Unter den Frühsozialisten hat Etienne Cabet einen zweifelhaften Ruf. Er konnte weder eine so breite Gemeinde wie die Saint-Simonisten gründen, hatte weniger Einfluss auf die Geschichte der Industriealisierung in Frankreich. Er hat auch nicht, wie Fourier, ein surrealistisch anmutendes System der zwischenmenschlichen Beziehungen erfunden. Er war nicht so direkt wie Louis Blanc mit der politischen Praxis konfrontiert und war auch nicht wie der jahrzehntelang eingekerkerte Auguste Blanqui eine prototypische Gestalt der Revolution. Dafür hat er wohl als erster die Theorie einer zwangsläufigen Entwicklung der Gesellschaft zum Kommunismus entworfen und verdient deshalb die besondere Aufmerksamkeit aller Historiker des 19. Jahrhunderts. Der junge Student der Rechtswissenschaft aus Dijon schien nicht zu einer Galionsfigur der soziale Bewegung werden zu müssen. Seine Beziehungen zu den Karbonari waren wahrscheinlich der Ausgangspunkt seiner späteren Entwicklung. Als Bewunderer dieser politischen Gruppe gehörte er zu den Wegbereitern der Julirevolution.
Unmittelbar danach wurde er zum Sekretär des Justizministers ernannt. 1831 saß er als Abgeordneter des Departements Côte d’Or im Parlament. In den 1830er-Jahren profilierte er sich als Verteidiger der Pressefreiheit, ohne sich mit der babouvistischen Bewegung recht befreunden zu können. Er musste ins Exil nach London gehen. Schon 1840 erschien seine Reise nach Ikarien, die zur Standardlektüre der sozialen Bewegung wurde. Das Buch begründete den ikarischen Kommunismus, der sich als demokratische Fortsetzung der französischen Revolution verstand, die Gütergemeinschaft aber als notwendige Verwirklichung der Demokratie betrachtete. Cabets Utopie wäre wie sein Modell Morus’Utopia eine gesellschaftliche Zukunftsvision gewesen, wenn er nicht versucht hätte, seine Vorstellungen in die Praxis einer amerikanischen Kolonie umzusetzen.
Nach jahrelanger Forschung haben Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner ein differenziertes Bild von Cabet gezeichnet, das die ganze Laufbahn darstellt, die Doktrin analysiert und vor allem die amerikanische Kolonie in ihrer alltäglichen Arbeit und in ihren Konflikten bis zum schließlichen Widerstand gegen die tyrannische Figur des Gründers untersucht. Besonders unterstreichen muss man hier die Vertrautheit der Verfasser mit den Wurzeln des frühsozialistischen Denkens. Sie sind imstande, einzelne Züge der Cabetschen Doktrin auf die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts oder auf Impulse von Saint-Simon zurückzuführen. Der Gründer der amerikanischen Kolonie wird in die Geschichte der sozialen Theorie eingereiht.
Cabet entscheidet sich für eine Niederlassung im Städtchen Nauvoo in Illinois am linken Ufer des Mississippi. Im März 1849 brechen die 280 treu gebliebenen Ikarier auf. 260 erreichen die neue Heimat, 20 erkranken unterwegs an der Cholera und sterben. In der Kolonie wird eine neue Art der Vergesellschaftung angestrebt. Teils feste, teils ambulante Werkstätten teilen sich die Arbeit. Die Kolonie bleibt aber wirtschaftlich ein Zuschussunternehmen und verdankt ihren Wachstum den Überweisungen des Pariser Büros. Sie ist mit dem Widerspruch zwischen der Tendenz zur Autarkie und der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Öffnung konfrontiert. Die hohe Prozentzahl von Kindern und Kranken hat dabei eine negative Wirkung auf die Produktivität .
Eine Schule wurde bald eingerichtet. Auch eigene Lehrbücher wurden bei dieser Gelegenheit gedruckt. Die Bibliothek der Kolonie erhielt eine größere Anzahl auswärtiger Zeitungen in französischer, englischer und deutscher Sprache. Die Kolonie zerfiel ab 1855 in zwei verfeindete Lager, die sich trennen wollten. Eine Opposition gestaltete sich und versuchte Cabet die Leitung der Kolonie und das Publikationsmonopol zu entziehen. Nach Cabets Tod wollte der Neuanfang den Ikariern nicht gelingen. Allerdings konnte sich 1879 noch ein gleichsam auferstandenes junges Ikarien eine Verfassung geben. Die Auswanderung alter Mitglieder der Commune, die Entstehung amerikanischer Gewerkschaften brachten der Kolonie oder der neuen Generation der Ikarier neue Kräfte. Die 1880er-Jahre sind allerdings wieder eine Zeit des Verfalls. Die jüngeren Ikarier heirateten außerhalb eines Gemeinwesens, das die älteren nicht mehr aufrechterhalten konnten.
Die Bedeutung der kommunistischen Kolonisierungsexperimente liegt an dem Echo, das es unter den europäischen Arbeitern oder unter Sozialphilosophen hatte. Der Publizist Lorenz von Stein interessierte sich beispielsweise für den amerikanischen Kommunismus. Dieses Interesse hat nie wirklich nachgelassen, und die Nachkommen der Ikarier veranstalten nach 1969 ihre jährlichen Picknicks.
Die Bedeutung des Buches hat auch mit dem inhaltsreichen sehr informativen Anhang zu tun. Zuerst muss der Briefwechsel der Familie Lemme und Schröder, einer Familie deutscher Iakrier erwähnt werden, deren Schicksal der Leser von Oktober 1848 bis November 1864 verfolgen kann. Der Austausch zwischen den deutschen Ikariern und den in Hamburg zurückgebliebenen Familienmitgliedern vermittelt einen genauen Einblick in die Lebensumstände der Auswanderer, in ihre alltägliche Einschätzung der wirtschaftlichen Verhältnisse aber auch in die Präsentationsstrategie und wohl auch in Momente der Sehnsucht nach der Heimat. Wir sind mit der Entstehung einer kritischen Perspektive auf Cabet konfrontiert.
Wir haben es mit einer Quelle erster Bedeutung zu tun, auf die die Verfasser oft zurückgegriffen haben. Auch die weiteren im Anhang abgedruckten Dokumente sind wichtige historische Quellen, ob man an die verschiedenen Erklärungen, an die Lieder der Ikarier oder an ihre Constitution denkt. Die Bibliografie gibt einen sehr nützlichen Überblick über den Stand der Cabet –Forschung in verschiedenen europäischen Sprachen.
Die Verfasser liefern mit diesem Buch eine richtige Enzyklopädie des ikarischen Kommunismus und füllen damit eine klare Forschungslücke. Die detailreiche Biografie Cabets, die genaue Beschreibung der wirtschaftlichen Grundlage, auf der die Kolonie beruhte, die philologische Editionsarbeit der ikarischen Korrespondenz, der historische Spürsinn für unbekanntes Quellenmaterial gehören zu den Haupteigenschaften der von Waltraud Seidel-Höppner und Joachim Höppner geleisteten Forschungsarbeit. Die Geschichte der frühen Arbeiterbewegung ist immer eine Auseinandersetzung mit mikrologischen Spuren. Dieses Buch zeigt, wie man auf der Basis dieser halb verwischten Spuren sehr anspruchsvolle Gesamtdarstellungen konstruieren kann. Es dürfte bald für die Historiker des Frühsozialismus zu einem Standardwerk werden.