Titel
Von der Gemeinde zur 'Community'. Jüdische Einwanderer in Chicago 1840-1900


Autor(en)
Brinkmann, Tobias
Reihe
Studien zur historischen Migrationsforschung 10
Erschienen
Osnabrück 2002: V&R unipress
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Ortlepp,

Mit seiner Studie der jüdischen Gemeinde in Chicago in den Jahren zwischen 1840 und 1900 legt Tobias Brinkmann einen willkommenen Beitrag zur Geschichte der Juden in den Vereinigten Staaten vor. Erstaunlicherweise nämlich hat die Forschung bislang der Entstehung und Struktur jüdischer Gemeinden in amerikanischen Mittel- und Großstädten des 19. Jahrhunderts kaum Beachtung geschenkt. Ihr Fokus lag vielmehr auf den nach 1880 einsetzenden Migrationswellen und den Veränderungen, die jüdisches Leben durch diese erfuhr. Um so erfreulicher ist es, dass Brinkmann sich einer der größten Gemeinden des Landes angenommen hat und die Geschichte jüdischen Lebens aus der bislang vernachlässigten Perspektive der sogenannten ”German Jews” erzählt.

Brinkmann nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Richtungen. Unter Zuhilfenahme wirtschafts- und sozialhistorischer Fragestellungen befasst er sich mit dem ”rags-to-riches” Mythos und fragt nach dem Standort der Chicagoer Juden in einem sich schnell vom ländlich-agrarischen zum urban-industriell wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld. Damit einher geht eine auf umfangreiche Datenerhebung und –auswertung basierende Analyse der sozialen Struktur der jüdischen Gemeinschaft. Brinkmann untersucht Formierungs- und Auflösungsprozesse, zeichnet die Geschichte von Vereinen und Organisationen nach, betrachtet Geschlechterverhältnisse sowie das Verhältnis von Juden und Nichtjuden. Darüber hinaus betreibt er eine Lokalgeschichte der jüdischen Reformbewegung, die ideengeschichtliche Ansätze und die Betrachtung ”großer” Rabbiner aufgreift, diese aber durch den Blick ”von unten” auf Prozesse des Wandels zu ergänzen versucht. Schließlich verordnet sich Brinkmann eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff ”community” als Bezeichnung für ein ”institutionalisiertes Netzwerk von Vereinen und Gemeinden an einem bestimmten Ort [...], das über mehrere Jahre existiert”. (18) Seine Studie basiert auf einem umfangreichen Quellenstudium. Vor allem die Auswertung amerikanischer Volkszählungsunterlagen ist in ihrem Detailreichtum äußerst aufschlussreich und bietet wichtige Anknüpfungspunkte für zukünftige Lokalstudien.

Im Anschluss an die einleitenden Bemerkungen folgt Brinkmanns Studie im Wesentlichen einem chronologischen Aufbau. Bevor er jedoch die Anfänge jüdischen Lebens in Chicago analysiert, betrachtet er die Migration von Juden aus Europa nach Nordamerika vor 1880, die Stadtwerdung Chicagos sowie die Anfänge jüdischen Lebens im Westen der USA. Brinkmann kann zeigen, dass Juden überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil migrierten. In Ländern wie Bayern war es vor allem die schleppende Emanzipationspolitik, die Juden zur Auswanderung motivierte; zudem spielten sozioökonomische Wandlungsprozesse in die Wanderungsentscheidung hinein. Ähnlich wie nicht-jüdische Migranten verfügten auch Juden über Netzwerke und Informationen, die eine Auswanderung zu einem relativ kalkulierbaren Risiko machten. Häufig waren es weniger idealisierte oder abstrakte Vorstellungen vom ”Land der Freiheit” (80), die zur Wahl der USA als Zielland führten, als vielmehr konkrete Wünsche nach einer Verbesserung der individuellen Situation. Während einige jüdische Auswanderer und Auswanderinnen Chicago von Beginn an zum Ziel ihrer Reise auserkoren hatten, erreichten andere die Stadt am Michigan See offenbar erst auf Umwegen, nach Zwischenstationen an der Ostküste oder in Städten wie Cleveland, Detroit oder Cincinnati, wo ebenfalls größere jüdische Gemeinden existierten. Chicago erlebte nach Ende des amerikanischen Bürgerkrieges ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum, das hauptsächlich durch den Zuzug von Migranten von der Ostküste und aus Europa zustande kam und insbesondere nach dem Feuer von 1871 einher ging mit einer schnellen Industrialisierung. Um 1900 lebten 1.8 Millionen Menschen aus aller Herren Länder in der Stadt. Vor diesem Hintergrund, so Brinkmann, hatte sich die jüdische community zu positionieren.

Dem Kapitel über die Pioniergeneration (1840-1859) ist zu entnehmen, dass Juden nachweislich seit 1845 in der Stadt lebten. Ihren ersten Zusammenschluss formten sie mit der Jewish Burial Ground Society, der wenig später die Gründung der ersten Synagogengemeinde folgte. Allerdings blieben beide Einrichtungen organisatorisch getrennt, woraus Brinkmann die Anfänge einer ”neuartigen ‚amerikanischen‘ Struktur jüdischen Lebens” abliest (138). Bis Ende der 1850er Jahre bildeten Juden offenbar eine relative kleine und unauffällige Gruppe. Sie stammten mehrheitlich aus Süddeutschland und waren nicht einzeln, sondern in Familienverbänden eingewandert. Viele fanden in der Produktion und im Vertrieb von Textilien und Bekleidung ein Auskommen und erreichten schon vor dem Bürgerkrieg einen bescheidenen Wohlstand. Kontinuierliche Zuwanderung führte zu einer Vergrößerung der Gemeinde und zur Entstehung von diversen Vereinen, darunter auch verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen von Frauen und die erste B’nai B’rith Loge (1857). Bald zeichnete sich ab, dass sich die Gemeindearbeit auf den religiösen Bereich verengen und die jüdische Einheitsgemeinde nach deutschem Vorbild in Chicago keine Fortschreibung erfahren würde. Brinkmann deutet dies als Hinweis auf ”die Akkulturation jüdischen Lebens an die Bedingungen in Amerika” (150). Ähnlich interpretiert er das zunehmende Interesse an Reformen bei Teilen der Gemeinde, das in der Entstehung einer Chicagoer Reformbewegung mündete, die sich zunächst vor allem an der Theologie David Einhorns und Bernhard Felsenthals ausrichtete. Die Entstehung einer community jenseits der Einheitsgemeinde macht Brinkmann am zunehmende Engagement für Wohltätigkeitsarbeit fest. Über alle Gegensätze hinweg bot sich Wohltätigkeit als gemeinsamer Bezugspunkt für Chicagoer Juden an, war doch das Gebot der ”Tzedakah” für jeden religiösen Juden von großer Bedeutung. Offenbar war es auch dieses Engagement, das die Wahrnehmung der Juden durch ihre nicht-jüdischen Zeitgenossen maßgeblich prägte.

Trotz einer Zunahme antijüdischer Vorurteile liest Brinkmann die Jahre zwischen dem Beginn des Bürgerkrieges und der Feuerkatastrophe (1860-1871) als Erfolgsgeschichte ”für das Projekt einer jüdischen ‚community‘” (193). Juden gelang es durch ihre Teilnahme am Bürgerkrieg nicht nur, ihre gruppeninternen Differenzen zu überwinden, sondern auch, sich als loyale Bürger zu profilieren. Erstmals wurden sogenannte ethnic leaders erkennbar, die politische Interessen artikulierten. Was den Kriegsboom anbetrifft, so profitierten offenbar auch jüdische Geschäftsleute davon. Brinkmann konstatiert eine Fortsetzung des Trends zur sozialen Mobilität, der sich an der guten Grundversorgung eines Gros der jüdischen Bevölkerung und an einer zunehmenden Zahl von Großverdienern (aus der Textilbranche) ablesen lässt. Auch das religiöse Leben war während dieser Phase von Wachstum und Vielfalt geprägt. Insbesondere gelang es dem radikalen Flügel der Reformbewegung (Sinai Gemeinde), seine Position zu festigen und auszubauen. Jüdisches Vereinsleben, so Brinkmann, bildete weiterhin den Kern jüdischen community-Lebens, auch wenn sich Vereine zunehmend zu Orten entwickelten, an denen es sich ein Mittelklassebewusstsein ausbildete, das Partizipationsmöglichkeiten einschränkte. Anderseits behielt gerade die organisierte Wohltätigkeitsarbeit ihre integrative Kraft und erlaubte es den Juden Chicagos, sich als Bürger zu präsentieren, die dem Allgemeinwohl verpflichtet waren.

Die Jahre zwischen 1871 und 1880 hingegen interpretiert Brinkmann als Zeit, in der sich die ”‘community‘ in der Krise” befand (261). Dies führt er zum einen auf die Folgen des großen Feuers zurück, die auch für die jüdischen Bewohner der Stadt spürbar waren und in einigen Fällen den sozialen Aufstieg zunichte machten. Zum anderen beobachtet er eine Beschleunigung von Klassenbildungsprozessen sowie eine allmähliche Abkehr der Juden von einer übergreifenden deutschen community, die bis dahin eine gewissen Anziehungskraft gehabt hatte, nun aber unüberschaubar geworden war. Mit der steigenden Zahl von Juden fächerte sich auch das religiöse Leben weiter auf. Orthodoxe Juden aus Osteuropa gründeten neue Gemeinden, die Reformbewegung machte Fortschritte, stieß aber zugleich an ihre Grenzen, wie die Konfrontation zwischen Kaufmann Kohler und der Ethical Culture Bewegung um Felix Adler deutlich macht. Krisenstimmung attestiert Brinkmann auch der großen jüdischen Wohltätigkeitsorganisation, der United Hebrew Relief Association, die angesichts der Folgen des Feuers und der allmählich einsetzenden Masseneinwanderung aus Osteuropa an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangte. War aber, so Brinkmann, erst die Fortführung der Wohltätigkeitsarbeit gefährdet, so sei dies als Indiz dafür zu interpretieren, dass die jüdische community kurz vor ihrer Auflösung stand. Die Abkehr junger Juden von den Gemeinden und ihre ”Flucht” in säkulare Vereine deutet er als Bestätigung dieses Trends.

Der Umgang mit der Krise steht im Zentrum der letzten beiden Kapitel von Brinkmanns Studie. Er betrachtet das Aufeinandertreffen von “German Jews” und “Russian Jews” aus der Perspektive der “Germans” und interpretiert es als Konflikt zwischen Etablierten und Außenseitern. Er kann zeigen, dass sich die Ablehnung der Neueinwanderer im Laufe der Zeit abschwächte und vor allem die Furcht vor einer Ausbreitung antijüdischer Vorurteile etablierte Juden dazu führte, die “Amerikanisierung” der “Russians” anzustreben. Brinkmann verweist auf verschiedene Amerikanisierungsstrategien und zeigt im Besonderen eine enge Kooperation zwischen jüdischen Organisationen und der Settlement House Bewegung in Chicago auf. Was das Projekt einer community anbetrifft, so kommt er zu dem Ergebnis, dass trotz Zersplitterung, Zerstreuung und Diskriminierung, die sich nach 1900 manifestieren, von community gesprochen werden kann. Allerdings von zwei communities: “eine in der Krise befindliche der etablierten Juden und eine entstehende ‚community’ der neuen Zuwanderer” (396). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies offenbar für Chicagoer Juden die einzige Möglichkeit, die Gratwanderung zwischen jüdischem Gruppenbewusstsein und den Kräften der Assimilation zu meistern.

Brinkmanns Studie überzeugt durch ihren Materialreichtum und ihre Tiefenschärfe. An der ein oder anderen Stelle hätte geringere Ausführlichkeit zur besseren Verständlichkeit beigetragen. Auf den Aufbau der Studie sind zudem eine Reihe von Wiederholungen zurückzuführen, auf die hätte verzichtet werden können. Schade ist, dass jüdische Frauen nur ab und an ins Blickfeld der Studie geraten. Insgesamt bleibt zu sagen, dass Brinkmann Studie – sowohl aufgrund ihres methodischen Vorgehens als auch aufgrund ihres differenzierten Blicks auf Chicagos jüdische Gemeinde – mit großem Gewinn zu lesen ist.

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