüge der Botschaft folgten, ehe sich der »Einsatzstab Rosenberg« und Hermann Göring den alleinigen Zugriff auf die jüdischen Kunstschätze Frankreichs sicherten. Otto Abetz war es auch, der in einer Denkschrift vom 30. Juli 1940 als erster »›antisemitische Sofortmaßnahmen‹« (S. 355) im besetzten Gebiet verlangte. Auf seine Anregung hin verfügte die Militärverwaltung im September/Oktober 1940 ein Rückkehrverbot für Juden in das besetzte Gebiet sowie eine Meldepflicht und den Aufbau eines Judenregisters für die, die noch hier lebten. Nach dem Krieg rechtfertigte sich Abetz damit, er habe mit seinem Vorstoß schärfere Maßnahmen verhindern wollen. Die Zusammenarbeit von Botschaft und Militärverwaltung bewirkte jedoch »die bis dahin einschneidendsten antijüdischen Maßnahmen in den eroberten Gebieten West- und Nordeuropas und hatte Signalfunktion für andere deutsche Besatzungsregimes« (S. 359).

Mit dem Jahreswechsel 1940/41 beendet Roland Ray im Wesentlichen seine Ausführungen über Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik. Er beschränkt sich darauf, in einem kurzen Epilog die weiteren Ereignisse zu skizzieren: das endgültige Scheitern der politischen Kollaboration zwischen Deutschland und Frankreich wie Abetz sie sich erhofft hatte, die zeitweilige Abberufung des Botschafters aus Paris 1942/43, seine Flucht vor den Alliierten nach Sigmaringen und in den Schwarzwald, wo er Ende Oktober 1945 verhaftet wurde, und schließlich den Prozess gegen Otto Abetz vor einem Pariser Militärgericht, das ihn 1949 zu 20 Jahren Haft verurteilte. Schon zu Ostern 1954 wurde Abetz jedoch vorzeitig aus der Haft entlassen und arbeitete bis zu seinem Tod am 5. Mai 1958 weiter an seinem Selbstbild als »Mittler« zwischen Deutschland und Frankreich, der stets das Beste gewollt und in schwieriger Zeit das Schlimmste zu verhindern gesucht habe.

Roland Ray begründet den etwas unvermittelten Abschluss seiner Studie damit, dass um 1941/42 »Abetz’ Irrtümer und Verfehlungen, seine Doppelzüngigkeit und seine Abhängigkeit von den in Hitlers Umgebung getroffenen Entscheidungen« bereits ausreichend zu erkennen seien, »die Jahre danach tragen zu einer Bewertung seines politischen Wirkens nur noch wenig bei« (S. 376). Diese Begründung kann nicht überzeugen, denn es ist ja gerade Abetz’ Wirken in der gesamten Besatzungszeit, das ihn historisch interessant macht und das im Lichte neuer Quellen analysiert werden muss. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus sein Schicksal nach 1944, vor allem aber die Frage, welchen theoretischen und praktischen Einfluss Otto Abetz und seine ehemaligen engen Mitarbeiter an der Botschaft in Paris auf die deutsch-französischen Beziehungen der Nachkriegszeit hatten. Gerade hier hätte man sich von Roland Ray neue Erkenntnisse erhoffen dürfen, denn er hat eine Studie vorgelegt, die auf einer beeindruckend breiten Basis alter und neuer Quellen beruht und nicht mehr allein auf die Zeugnisse von Otto Abetz selbst angewiesen ist, sondern diese mit der gebotenen Skepsis verarbeitet.

Selbst wenn man aber die Beschränkung auf den Zeitraum bis 1942 akzeptiert, bleibt der Eindruck einer zum Teil nicht sehr glücklichen Gewichtung der Kapitel auch innerhalb der Studie. So wird etwa eine Intrige der Reichsjugendführung gegen Abetz aus dem Jahr 1937 mit 24 Seiten im Verhältnis zum Gesamtumfang des Buches fast ebenso ausführlich behandelt wie Abetz’ Beteiligung an Kunstraub und Judenverfolgung mit 34 Seiten. Zudem hätte sich auch der geduldige und interessierte Leser so manche Straffung in der Darstellung zugunsten von mehr Prägnanz in den Schlussfolgerungen gewünscht. Gleichwohl hat Roland Ray mit seiner Arbeit einen zentralen Beitrag zur Erforschung von Otto Abetz geleistet, eine Gesamtdarstellung von Leben und Wirken des deutschen Botschafters in Frankreich 1940 – 1944 steht jedoch weiterhin aus. 1

Anmerkung:
1 Möglicherweise erfüllt diesen Anspruch die Studie von Barbara Lambauer: Otto Abetz et les Français ou l’envers de la Collaboration, Paris 2001.

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