Th. Frank u.a. (Hg.): Des Kaisers neue Kleider

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Titel
Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte - Bilder - Lektüren


Herausgeber
Frank, Thomas; Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann und Ethel Matala de Mazza, unter Mitwirkung von Andreas Kraß
Erschienen
Anzahl Seiten
281 S., 25 Abb.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Droese, Germanistisches Institut der HU Berlin

Dass politische Herrschaft immer wieder auf die gesellschaftliche Einbildungskraft angewiesen ist, ja sich zuweilen einer Kunst der Illusion bedienen muss, ist eine Feststellung, die nicht allein in Wahlkampfzeiten ihre Gültigkeit hat. Die Tätigkeit der PR-Abteilungen belegt es tagtäglich neu. Die Beziehung zwischen der Macht und dem Imaginären einer tiefergehenden Analyse zu unterziehen, ist das Vorhaben des hier zu besprechenden Bändchens, das im Rahmen des Projekts “Poetologie der Körperschaften” am Zentrum für Literaturforschung Berlin entstanden ist. Es nähert sich seinem Thema auf eine recht ungewöhnliche, “experimentelle” Weise: nicht in einer historisch-empirischen Studie, sondern in Auseinandersetzung mit einer literarischen Tradition, der das Motiv des von kunstfertigen Betrügern getäuschten Herrschers gemeinsam ist. Dieser Erzählstoff wird im ersten Teil in einer Textsammlung vorgestellt. Den zweiten Teil bildet eine Art “kleine Enzyklopädie”, die aus 18 Artikeln (“Lektüren”) besteht (10). Von Enzyklopädie kann freilich nur in einem metonymischen Sinne die Rede sein, hier wird kein systematischer Gesamtüberblick oder gar ein Nachschlagewerk angestrebt, sondern eine interdisziplinäre Diskussion anhand eines Textkorpus geführt. Die einzelnen Artikel greifen, unterstützt durch Bildmaterial, jeweils einen Aspekt heraus, stehen aber untereinander in einem Verweisungszusammenhang. Ihre theoretischen Ausgangspunkte gewinnen die Verfasser erstens mit dem Problem der Investitur, dem allein im Imaginären wahrnehmbaren politischen Körper des Herrschers 1, zweitens in Anlehnung an Freud und Derrida mit der Frage nach den textuellen Verfahren der Erzählungen, wird doch hier eine Täuschung bzw. ein Betrug von einem scheinbar selbstgewissen Ort der Wahrheit aus konstatiert (9).

Zunächst zur Edition: an erster Stelle steht natürlich, sozusagen als Paradigma, das titelgebende Märchen von H. C. Andersen. Die stoffliche Basis dafür fand Andersen in einem ebenfalls abgedruckten Exempel aus dem “Grafen Lucanor” des Don Juan de Manuel, einer Fürstendidaxe aus dem 14. Jahrhundert; im Unterschied zu Andersens Märchen steht jedoch hier nicht die Amtstauglichkeit bzw. Intelligenz, sondern die Legitimität der Geburt auf dem Spiel. Einem anderen Überlieferungszusammenhang entstammen die beiden deutschen Schwänke, eine Episode aus Strickers’ “Pfaffen Amis” (13. Jahrhundert) und eine Historie aus Hermann Botes “Eulenspiegel” (1510/11). Statt des Kleides ist es hier ein repräsentatives Bild, das den unehelich Geborenen unsichtbar bleiben muss. Ergänzt wird die Sammlung durch ein weiteres Exempel des “Grafen Lucanor”, das eine Verbindung zum breit tradierten plot des “Königs im Bade” herstellt: ein anmaßender König wird im Badehaus durch göttliche Fügung seiner Kleider beraubt und durch einen Engel als Doppelgänger ersetzt, forthin ist er gezwungen als Bettler durch die Lande zu ziehen. Auf andere, wichtige Zeugnisse wie Cervantes’ Zwischenspiel ist aus Platzgründen leider verzichtet worden (10), obwohl m. E. gerade dieses dem Leser wichtige Aufschlüsse geboten hätte 2.

Statt dessen hat man sich entschlossen, in die Abteilung “Texte” zwei prominente Lesarten der Moderne (Freud) bzw. Postmoderne (Derrida) aufzunehmen – eine problematische Vorgehensweise, weil es sich hierbei eben um Lektüren des Erzählstoffes (genauer des Andersen-Märchens) handelt. Zweifellos handelt es sich um wichtige Texte, insbesondere was die Frage nach der textuell verfassten “Wahrheit” angeht, aber sie bzw. ihr Gehalt wären im zweiten Teil besser aufgehoben gewesen. Als Beispiel nun der psychoanalytischen Aneignung des Stoffes steht Sigmund Freud, der in seiner “Traumdeutung” Andersens Märchen als Literarisierung einer typischen Traumsituation versteht. Am Werke sei eine zweifache Entstellung: Der Verlegenheitstraum der Nacktheit ist die im Konflikt mit der Wächterinstanz des Bewusstseins “partiell entstellte” Manifestation eines zugrundeliegenden Wunsches (Freud spricht auch von einem Schleier), die dem Märchen als Grundlage dient (55), das den unverständlichen Traum einer sekundären Bearbeitung unterwirft und ihn damit wiederum entstellt - und so Freud als Beleg für die Theorie der Traumdeutung dient. Dem entgegen steht (gewissermaßen als Metalektüre) der Text von Derrida, der seinerseits Freuds analytischen Diskurs dekonstruiert und deren Opposition von “ursprünglichem Stoff” und “sekundärer Fabrik” herausarbeitet (63). Für Derrida ist dies auch das Thema des Andersen-Märchens selbst: “die Möglichkeit des Wahren als Entblößung” (68). Von hier aus lassen sich auch Verbindungslinien zur Problematik des politischen Körpers ziehen, wie Susanne Lüdemann in ihrem luziden Artikel “Nackte Wahrheit” (95ff.) vorführt. Nacktheit ist ja keine naturale Kategorie (101): Bei Freud ist es der Offizier, der träumt, er sei in der Zivilhose unterwegs und dies als peinliche Nacktheit empfindet. Nacktheit wäre, in der Ausdrucksweise von Derrida, “Abwesenheit des Phallus als Attribut” (64), Koschorke spricht in einem anderen Zusammenhang sehr treffend vom “depotenzierten” Körper (242).

Damit sind wir schon bei den Lektüren: Hier ist nicht der Raum, alle Beiträge mit gleicher Aufmerksamkeit zu behandeln. Es können nur einige Beiträge herausgegriffen werden, um grundsätzliche Argumentationslinien und -zusammenhänge aufzuzeigen. Die sind etwa im Eröffnungsbeitrag von Albrecht Koschorke vorgegeben, der das Verhältnis von “Macht und Fiktion” thematisiert: Herrschaft ist faktisch auf die Anerkennung (bzw. den freiwilligen Gehorsam) der Beherrschten angewiesen. Wie aber lässt sich Anerkennung erzeugen? Nicht durch schiere physische Gewalt, sondern durch eine Reihe von Als-ob-Konstruktionen, die Herrschaft und soziale Ordnung sichern, weshalb sie Koschorke auch als “regulative Fiktionen” bezeichnet (77). So könne nach seiner Auffassung die Legitimität der Legislative nur durch ein solches Als-ob, sei es das göttlicher Vorsehung, sei es heutigentags eines Plebiszits, erwiesen werden. Eine andere Gruppe von Beispielen bilden die vielfältigen Formen der imaginären Verbindung des Mächtigen mit dem Kollektiv, man denke an die corpus-caput-Metaphorik. Der Herrscher verkörpert bekanntermaßen in vormodernen Gesellschaften wortwörtlich die soziale Ordnung, sie wird am inszenierten Herrscherkörper, und nicht zuletzt am herrscherlichen Amtskleid sichtbar. Die Schauseite der Macht ist aber auf die Adressaten verwiesen und damit angreifbar. Folglich bedarf Herrschaft der steten ästhetischen und “semantischen Pflege” durch den Künstler, der ihre prinzipielle Blöße “durch das dichte Gewebe seiner panegyrischen Rede zudeckt” (83).

Von hier aus ließe sich auf eine Reihe anderer Artikel verweisen. Etwa auf die von Susanne Lüdemann ermittelten “Beobachtungsverhältnisse” (85ff.): Im Anschluss an Luhmann wird der mit dem Wunderkleid angetane Herrscher als Beobachter 2. Ordnung definiert, der plötzlich aus der Position des überlegenen Subjekts in die des von allen angestarrten Objekts rückt. Dieser Umschlag von Narzissmus in Paranoia wird anhand zweier Illustrationen von Lisbeth Zwerger und Miramo Haz erläutert. Aufschlussreich in struktureller Hinsicht sind Koschorkes “Bündnisse und Klauseln” (111ff.), worin ein Schema der Figurenkonstellation entworfen und erörtert wird. Daneben gibt es eine Reihe historisch-genetischer Annäherungen: Auf die Rolle der Berater geht Ethel Matala de Mazza in ihrem Beitrag “Rat, Ratgeber” ein (120ff.) und setzt sie mit der Texttradition der Fürstendidaxe in Beziehung. Das semiotischen Funktionen des eingebildeten Bildes im “Pfaffen Amis” behandelt Andreas Kraß in “Bild, Kleid, Bühne” (147ff.), alle drei Medien begreift er als Herrschaftszeichen, als “symbolische Verdoppelung des königlichen Körpers”. Dessen blitzartige Annullierung wirft den König auf die “peinliche Einzahl” des natürlichen Körpers zurück (153) – ohne aber dass diese “Enthüllung” die Mechanismen der Herrschaft nachhaltig beschädigte. Instruktiv nicht nur für den Philologen ist der Beitrag “Wunder” von Thomas Frank (157ff.), der im vorliegenden Erzählstoff die “religiösen Substrukturen” aufdeckt (166); seiner Lesart zufolge handelt es sich um eine Mutation mittelalterlicher Mirakelerzählungen. Dies mag als Kostprobe genügen: auf diese Weise jedenfalls wird das Verhältnis von Imaginärem und Politischem im Spannungsfeld der vielfältigen Austauschbeziehungen zwischen Politik, Kunst, Religion, Medien usw. rekonstruiert.

Man geht jedoch fehl, wenn man von dem Bändchen eine erschöpfende Behandlung des Themas erwartet. Im Rahmen einer “Miniatur-Enzyklopädie” (Klappentext) - ein Ausdruck, der eine gewisse Vollständigkeit impliziert und zugleich widerruft - kann allerdings vieles nur angedeutet werden, manches fällt ganz weg. So wäre eine stärkere Berücksichtigung medien- und performativitätstheoretischer Gesichtspunkte wünschenswert gewesen 3. Es mag ja sein, dass der politische Körper des Herrschers nur im Imaginären seiner Untertanen existiert – offenkundig bedarf er dennoch einer sinnlich-erfahrbaren stofflichen Hülle. Die imaginäre Instituierung von Herrschaft ist somit keine rein symbolische Angelegenheit, sondern vollzieht sich über eine Reihe kultureller Praktiken, deren Ereignis- und Handlungscharakter, deren Materialität in Betracht zu ziehen ist. Besonders deutlich wird dies an der quasi-rituellen und theatralen “Prozession” des Kaisers; darin ein Paradebeispiel für eine performance. Hier hätten sich m. E. produktive Fragestellungen eröffnet.

Dies führt zu einem anderen Problem: Was heißt eigentlich “imaginär”? Leider wird dieser Begriff von den Autoren nicht hinreichend definiert. Beim Lesen gewinnt man den Eindruck einer Gleichsetzung von imaginär = soziale Suggestion = Illusion = fiktiv = Betrug. Daher spielen die Autoren auch immer wieder gern mit einer Kollegenschaft zwischen Betrüger, Ratgeber, Herrscher und Dichter (83; 114, 116; 127; 155), die allesamt Illusionen erzeugen. Eine solche Redeweise ist jedoch zu rigide, sie verkennt beispielsweise die produktiven und innovativen Aspekte des Imaginären als der Tätigkeit gesellschaftlicher Einbildungskraft. Der Horizont, vor dem sich eine Gesellschaft immer wieder neu entwirft, ist ein solcher imaginärer Verweisungszusammenhang. Hier ist an einen Gewährsmann der Autoren, Castoriadis, zu erinnern, der dem Imaginären eine geradezu transzendentale Rolle bei der Instituierung des Gesellschaft zuschreibt: sowohl als instituiertes wie als instituierendes Moment. Das heißt aber nicht nur, dass das Imaginäre die bestehenden Institutionen reproduziert, sondern auch, dass sie das fortwährende Agens zur Selbstveränderung der Gesellschaft ist 4. Dieser Aspekt muss allerdings bei der Konzentration auf den vorliegenden Textkorpus ins Hintertreffen geraten.

Als Fazit ist festzuhalten, dass die Verfasser gerade in der Auseinandersetzung mit einer literarischen Tradition eine Fülle von Hinweisen und Deutungsansätzen für die Analyse des imaginären Charakters politischer Herrschaft zutage gefördert haben. Der stete Rückverweis auf die Texte und die in den anderen Lektüren offerierten Perspektiven ermöglicht eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Problematik. Insgesamt trägt die Studie jedoch einen weitgehend feuilletonistischen Charakter. Die Verfasser selbst bezeichnen ihren Band als ein “kulturwissenschaftliches Lesebuch” (Klappentext). Als ein solches ist es allemal eine anregende Lektüre.

1 Gewährsmänner sind hier natürlich Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, und Cornelius Castoriades, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984.
2 Cervantes Saavedra, Miguel de: Das Zwischenspiel vom Wundertheater. In: Gesamtausgabe, Bd. 4, Stuttgart 1970, S. 1194-1215.
3 Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge in Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7.1 (1998) sowie 10.1 (2001).
4 Vgl. Castoriadis, Gesellschaft, S. 12 und 605ff.

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