St. Gorißen: Vom Handelshaus zum Unternehmen

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Titel
Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720-1820)


Autor(en)
Gorißen, Stefan
Reihe
Bürgertum 21
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Hartmann, Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften, Freie Universität Berlin

Seit einigen Jahren hat es die „Neue Institutionenökonomik“ in den theoretischen Fundus der Wirtschaftsgeschichte geschafft. Die Geschichtswissenschaft, die immer Probleme mit dem normativen Charakter der ökonomischen Modelle der Neoklassik hatte, kann aus dieser Perspektive wesentlich besser ihren empirischen Beitrag zur Erforschung des wirtschaftlichen Geschehens leisten. Dazu kommt, dass dieser Blickwinkel den Akteur wieder in den Mittelpunkt rückt. Auf diese Weise ist es der Wirtschaftsgeschichte nach Jahren der Entfernung wieder möglich, sich stärker den Schwesterdisziplinen wie der Sozialgeschichte oder der Kulturgeschichte anzunähern. Vor allen Dingen kann aber die allzu lange stiefmütterlich behandelte Tochter Unternehmensgeschichte nun endlich auf ein zumindest fragmentarisch vorhandenes Theoriegerüst zurückgreifen und selbst zu seiner Konstruktion beitragen. 1

Nach einer langen theoretischen Diskussion 2 beginnt sich der Rahmen nun auszufüllen, und die ersten Unternehmensgeschichten nehmen explizit eine solche Perspektive ein. Hier liegt, vorweggenommen, der große Verdienst der Arbeit Stefan Gorißens Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720-1820). Darin versucht der Autor die Sphäre des Marktes in seine Analyse einzubeziehen, die Interaktion zwischen Produzent und Absatzort zu erklären, eine Perspektive, die von den Historikern nur allzu lange außer Acht gelassen worden ist.

1. Mikrostudie mit großem Anspruch
Gorißen macht keinen Hehl daraus, dass er nicht der Erste ist, der sich mit Industriegeschichte vor der Industrialisierung beschäftigt. Doch benötigt die Geschichte der Protoindustrialisierung, auf deren „unbestrittenen heuristischen Wert“ (S. 17) sich auch Gorißen gerne bezieht, eine wesentliche Präzisierung auf mikroökonomischer Ebene, sprich in den Unternehmen selbst. Es geht ihm allerdings nicht nur um einen solchen Blick von unten; mit der Integration von Handelswegen, Marktstrukturen und Kommunikationsmöglichkeiten sprengt er deutlich diese Mikroebene und erweitert den Blick. Für ein solches Spiel mit den Maßstäben erscheint die Sozialgeschichte der Firma Harkort aus dem westfälischen Hagen nahezu ideal. In der von Gorißen gewählten Zeitspanne 1720-1820 (Grenzen, die im Wesentlichen der Quellenlage geschuldet sind) schafft es die Firma, sich von einer gewöhnlichen Handelsfirma zu einem der Hauptakteure auf dem Markt für Kleineisenartikel (Messer, Sensen etc.) zu entwickeln. So kann Harkort selber auf Anfrage der preußischen Regierung 1784 melden, unter den von dieser nachgefragten Artikeln sei kein einziger „der nicht in der Grafschaft Marck in genügsamer Menge […] verfertigt würde“ (S. 350). Durch ihre weitreichenden Verlagsbeziehungen bezieht diese Entwicklung die ganze Region mit ein. Gorißen geht es hier darum, die betriebswirtschaftliche Logik zu rekonstruieren (S. 13), die trotz aller Besonderheiten dieser Unternehmensentwicklung zu Grunde liegt.

2. Ein schwieriges Umfeld
Der eigentlichen Beschreibung des Unternehmens geht eine ausführliche Analyse von Charakteristik und Geschichte der Eisenindustrie in der Grafschaft Mark, des determinierenden Einflusses des preußischen Staates sowie des traditionellen Rahmens der Gewerbeverfassung voraus. Dabei gelingt es ihm zunächst darzustellen, von welch entscheidender Bedeutung der Faktor des „Humankapitals“ (S. 53) für die weitere Entwicklung der Eisenindustrie ist. Die bereits über Jahrhunderte ansässige Metallindustrie bringt ein weitreichendes Know-how mit. Anders aber als man es aus der Erfahrung der Industrialisierung kennt, ist hier die, im ganzen positive, Entwicklung der Metallindustrie nicht mit einer signifikanten Bevölkerungsexplosion verbunden. Trotz scharfer Konkurrenz aus dem nahe gelegenen Bergischen Land (Solingen ist nur ein weiterer Produktionsort) verschaffen sich die Produkte aus der Grafschaft Mark im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, vor allen Dingen im Rahmen von Napoleons Kontinentalsperre, Zugang zu weiteren Märkten. Besonders Lübeck wird dabei als Absatzort geradezu erobert; Sensen und Messer aus der Grafschaft werden von hier aus weiter in den Ostseeraum gehandelt.

Die preußische Wirtschaftspolitik (S. 85) ist kein Faktor, der die wirtschaftliche Entwicklung der Region begünstigt. Obgleich durchaus aktiv, bemühen sich die Wirtschaftspolitiker in Berlin doch eher darum, einen Ausgleich zwischen dem armen Osten und dem weiter entwickelten Westen herbeizuführen, als die Dynamik der Region durch angemessene Handelsgesetzgebung zu unterstützen. Leider bleibt Gorißens wirtschaftspolitische Analyse hier im Wesentlichen auf den preußischen Staat in seiner Gesamtheit beschränkt. Auf eine Analyse des Aktionsraumes des regionalen Adels verzichtet er. Was der Autor unter Institutionenökonomik versteht, weiß man spätestens nach der Lektüre des Kapitels über die Gewerbeverfassung (S. 110). Der protoindustrielle Markt war im Wesentlichen an „ständisch-kooperative Institutionen gebunden“ (S. 125). Ob es sich hierbei um Frühformen von Absatzkartellen, den sogenannten „Stapelgesellschaften“ (S. 114) handelt oder den zwischen Kaufleute und Fabrikanten geschalteten Reidemesitern; es wird deutlich, dass „Institutionen“ in der protoindustriellen Entwicklung nicht nur Hemmschuh kapitalistischer Dynamik, sondern auch effiziente Wege sind, einen dauerhaften Marktzugang und damit Absatz zu sichern. In Gorißens ausführlicher Analyse des Rahmens, in dem sich die Firma Harkort in den Jahren zwischen 1720 und 1820 entwickelt, fehlt leider eine ausführliche Analyse der geographischen Besonderheiten der Region sowie determinierender Entwicklungen im Bereich der Technik.

3. Die Familie im Mittelpunkt
In der Beschreibung der unternehmerischen Handlung gelingt es dem Autor deutlich herauszustellen, in welchem Maße nicht nur die Figur des Unternehmers sondern auch dessen ganze Familie bei der Unternehmung Harkort im Mittelpunkt steht. Angehörige der Firma werden teilweise noch am familiären Tisch verköstigt. Doch nicht nur dies mag als typisch für die vormoderne Unternehmung gelten. Als Vertreter des frühindustriellen Bürgertums (S. 139f.) nutzen die Harkorts auch die Möglichkeiten der Heiratspolitik, um eine langfristige Erhaltung und Ausweitung ihres Handelsnetzes zu erreichen, was Gorißen zu einer Reflexion über die Bedeutung sozialen Kapitals für eine solche Kaufmannsfamilie veranlasst (S. 157). Doch ist er gezwungen anzuerkennen, dass auch bei Harkorts nicht alles nach wirtschaftsrationalen Überlegungen abläuft. So heiratet man mit Vorliebe, aber lange nicht ausschließlich innerhalb des Handelsnetzes.

Im Folgenden macht er klar, worin das Geschäft der Familie besteht: nicht nur eine mit allen Schwierigkeiten vorindustrieller Kommunikations- und Verkehrswege verbundene Handelsaktivität (S. 183ff.) bildet das Herz der Unternehmung, hinzu kommt ein intensiver Handel mit der Rückfracht (über den der Autor leider kaum ein Wort verliert).

Eine Besonderheit stellt die Tatsache dar, dass die Firma einen guten Teil der Produktion ihrer Eisenwaren integriert hat. „In dem Ausmaß, in dem sich der Export von märkischen Metallwaren ausweitete, mussten auch die verlegerischen Beziehungen zu den Schmieden in der Region expandieren.“ (S. 264) Dies geschieht nicht nur durch eine Ausweitung der Zahl zuliefernder Betriebe, sondern auch in Form einer Intensivierung der Beziehungen zu diesen Betrieben. Die Vielfalt der möglichen Verbindungen zu den Werkstätten ist hierbei besonders beeindruckend. Die Verlagsbeziehungen, die die Firma in der Region unterhielt, sind zu einem guten Teil von relativ losem Charakter. Gerade hierin sieht der Autor „ökonomische Rationalität“ (S. 273), denn so gelang es der Firma, auch bei schwankendem Absatz und variierender Nachfrage die Kundeninteressen zu befriedigen ohne dabei ein allzu hohes geschäftliches Risiko einzugehen. Doch für die Stammproduktion integriert die Firma Teile der Produktion auch schon vollständig, indem sie eigene Hammerwerke gründet.

Nach einem sehr kurz gehaltenen Abriss der Sozialgeschichte der Verlagsarbeiter der Firma (S. 298ff.) kommt Gorißen in seinem letzten Kapitel zur Analyse der Rationalität des vorindustriellen Kaufmanns, die sich nicht nur in dessen – eben nicht vollständig auf der Höhe der Zeit seienden – Buchführungstechnik (333ff.), sondern auch in seinen politischen Vorstellungen zeigt. Hier erreicht der vorindustrielle Kaufmann nur selten einen wirtschaftsliberalen und fortschrittlichen Standpunkt, im Wesentlichen ist er noch von den korporativen Vorstellungen eines kameralistischen Wirtschaftssystems geprägt (S. 340ff.). Doch dessen ungeachtet ist sich der Autor sicher, dass das Unternehmen Harkort bereits in der Phase der Protoindustrialisierung Teil einer sich „arbeitsteilig vernetzenden Welt“ (S. 384) ist.

Eine ausführliche Bibliografie, ein reichhaltiger Anhang mit Zahlenmaterial zu den Warenflüssen und Umsätzen der Firma sowie ein solider Index vervollständigen das Buch.

Die Verankerung der Arbeit Gorißens in einer theoretisierten Unternehmensgeschichte ist durchdacht, und so werden sich weniger Ökonomen als Historiker bei der Lektüre seines Buches offenen Fragen gegenüber sehen. Vor allem zwei seien hier erwähnt: 1. Was die formale Gliederung der Arbeit anbetrifft, entscheidet Gorißen sich für eine rein analytische Unterteilung. Sicherlich kommt dies der Stringenz der Argumentation zugute. Doch auch auf den zweiten Blick lässt sich über einen Zeitraum von 100 Jahren keine Periodisierung und damit auch keine Dynamik in der Geschichte Harkorts erkennen. Auch wenn man wirtschaftliche Stabilität beschreiben will, scheint dies kaum zu rechtfertigen. 2. Dem Titel nach zu urteilen möchte Gorißen eine Sozialgeschichte der Firma Harkort schreiben, de facto und auch seiner Einleitung nach analysiert er die ökonomische Rationalität von Unternehmen und Unternehmer. Dass es hier einen offenen und ungelösten Widerspruch gibt, ist schnell zu erkennen. Auch die außerordentlich kurze und unvermittelt eingefügte Sozialgeschichte der Verlagsarbeiter erfüllt nicht den Zweck, die innerbetriebliche Dynamik zu erfassen. Gorißen beschreibt nur die Rahmenbedingungen einer Sozialgeschichte der Firma, der Blick auf die Akteure im Unternehmen unterhalb der Ebene der Unternehmerfamilie bleibt im Wesentlichen verwehrt. Dabei würde gerade dies einen wichtigen Beitrag für eine institutionsökonomische Analyse des Unternehmens leisten. Denn Institutionen sind nicht nur in der Interaktion eines Unternehmens mit anderen wirtschaftlichen Akteuren zu suchen, sondern auch und vor allem im Inneren des Betriebes. 3

Gorißens großes Verdienst bleibt es, einen theoretischen Rahmen auszufüllen, der bisher im Wesentlichen nur als Konzept vorhanden war. Damit könnte sein Beitrag die Diskussion um die Protoindustrialisierung neu beleben und wichtige Denkanstöße für eine neue Form der Unternehmensgeschichte geben.

Anmerkungen:
1 Zur Theorie der „Neuen Institutionenökonomik“ Williamson, Oliver E., Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 1990.
2 So widmete Geschichte und Gesellschaft vor kurzer Zeit eine ganze Ausgabe der Nutzbarmachung dieser Theorie für die Geschichte und vor allen Dingen für die Unternehmensgeschichte: Geschichte und Gesellschaft Nr. 27/2001, vgl. vor allen Dingen die Artikel von Fiedler und Casson.
3 In diesem Sinne zu lesen Welskopp, Thomas, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 118-142.

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